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Warum die Schweiz höhere AHV-Renten braucht

Summary:
Bei der Diskussion um die Reform der Altersvorsorge in der Schweiz werden die volkswirtschaftlichen Aspekte  vernachlässigt. Sie legen eine Erhöhung der AHV-Renten dringend nahe, wie dieser Beitrag meint. In der Schweiz kommt am 25. September die "AHV plus-Initiative[ a ]" zur Abstimmung. Sie verlangt eine Erhöhung der AHV-Renten um 10%. Aktuell beträgt die Einzelrente mindestens 1175 und maximal 2350 Franken pro Monat. Für Paarhaushalte liegt die Obergrenze bei 3525 Franken. Die Initianten führen vor allem zwei Argumente an: Erstens sollen die sinkenden Renten der im Kapitaldeckungsverfahren finanzierten BVG-Renten kompensiert werden. Zweitens gelte es, für die schlechter Verdienenden einen Ausgleich für die steigenden Krankenkassenprämien zu schaffen. Die Gegenseite schlägt mit dem "demographischen Argument" zurück. Die stark gestiegene Lebenserwartung, zwinge die Aktiven ohnehin, einen immer höheren Anteil ihres Einkommens an die Rentner abzutreten. Eine generelle Rentenerhöhung stelle eine zusätzliche, nicht zumutbare finanzielle Belastung der Generation der Aktiven dar. Dadurch werde auch das Prinzip der "Generationengerechtigkeit" verletzt, denn die heute aktive Generation müsse weit höhere Beiträge schultern als damals die Generation der heutigen Rentner. Das trifft zwar zu, ist aber keine Frage der Generationengerechtigkeit, sondern bloss ein Übergangsphänomen.

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Bei der Diskussion um die Reform der Altersvorsorge in der Schweiz werden die volkswirtschaftlichen Aspekte  vernachlässigt. Sie legen eine Erhöhung der AHV-Renten dringend nahe, wie dieser Beitrag meint.

In der Schweiz kommt am 25. September die "AHV plus-Initiative[ a ]" zur Abstimmung. Sie verlangt eine Erhöhung der AHV-Renten um 10%. Aktuell beträgt die Einzelrente mindestens 1175 und maximal 2350 Franken pro Monat. Für Paarhaushalte liegt die Obergrenze bei 3525 Franken. Die Initianten führen vor allem zwei Argumente an: Erstens sollen die sinkenden Renten der im Kapitaldeckungsverfahren finanzierten BVG-Renten kompensiert werden. Zweitens gelte es, für die schlechter Verdienenden einen Ausgleich für die steigenden Krankenkassenprämien zu schaffen.

Die Gegenseite schlägt mit dem "demographischen Argument" zurück. Die stark gestiegene Lebenserwartung, zwinge die Aktiven ohnehin, einen immer höheren Anteil ihres Einkommens an die Rentner abzutreten. Eine generelle Rentenerhöhung stelle eine zusätzliche, nicht zumutbare finanzielle Belastung der Generation der Aktiven dar. Dadurch werde auch das Prinzip der "Generationengerechtigkeit" verletzt, denn die heute aktive Generation müsse weit höhere Beiträge schultern als damals die Generation der heutigen Rentner. Das trifft zwar zu, ist aber keine Frage der Generationengerechtigkeit, sondern bloss ein Übergangsphänomen. Sobald sich die demographische Zusammensetzung – bei einen höheren Rentneranteil – stabilisiert, werden alle kommenden Generationen gleich belastet.

Auch das "demographische Argument" ist bei weitem nicht so mathematisch zwingend, wie es immer dargestellt wird. Es vernachlässigt nämlich die volkswirtschaftliche Dimension. Stellt man diese in Rechnung, erkennt man, dass der Generation der Aktiven erstens bloss eine finanzielle, nicht aber eine materielle Beeinträchtigung droht und dass sie dieses Risiko zweitens gegen die Gefahr einer erhöhten Arbeitslosigkeit abwägen muss.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Schweiz – und damit auch die aktive Generation –auf die Nachfrage der Rentner dringend angewiesen ist. Unser Land leidet unter massiven Überkapazitäten von gut 15%. Zum einen gibt es zur Zeit rund 200'000 Stellensuchende, was einer Arbeitslosenquote von etwa 5% entspricht. Zweitens weist die Schweiz einen Exportüberschuss von 12,5 BIP-Prozent (2015) aus. Das Land produziert also rund einen Achtel mehr als es selber braucht und hat dennoch etwa 5% Arbeitslose. Die weiteren Aussichten sind geprägt von einem drohenden Rückgang der Exportüberschüsse (Stichwort: harter Franken) und von einer weiteren Zunahme der Produktivität (Stichworte: künstliche Intelligenz, Roboter, Industrie 2.0) Kurz: Die Schweiz ist auf interne Nachfrage angewiesen.

In Bezug auf die Rentendebatte heisst dies, dass die finanzielle Belastung der Aktiven noch weit davon entfernt ist, in eine materielle Belastung umzuschlagen. Die Aktiven müssen sich nicht einschränken, sie können bloss weniger sparen. Doch dieses Opfer ist faktisch keines, denn die chronischen Sparüberschüsse der Schweiz werden – eben weil sie chronisch sind – laufend entwertet. Das zeigt ein Blick auf den Saldo der Auslandguthaben der Schweiz. Nehmen wir die vergangenen zehn Jahre bis zum ersten Quartal 2016. In dieser Zeitspanne hat die Schweiz einen kumulierten Leistungsbilanzüberschuss von gut 600 Milliarden Franken erzielt. Der Saldo der Guthaben ist aber bloss um gut 60 auf 719 Milliarden Franken gestiegen. Für andere Zeitspannen sieht das Ergebnis in etwa gleich aus: Die Ersparnisse der Schweiz entwerten sich massiv.

Die Schweiz hätte also das Geld lieber selbst gebraucht, statt weitgehend wertlose Guthaben gegenüber dem Ausland zu akkumulieren. Doch dazu braucht es einheimische Nachfrage und dazu wiederum tragen die Rentner bisher bloss unterdurchschnittlich bei. Gemäss der Haushaltsbugdeterhebung 2009-2011 haben Paarhaushalte unter 65 im Schnitt 6355 Franken monatlich konsumiert, Paarhaushalte über 65 hingegen bloss 5084 Franken oder rund 20% weniger. Das ist zwar viel – aus ökologischer Sicht vielleicht sogar zu viel – aber bei weitem nicht genug, um die Schweizer Produktionskapazitäten auszulasten. Betrachtet man die Rentnerhaushalte nach Einkommen, fällt auf, dass vor allem die beiden untersten Fünftel bloss 3333 bzw. 4309 Franken konsumieren, aber dennoch nicht genug verdienen, um ihre Ausgaben zu decken. 10% mehr AHV würden diesen Haushalten gut 300 Franken monatlich mehr einbringen, reichen aber nicht, um die Finanzierungslücke von 550 bzw. 850 Franken zu stopfen.

Klammer auf: Diese Statistik widerlegt eines der zwei Hauptargumente der Initianten. Die ärmeren Haushalte beziehen nur sehr geringe Pensionskassenrenten, die zudem weit unter dem (weiterhin geschützten) gesetzlichen Obligatorium liegen. Ihre BVG-Renten werden deshalb, wenn überhaupt, kaum sinken. Richtig ist hingegen, dass die Krankenkassenprämien für die ärmeren Rentnerhaushalte eine sehr starke Belastung darstellen. Sie verschlangen beim ärmsten Fünftel schon damals rund einen Viertel des nach Steuern verfügbaren Einkommens. Klammer zu.

Unter dem Strich laufen diese Überlegungen darauf hinaus, dass sich die Schweiz eine Erhöhung der AHV-Renten aus volkswirtschaftlicher Sicht zum Nulltarif leisten könnte. Ähnlich wie bei den Negativzinsen fällt dabei auch noch ein kleiner Gewinn ab: So würde etwa die Beschäftigung stabilisiert. Wenn 75% der rund 4 Milliarden zusätzlichen Renten konsumiert werden, ergibt das einen Nachfrageschub von 3 Milliarden, womit mindestens 30'000 Jobs geschaffen würden - die meisten davon in der Schweiz. Auch die Schweizerische Nationalbank würde profitieren. Sie musste zur Stützung der Frankens bisher überflüssige Auslandsguthaben im Wert von über 600 Milliarden Franken aufkaufen. Jeder Franken, der nicht gespart, sondern zusätzlich ausgegeben wird, entlastet sie. Drittens würde eine höhere AHV-Rente zumindest einen Teil der rund 60'000 Zusatzrenten überflüssig machen. Das ist zwar punkto Nachfrage ein Nullsummenspiel, bringt aber für alle Beteiligten eine willkommene administrative Entlastung.

Die neue Welt der knappen Nachfrage

Es ist erstaunlich, dass diese volkswirtschaftlichen Argumente in der Diskussion um das Rentensystem weitgehend ignoriert werden. Auch die Sozialdemokraten und Gewerkschaften fechten fast ausschliesslich mit sozialen Argumenten – die allerdings gut belegt sind. Das liegt daran, dass auch die Linke noch nicht in der neuen Realität angekommen ist. Wir leben heute in einer Welt, in der nicht das Angebot, sondern die Nachfrage knapp ist. In dieser Welt reicht es nicht, dass die Rentner – wie das die Linke fordert – anständig über die Runden kommen. In der neuen Welt der Überkapazitäten müssen die Rentner darüber hinaus einen angemessenen Beitrag zur Nachfrage leisten. Das ist die Vorgabe, nach der das Altersvorsorgesystem organisiert werden muss. (Den ökologischen Aspekt haben wir hier mal ausgeklammert.)

Doch was ist, wenn der Anteil der Alten weiter wächst, wenn die Kosten der Pflege unvermindert zunehmen, und wenn die Jungen lieber weniger arbeiten, statt sich für die Alten krumm zu legen? Müssen dann die Renten gesenkt werden? Nein, dann ist vielmehr der Zeitpunkt gekommen, an dem es sich aufdrängt, das Pensionierungsalter zu erhöhen. Jedes Erwerbsjahr mehr steigert das Produktionspotential der Wirtschaft um rund 2% (1 Erwerbsjahr von 45) und senkt die Rentenausgaben um fast 5%. (22 durchschnittliche Rentnerjahre statt 23). Bei der aktuellen Ausgangslage wäre ein höheres Rentenalter kontraproduktiv, doch das kann sich schnell ändern. Es steht nirgends geschrieben, dass wir bis 65 mit vollem Einsatz arbeiten sollen und dann 22 Jahre lang die Hände in den Schoss legen.

Noch ein Wort zur NZZ. Sie bezeichnet die AHV als "Pyramidensystem[ b ]", was zwar korrekt ist, aber bewusst falsche Assoziationen weckt. Und sie zitiert eine Studie des Forschungszentrums Generationenverträge der Universität Freiburg i. Br. und der UBS, wonach sich die "ungedeckten Checks der AHV zulasten der kommenden Generationen" auf etwa 1000 Milliarden Franken belaufen. Das ist läppisch. Bei jedem Altersvorsorgesystem geht es darum, Kaufkraft von den Jungen auf die Alten zu übertragen. Das war schon vor dem Sozialstaat so. Diese "Checks" gehen immer zu Lasten der arbeitenden Generationen und sie können nie "gedeckt" (im Sinne einer Kapitaldeckung) sein. Es ist deshalb auch sinnlos, den fehlenden Deckungsbeitrag zu einer schreckerregenden Milliardensumme hoch zu rechnen.

Denkbar ist allerdings, dass die geltenden Finanzierungsregeln nicht ausreichen, um die versprochenen Renten zu finanzieren. Das wiederum kann zweierlei bedeuten: Entweder sind die Renten zu hoch, oder die Finanzierung ist unzureichend. Die NZZ geht davon aus, dass sich die Rente nach der gesetzlich gegebenen Finanzierung richten muss. Zweckdienlicher wäre es, wenn sich die Finanzierung an der sozialen und volkswirtschaftlichen Funktion des Rentensystems orientiert.

©KOF ETH Zürich, 29. Aug. 2016

Werner Vontobel
Ökonom und Wirtschaftsjournalist

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