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Bildungschancen in Deutschland: Wie lang sollten Kinder gemeinsam lernen?

Summary:
In bildungspolitischen Debatten in Deutschland wird oft beklagt, dass die elterliche Bildung besonders stark über den Bildungserfolg der Kinder entscheide. Ein möglicher Grund liegt darin, dass Kinder hier besonders früh nach Leistung selektiert werden, um getrennt voneinander an weiterführenden Schulen zu lernen. In den 1970er Jahren führte Niedersachsen deshalb die sogenannte Orientierungsstufe (OS) ein, mit der sich die Trennung nach Leistung um zwei Jahre nach hinten verschob. Dieser Beitrag zeigt anhand dieses Beispiels, dass längeres gemeinsames Lernen den Zusammenhang zwischen elterlicher Bildung und dem schulischen Erfolg der Kinder schwächt, ohne dabei den durchschnittlichen Schulerfolg zu mindern. Im dreigliedrigen Bildungssystem Deutschlands werden Kinder typischerweise

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Simon Lange, Marten von Werder considers the following as important:

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In bildungspolitischen Debatten in Deutschland wird oft beklagt, dass die elterliche Bildung besonders stark über den Bildungserfolg der Kinder entscheide. Ein möglicher Grund liegt darin, dass Kinder hier besonders früh nach Leistung selektiert werden, um getrennt voneinander an weiterführenden Schulen zu lernen. In den 1970er Jahren führte Niedersachsen deshalb die sogenannte Orientierungsstufe (OS) ein, mit der sich die Trennung nach Leistung um zwei Jahre nach hinten verschob. Dieser Beitrag zeigt anhand dieses Beispiels, dass längeres gemeinsames Lernen den Zusammenhang zwischen elterlicher Bildung und dem schulischen Erfolg der Kinder schwächt, ohne dabei den durchschnittlichen Schulerfolg zu mindern.

Im dreigliedrigen Bildungssystem Deutschlands werden Kinder typischerweise nach der vierten Klasse[ 1 ] , d.h. im Alter von etwa 10 Jahren, getrennt, um auf Gymnasien, Real- oder Hauptschulen unterrichtet zu werden. Dieser Prozess des Trennens nach Leistung wird Tracking genannt. Unter den OECD-Ländern trennen allein Deutschland und Österreich Kinder bereits in diesem Alter. Die Wirkung dieser Praxis ist allerdings umstritten und Gegenstand einer wiederkehrenden Debatte: 2010 verhinderte erst ein Referendum eine vom Hamburger Senat initiierte Reform, nach der Kinder bis zur 9. Klasse gemeinsam lernen sollten. Seit 2012 weitet Baden-Württemberg die Zahl der Gemeinschaftsschulen stark aus, in denen Kinder länger gemeinsam lernen sollen. Die Frage nach dem passenden Zeitpunkt, um Kinder nach Leistungsniveaus zu separieren bleibt also aktuell.

Tatsächlich war das frühe Tracking bereits in den 1960er Jahren in Deutschland umstritten, die Argumente in der Debatte bleiben bis heute dieselben: Kritiker des frühen Trackings mahnen, dass im Alter von zehn Jahren die langfristigen Erfolgsaussichten von SchülerInnen noch nicht zu erkennen seien. Eine Selektion auf Basis von Talent und Intelligenz sei somit nicht zu gewährleisten. Vielmehr würde der Schulerfolg an Grundschulen stark von der Sozialisation bestimmt. Frühes Tracking würde deshalb Leistungsunterschiede verstärken, die aufgrund von sozialer Herkunft und elterlicher Bildung bestünden. Die Befürworter des frühen Trennens hingegen argumentieren, dass Tracking homogene Klassenverbände schaffe, die es LehrerInnen ermögliche den Unterricht leistungsgerecht zu gestalten. Frühes Tracking erlaube daher eine bessere Förderung von SchülerInnen aller Leistungsniveaus.

Die Einführung der OS

Der Deutsche Bildungsrat schlug sich Anfang der 1970er Jahre auf die Seite der Tracking-Kritiker und empfahl die deutschlandweite Einführung einer Orientierungsstufe (OS): Als Schulform zwischen Grund- und weiterführenden Schulen sollte die OS das Tracking zeitlich nach hinten verschieben. SchülerInnen aller Leistungsniveaus sollten für zwei weitere Jahre zusammen lernen und über ein Kurssystem langsam an die unterschiedlichen Niveaustufen der weiterführenden Schulen herangeführt werden. Statt mit zehn Jahren, sollte also erst mit zwölf Jahren über den weiteren Bildungsweg entschieden werden. Nach langen politischen Auseinandersetzungen folgten allerdings nur Niedersachsen und Bremen der Empfehlung des Rates und führten in den 1970er Jahren die schulartunabhängige[ 2 ] OS ein.

Was wir untersuchen

In unserer Studie untersuchen wir die Folgen der Einführung der OS auf das Bildungsniveau der OS-Schüler empirisch. Das besondere Augenmerk unserer Untersuchung gilt dabei dem Zusammenhang zwischen elterlicher Bildung und dem Bildungserfolg der Kinder: Als educational gap definieren wir daher den durchschnittlichen Unterschied in Bildungsjahren zwischen Kindern von Eltern mit vergleichsweise hoher Bildung und Kindern von Eltern mit vergleichsweise niedriger Bildung.[ 3 ] Dieses gap lag in Niedersachsen vor der Reform bei etwa 2.1 Jahren für Mädchen und bei 2.9 Jahren für Jungen. Fraglich ist, ob die Einführung der OS dieses educational gap signifikant verringern konnte.

Wir untersuchen diese Fragestellung mit Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP), das detaillierte Informationen über die Bildungsbiographie von etwa 30.000 Menschen in Deutschland beinhaltet und es uns erlaubt, den Effekt der OS von den allgemeinen Bildungstrends der Zeit zu trennen. Wir schätzen deshalb mithilfe eines Difference-in-Differences Modells, ob das educational gap für Schülerkohorten in Niedersachsen durch die Einführung der OS schneller sank als in anderen westdeutschen Bundesländern.[ 4 ] Wir schließen dabei Verzerrungen aus, die auf Unterschiede zwischen den Bundesländern in Bezug auf den Migrantenanteil, die räumliche Struktur und die Ressourcen frühkindlicher Bildung zurückzuführen wären. Bedingt auf diesen Kriterien nimmt unser Modell an, dass die Bildungstrends in Niedersachsen ohne Einführung der OS denen im restlichen Bundesgebiet entsprochen hätten.

Ergebnisse

Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse zum Effekt der OS auf das durchschnittliche Bildungsniveau. Tatsächlich war eine Hauptbefürchtung der Befürworter des dreigliedrigen Schulsystems, dass die OS dem Bildungsniveau der SchülerInnen insgesamt schaden könnte. Die Ergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass das durchschnittliche Bildungsniveau nicht von der OS-Einführung verändert wurde. Die Spalten (1)-(3) zeigen den Effekt der Reform auf die Bildungsjahre für das gepoolte Sample und Frauen und Männer getrennt. Die Punktschätzer des Effekts der Reform auf die Bildungsjahre sind sehr klein und auf keinem der konventionellen Niveaus signifikant. Folglich steigt das Bildungsniveau in den Schülerkohorten Niedersachsens nach der OS-Einführung ebenso schnell an wie in den anderen Bundesländern.

Tabelle 1: Effekt der Reform auf Bildungsjahre

Tabelle 2 nimmt die Kernfrage unseres Beitrags auf: Hat die Einführung der OS das educational gap verändert? Panel A von Tabelle 2 schlüsselt den Effekt der Einführung auf die Bildungsjahre nach elterlicher Bildung auf. Spalte (1) verdeutlicht, dass die Reform das gap reduziert hat: Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsstatus verzeichnen etwas mehr Bildungsjahre als ihre Vergleichsgruppe in anderen Bundesländern. Kinder von Eltern mit hohem Bildungsstatus hingegen verlieren im Vergleich leicht an Bildungsjahren. Spalte (2) und (3) schlüsseln dieses Ergebnis nach Geschlecht auf: Während die Reform für Mädchen keinen Unterschied gemacht zu haben scheint, haben Jungen von Eltern mit geringer Bildung stark profitiert. Der Besuch der OS ging für sie mit einem Anstieg von durchschnittlich einem halbem Bildungsjahr einher. Panel B spitzt den Hauptbefund unserer Studie noch etwas zu: Das educational gap für Jungen wurde durch die Einführung OS um etwa 1,6 Jahre verringert. Jungen aus Elternhäusern mit geringer Bildung konnten die Bildungslücke zu ihren Mitschülern aus gebildetem Elternhaus durch die Einführung der OS also deutlich verringern.

Tabelle 2: Effekt der Reform auf Bildungsjahre nach elterlicher Bildung

Geschlechterspezifische Reaktionen sind in der bildungsökonomischen Literatur tatsächlich nicht ungewöhnlich und hier wohl damit zu erklären, dass Jungen und Mädchen in unterschiedliche Entwicklungsstufen fallen, wenn sie das Tracking-Alter erreichen.

Unsere Ergebnisse legen folglich nahe, dass die Einführung der OS zumindest bei Jungen den starken Zusammenhang zwischen elterlicher Bildung und Bildungserfolg der Kinder signifikant gemindert hat, ohne insgesamt dem Schulerfolg zu schaden. Die hinter diesem Ergebnis liegenden Prozesse, die zum Beispiel auf die typische Klassenzusammensetzung oder die Bildung der Lehrer zurückzuführen sein könnten, lassen sich im Rahmen unserer Studie leider nicht analysieren.

Im Jahr 2004 schaffte Niedersachsen die OS wieder ab. Laut OECD (2017) besteht in Deutschland weiterhin ein “starker Zusammenhang zwischen Bildungsergebnissen und sozioökonomischem Hintergrund”.

Literatur

Lange, Simon und Marten von Werder (2017): Tracking and the intergenerational transmission of education: Evidence from a natural experiment; Economics of Education Review, Vol. 61 (2017), 59-78.

OECD (2017): Reformagenda 2017: Überblick und Länderprofile – Deutschland.


  • 1  Ausnahmen hiervon sind Berlin und Brandenburg, wo die Grundschule 6 Klassenstufen umfasst sowie Mecklenburg-Vorpommern, in dem nach der Grundschule noch eine 2-jährige Orientierungsstufe gilt.
  • 2  Andere Bundesländer siedelten die OS-Schulen an den weiterführenden Schulen an, sodass es trotz scheinbarer Einführung der OS weiterhin bei einem Tracking nach der Grundschule blieb.
  • 3  Wir ordnen Eltern als gebildet ein, wenn Vater oder Mutter entweder studiert oder Abitur gemacht haben oder die Realschule mitsamt Lehre abgeschlossen haben.
  • 4  Wir nutzen alle westdeutschen Bundesländer mit Ausnahme von Hessen (aus institutionellen Gründen) als Kontrollgruppe.

©KOF ETH Zürich, 17. Nov. 2017

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