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Bevölkerungsalterung und Staatsverschuldung

Summary:
Es besteht Einigkeit darüber, dass sich die Bevölkerungsalterung massiv auf die Staatsverschuldung der industrialisierten Staaten auswirken wird. Allerdings hat die ökonomische Zunft der Frage, inwiefern sich die Bevölkerungsalterung schon heute auf die Staatsverschuldung auswirkt, bislang relativ wenig Beachtung geschenkt. Dieser Beitrag zeigt, dass es bisher keine Anzeichen für einen Einfluss der Bevölkerungsalterung auf die Staatsverschuldung gibt, was freilich nicht bedeutet, dass dies so bleiben wird. Die demographische Herausforderung Die Bevölkerungsalterung ist eine der größten Herausforderungen, die absehbar auf die Industrienationen zukommt. Sie alle leiden unter einer massiven Alterung der Bevölkerung (Abbildung 1), die sich aus steigender Lebenserwartung, noch mehr aber aus fallenden Geburtenraten ergibt (Weil, 2006; Birg, 2015). Sie profitieren derzeit aufgrund niedriger Gesamtlastquoten noch von einer Atempause (Weil, 1997). Hieraus resultiert eine demographische Dividende, solange wenig Junge nachkommen, die Babyboomer-Generation aber noch Teil der Erwerbsbevölkerung ist. Sobald sie jedoch aus dem Erwerbsleben ausscheidet, werden die Folgen der Bevölkerungsalterung für die öffentlichen Haushalte sicht- und spürbar werden.

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Es besteht Einigkeit darüber, dass sich die Bevölkerungsalterung massiv auf die Staatsverschuldung der industrialisierten Staaten auswirken wird. Allerdings hat die ökonomische Zunft der Frage, inwiefern sich die Bevölkerungsalterung schon heute auf die Staatsverschuldung auswirkt, bislang relativ wenig Beachtung geschenkt. Dieser Beitrag zeigt, dass es bisher keine Anzeichen für einen Einfluss der Bevölkerungsalterung auf die Staatsverschuldung gibt, was freilich nicht bedeutet, dass dies so bleiben wird.

Die demographische Herausforderung

Die Bevölkerungsalterung ist eine der größten Herausforderungen, die absehbar auf die Industrienationen zukommt. Sie alle leiden unter einer massiven Alterung der Bevölkerung (Abbildung 1), die sich aus steigender Lebenserwartung, noch mehr aber aus fallenden Geburtenraten ergibt (Weil, 2006; Birg, 2015). Sie profitieren derzeit aufgrund niedriger Gesamtlastquoten noch von einer Atempause (Weil, 1997). Hieraus resultiert eine demographische Dividende, solange wenig Junge nachkommen, die Babyboomer-Generation aber noch Teil der Erwerbsbevölkerung ist. Sobald sie jedoch aus dem Erwerbsleben ausscheidet, werden die Folgen der Bevölkerungsalterung für die öffentlichen Haushalte sicht- und spürbar werden. Da die meisten sozialen Sicherungssysteme als Umlageverfahren gestaltet sind, wurden keine substanziellen Reserven gebildet, um sich für die demographischen Veränderungen zu wappnen. Ökonomen prognostizieren daher, dass die Staatsverschuldung der Industriestaaten steigen wird, für die meisten gar in einem massiven Umfang, weil den abzusehenden steigenden Ausgaben nur zu einem beschränkten Umfang mit Steuererhöhungen und Reformmaßnahmen beizukommen sein wird (z. B. Turner et al., 1998; Raffelhüschen, 2001; Lee und Edwards, 2002; Lee und Tuljapurkar, 2003; Hauner et al., 2007; Moog und Raffelhüschen, 2014).

Abbildung 1: Bevölkerungsprojektion für die Europäische Union

Die Literatur darüber, wie sich die Bevölkerungsalterung auf die Staatsverschuldung auswirken wird, ist äußerst umfangreich. Hingegen ist die Literatur darüber, wie sie sich bereits heute auswirkt und ausgewirkt hat, noch überschaubar. Auerbach und Kotlikoff (1992) haben gezeigt, dass sich der steigende Anteil älterer Menschen bereits in steigenden Sozialleistungen niedergeschlagen hat. Razin et al. (2001) haben hingegen festgestellt, dass höhere Alterslastquoten negativ mit Sozialbeiträgen und Steuern auf Arbeit korrelieren. Sie erklären dies damit, dass die von den Älteren geforderten höheren Sozialleistungen zu negativen Anreizen für die Erwerbsbevölkerung führen, weshalb im Gleichgewicht steigende Alterslastquoten durchaus negativ mit der Höhe der Sozialleistungen korrelieren können. Chen (2004) wiederum zeigt, dass sich die Bevölkerungsalterung nur in entwickelnden Ländern auf die Höhe des Defizits niederschlägt, nicht aber in entwickelten Ländern. Da diese Frage anscheinend weitgehend unbeachtet geblieben ist, bin ich ihr in einem aktuellen Working Paper (Afflatet, 2016) genauer nachgegangen.

Beeinflusst die Bevölkerungsalterung die Staatsverschuldung?

Für die Schätzung wurde ein Panel, bestehend aus 18 europäischen Staaten für den Zeitraum von 1980 bis 2015 gebildet. Es handelte sich dabei um die EU15, die Schweiz, Norwegen und Island. Diese Staaten waren sich im betrachteten Zeitraum hinsichtlich ihrer ökonomischen, politischen und demographischen Struktur ausreichend ähnlich, um im Rahmen einer Panelschätzung betrachtet werden zu können.

Als abhängige Variable wurde die Veränderung der Verschuldungsquote herangezogen. Dies hat den Vorteil, dass alle drei Variablen, die die Veränderung der Verschuldungsquote beeinflussen, Zins, Wachstum und Primärsaldo, mit eingeschlossen sind.

Um das Ausmaß der Bevölkerungsalterung zu erfassen, wurden vier unterschiedliche unabhängige Variablen gewählt:

Erstens, das Medianalter der Bevölkerung (Abbildung 2), das bei alternden Bevölkerungen ansteigt.

Abbildung 2: Medianalter und Veränderung der Verschuldungsquote

Zweitens, die Gesamtlastquote (Abbildung 2), die Summe aus Alters- und Jugendlastquote: Sie spiegelt die gesamte abhängige Bevölkerung in Relation zur Erwerbsbevölkerung wieder. Altert eine Bevölkerung wird dies in einer steigenden Gesamtlastquote deutlich.

Abbildung 3: Gesamtlastquote und Veränderung der Verschuldungsquote

Drittens, Alters- und Jugendlastquote (Abbildung 4): Obwohl in älteren Arbeiten häufig die Gesamtlastquote als zentrale Variable herangezogen wurde, kann diese sehr irreführend sein, denn die Kosten für junge und alte Abhängige unterscheidet sich zulasten der älteren erheblich. Deshalb ist es zielführender, Alters- und Jugendlastquote getrennt zu betrachten.

Abbildung 4: Alterlastquote und Veränderung der Verschuldungsquote

Viertens, zwei Alterslastquoten, die die Alterslastquote beim Alter von 85 teilen (Abbildung 5): Die Kosten steigen wegen länger zu zahlender Renten, vor allem aber wegen höherer Gesundheitskosten, bei steigendem Alter überproportional an. Daher wurden beide Gruppen, die 65-84-jährigen und die über-85-jährigen (zusätzlich zur Jugendlastquote) separat betrachtet.

Abbildung 5: Alterlastquote und Veränderung der Verschuldungsquote

Ergänzt wurden diese zentralen unabhängigen Variablen um institutionelle und makroökonomische Variablen, die die staatliche Verschuldungssituation maßgeblich beeinflussen. Zudem wurde der Stand der Verschuldungsquote in der Vorperiode als erklärende Variable mit aufgenommen, weil der Stand der Verschuldungsquote die Veränderung der Verschuldungsquote in der laufenden Periode maßgeblich mitbeeinflusst. Basierend auf diesen Daten wurden Panelschätzungen als OLS-Regressionen und mit fixen Effekten für Länder und Jahre durchgeführt. Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 abgebildet.

Während das Medianalter keinen statistischen signifikanten Einfluss aufweist, ist eine steigende Gesamtlastquote überraschenderweise sogar negativ mit einer Veränderung der Verschuldungsquote korreliert. Betrachtet man Alters- und Jugendlastquote getrennt, bleibt das negative Vorzeichen für die Jugendlastquote erhalten, wird aber positiv für die Alterslastquote, wenn fixe Effekte verwendet werden. Wird die Alterslastquote aufgeteilt, ergibt sich wieder ein negatives Vorzeichen für die Gruppe der 65- bis 84-jährigen. Die Gruppe der über-85-jährigen weist hingegen ein positives Vorzeichen auf und ist bei Verwendung fixer Effekte sogar statistisch signifikant. Dies ist jedoch der einzige Hinweis, darauf, dass die Bevölkerungsalterung bislang einen negativen Effekt auf die Staatsverschuldung gehabt haben könnte. Insgesamt lässt sich kaum von überzeugenden Hinweisen auf einen negativen Einfluss sprechen.

Bleibt es dabei?

Daraus, dass die Bevölkerungsalterung für die betrachteten Länder bislang anscheinend keinen Effekt auf die Staatsverschuldung hatte, lässt sich sicherlich nicht schließen, dass dies auch künftig der Fall sein wird. Allerdings sind diese Ergebnisse weniger überraschend, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Immerhin hat Raffelhüschen (2001) prognostiziert, dass die Atempause bis 2015 halten würde und erst dann die Folgen der Bevölkerungsalterung sichtbar würden. Es ließe sich daher durchaus argumentieren, dass die demographische Dividende noch immer regelmäßig ausgezahlt wird.

Hinsichtlich der Katastrophenszenarien sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Verbindlichkeiten, die insbesondere in den staatlichen Sozialversicherungssystemen schlummern, letzten Endes politische Versprechungen sind, die jederzeit gebrochen werden können: Regierungen können Renten- und Gesundheitsleistungen kürzen, das Renteneintrittsalter anheben, Renten stärker besteuern usw. Von daher sind die prognostizierten Ausgaben keineswegs in Stein gemeißelt. Allerdings muss sich die Regierung für derlei Maßnahmen regelmäßig bei Wahlen verantworten. Einschneidende Reformmaßnahmen, wie sie in den meisten Industriestaaten notwendig sind, sollten daher zügig angegangen werden, weil der steigende Anteil an Ruheständlern deren politische Macht verstärken wird. Je stärker sie als Wählergruppe werden, desto unwahrscheinlicher werden tiefgreifende Reformmaßnahmen und desto wahrscheinlicher die demographische Katastrophe.

Tabelle 1

Literatur

Afflatet, Nicolas (2016): Population ageing and public debt – A panel data analysis for 18 European countries. Strathclyde Discussion Papers in Economics No. 16-15.

Auerbach, Alan J. und Laurence J. Kotlikoff (1992): The Impact of Demographic Transition on Capital Formation. The Scandinavian Journal of Economics 94(2), S. 281-295.

Birg, Herwig (2015): Die alternde Republik und das Versagen der Politik: Eine demographische Prognose. Münster.

Chen, Derek H. C. (2004): Population Age Structure and the Budget Deficit.  Journal for Insurance and Financial Management 1(4), S. 32-67.

Hauner, David, Daniel Leigh und Michael Skaarup (2007): Ensuring Fiscal Sustainability in G-7 Countries. IMF Working Paper 07/187.

Lee, Ronald und Ryan Edwards (2002): The Fiscal Effects of Population Aging in the U.S.: Assessing the Uncertainties. Poterba, James M.  (Hrsg.): Tax Policy and the Economy, Vol. 16, S. 141-180.

Lee, Ronald und Shripad Tuljapurkar (1998): Uncertain Demographic Futures and Social Security Finances. The American Economic Review 88(2), S. 237-241.

Moog, Stephan und Bernd Raffelhüschen (2014): Ehrbare Staaten? Update 2013: Die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen in Europa. Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 125, Mai 2014.

Razin, Assaf, Efraim Sadka und Phillip Swagel (2001): The Aging Population and the Size of the Welfare State. NBER Working Paper Series 8405.

Raffelhüschen, Bernd (2001): Aging, Fiscal Policy, and Social Insurance: A European Perspective. Auerbach, Alan J. und Ronald D. Lee (Hrsg.): Demographic Change and Fiscal Policy, S. 202-241. Cambridge.

Turner, Dave, Claude Giorno, Alain De Serres, Ann Vourc’h und Pete Richardson (1998): The Macroeconomic Implications of Ageing in a Global Context. OECD Economic Department Working Papers No. 193.

Weil, David N. (1997): The Economics of Population Aging. Rosenzweig, Mark und Oded Stark (Hrsg.): Handbook of Population and Family Economics. North-Holland, S. 967-1014.

Weil, David N. (2006): Population Aging. NBER Working Paper 12147.

©KOF ETH Zürich, 12. Jan. 2017

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