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Wie Politiker das Volk vertreten

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Vertreten Politiker die Präferenzen der Stimmbürger oder weichen sie davon ab? Dieser Beitrag untersucht anhand von Schweizer Daten, ob das Abstimmungsverhalten von Politikern und Stimmbürgern bei identischen Vorlagen übereinstimmen. In einer Demokratie sollte die Politik den Präferenzen der Bürger entsprechen. Doch tun Politiker als Volksvertreter das, was die Bürger wollen?[ 1 ] Die Forschung zur Qualität der Volksvertretung litt bisher daran, dass normalerweise zwar das Tun von Politikern anhand ihres Stimmverhaltens in Parlamenten recht gut, die Präferenzen der Bürger aber fast nicht beobachtbar sind. Um genau zu messen, wie Politiker das Volk vertreten, blicken wir deshalb auf die Schweiz. Dort entscheidet nach den Politikern oft auch noch das Volk selbst über Politikvorlagen. Vom Parlament beschlossene Verfassungsänderungen müssen obligatorisch und Gesetzesänderungen fakultativ auf Verlangen von 50‘000 Bürgern dem Volk in einem Referendum vorgelegt werden. Zudem können 100‘000 Bürger per Initiative eine eigene Vorlage zur Abstimmung bringen. Diese fast perfekte Experimentsanlage für den Vergleich von Politikerentscheidungen und Bürgerpräferenzen wurde bisher wenig von politischen Ökonomen und Politikwissenschaftlern genutzt.

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Vertreten Politiker die Präferenzen der Stimmbürger oder weichen sie davon ab? Dieser Beitrag untersucht anhand von Schweizer Daten, ob das Abstimmungsverhalten von Politikern und Stimmbürgern bei identischen Vorlagen übereinstimmen.

In einer Demokratie sollte die Politik den Präferenzen der Bürger entsprechen. Doch tun Politiker als Volksvertreter das, was die Bürger wollen?[ 1 ] Die Forschung zur Qualität der Volksvertretung litt bisher daran, dass normalerweise zwar das Tun von Politikern anhand ihres Stimmverhaltens in Parlamenten recht gut, die Präferenzen der Bürger aber fast nicht beobachtbar sind.

Um genau zu messen, wie Politiker das Volk vertreten, blicken wir deshalb auf die Schweiz. Dort entscheidet nach den Politikern oft auch noch das Volk selbst über Politikvorlagen. Vom Parlament beschlossene Verfassungsänderungen müssen obligatorisch und Gesetzesänderungen fakultativ auf Verlangen von 50‘000 Bürgern dem Volk in einem Referendum vorgelegt werden. Zudem können 100‘000 Bürger per Initiative eine eigene Vorlage zur Abstimmung bringen. Diese fast perfekte Experimentsanlage für den Vergleich von Politikerentscheidungen und Bürgerpräferenzen wurde bisher wenig von politischen Ökonomen und Politikwissenschaftlern genutzt.

Wir messen, ob die Mitglieder der beiden Parlamentskammern bei Parlamentsentscheidungen gleich gestimmt haben wie die Mehrheit der Wähler ihrer Kantone in den identischen Volksentscheiden. Die Stimmen der Nationalräte werden seit 1996 elektronisch erfasst. Für die Ständeräte haben wir die offiziellen Videoaufzeichnungen der Sitzungen ab 2007 ausgewertet. Die beiden Räte haben identische Kompetenzen, aber ihre Mitglieder werden unterschiedlich gewählt: Im Nationalrat variiert die Sitzzahl der Kantone proportional zu ihrer Einwohnerzahl, und die Mitglieder werden im Verhältniswahlverfahren (Proporz) gewählt. Die Mitglieder des Ständerats werden im Regelfall im Mehrheitswahlverfahren (Majorz) gewählt. Mit ökonometrischen Methoden schätzen wir, wie stark die Volksvertreter von den Volkspräferenzen abweichen und was die verschiedenen Gründe und Bedingungen dafür sind. Berücksichtigen können wir auch den Einfluss der Interessengruppen und Parteien, die jeweils vor den Volksentscheiden Abstimmungsempfehlungen ausgeben. Die Ergebnisse sind von allgemeiner Bedeutung: Zwar ist die absolute Größe der interessierenden Unterschiede landesspezifisch, aber wir fokussieren auf Relationen und Determinanten von qualitativen Unterschieden in der Volksvertretung.

Die Rolle von Institutionen

Volksvertreter weichen deutlich vom Mehrheitswillen des Volkes ab. Entscheidend ist dabei das Wahlverfahren. Im Durchschnitt stimmen einzelne Nationalräte nur bei 65% und Ständeräte bei 71% der Vorlagen wie die Volksmehrheit. Nationalräte versuchen aufgrund ihrer Proporzwahl spezifische Wählergruppen über das politische Spektrum von weit links bis weit rechts zu bedienen. Ständeräte hingegen stehen wegen ihrer Majorzwahl unter Druck, sich in der politischen Mitte zu positionieren. Dieser ist so groß, dass Ständeräte aus unterschiedlichen Parteien fast im gleichen Maß von der Volksmehrheit abweichen und ihre Parteizugehörigkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Im Vergleich dazu spielt der Parteizugehörigkeit im Nationalrat eine bedeutende Rolle und die Parteidisziplin ist ebenfalls größer.

Nationalräte aus kleinen Kantonen mit nur einem Sitz verhalten sich fast wie Ständeräte. Sie werden ja auch praktisch nach dem Mehrheitsverfahren gewählt. Mit steigender Kantonsgrösse und damit Sitzzahl nimmt die “Proportionalität des Wahlverfahrens” zu. Entsprechend spezialisieren sich die einzelnen Nationalräte vermehrt auf spezifische Wählergruppen und weichen stärker von der Mehrheit der Bevölkerung ab. Trotzdem stimmen die Vertreter eines Kantons insgesamt zunehmend so wie die Mehrheit der Bevölkerung! Das Gesetz der großen Zahl gilt eben auch für fehlbare Politiker: Je mehr Politiker gemeinsam entscheiden, desto besser kompensieren sich ihre Fehler gegenseitig.

Die Rolle von Politikern

Wie gut Politiker die Bürger vertreten, hängt auch von ihren persönlichen Eigenschaften ab. Gerne würden wir eine Wahlanleitung zur Auswahl der besten Volksvertreter präsentieren. Es zeigt sich allerdings, dass Faktoren wie Alter, Familienstand, Berufe und selbst formale Bildung keinen systematischen Einfluss haben. Wichtig sind hingegen die persönlichen Beziehungen zu Interessengruppen. Während die Entscheidungen von Parlamentariern und ihre Abweichung vom Volkswillen von den Positionen der hinter ihnen stehenden Interessengruppen getrieben sind, spielt die bloße Zahl dieser Interessenbindungen keine Rolle.

Weibliche Repräsentanten stimmen weniger oft mit der Mehrheit der Bevölkerung als männliche. Das mag auf den ersten Blick überraschen. Wird statistisch dafür kontrolliert, dass Politikerinnen häufiger in linken Parteien politisieren, die seltener als die Mitteparteien wie die Volksmehrheit stimmen, sind beide Geschlechter gleich volksnah. Und wie gut repräsentieren Volksvertreterinnen Frauenanliegen? Wir haben dies anhand der Übereinstimmung der Politiker mit der Abstimmungsempfehlung des Dachverbandes aller Frauenorganisationen untersucht. Politikerinnen vertreten Frauenanliegen nicht systematisch besser als Politiker mit höherem Bildungsabschluss. Nur männliche Politiker ohne höheren Bildungsabschluss vertreten Frauenanliegen schlechter als Frauen. Interessant ist auch die Rolle der Wehrpflicht. Männer, die in der Schweizer Armee als Soldaten Wehrflicht leisteten, vertreten im Durschnitt frauenfeindlichere Politikpositionen als Frauen und Männer, die nicht dienten. Hingegen sind männliche Politiker mit einer Offizierslaufbahn frauenfreundlicher als weibliche Politikerinnen!

In Sicherheitsfragen verhalten sich Politiker umso armeefreundlicher – jeweils gemessen an ihrer Übereinstimmung mit den Abstimmungsempfehlungen der Offiziers- und Unteroffiziersgesellschaft – je höher ihr militärischer Rang ist. Mit raffinierten Methoden konnten wir sogar die Kausalitäten ermitteln: Es ist nicht etwa so, dass der Militärdienst die Volksvertreter militärfreundlich macht, sondern die militärfreundlichen machen militärische Karriere.

Die Rolle der Wähler

Umstritten ist, ob Wähler überhaupt bürgernahe Politiker identifizieren und so gezielt wählen können. Unsere Daten zeigen, dass Parlamentarier, die zuvor bürgernah stimmten, tatsächlich bessere Chancen hatten, in höhere Ämter gewählt zu werden.

Anhand von Nachwahlbefragungen bestimmen wir auch die Präferenzen spezifischer Wählergruppen und analysieren, wie sich diese durchsetzen. Dabei zeigt sich, dass die Asymmetrie im Einfluss von reichen gegenüber armen Bürgern im repräsentativ-demokratischen Parlament grösser ist als in den direkt-demokratischen Volksabstimmungen. Diese Ergebnisse sprechen gerade auch vor dem Hintergrund der Debatte über steigende Ungleichheit für mehr direkte Demokratie.

Literatur

Portmann, M.; Stadelmann, D. & Eichenberger, R. (2013), ‘District magnitude and representation of the majority’s preferences-a reply and new perspectives’, Public Choice 154(1/2), 149-151.

Stadelmann, D.; Portmann, M. & Eichenberger, R. (2015), ‘Income and policy choices: Evidence from parliamentary decisions and referenda’, Economics Letters 135, 117-120.

Stadelmann, D.; Portmann, M. & Eichenberger, R. (2015), ‘Military careers of politicians matter for national security policy’, Journal of Economic Behavior & Organization 116, 142-156.

Stadelmann, D.; Portmann, M. & Eichenberger, R. (2014), ‘Politicians and Preferences of the Voter Majority: Does Gender Matter?’, Economics & Politics 26(3), 355-379.

Stadelmann, D.; Portmann, M. & Eichenberger, R. (2016), ‘Preference Representation and the Influence of Political Parties in Majoritarian vs. Proportional Systems: An Empirical Test’, British Journal of Political Science, forthcoming.


  • 1  Dieser Artikel erschien in leicht modifizierter Form in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Juni 2016.

©KOF ETH Zürich, 29. Jun. 2016

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