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Aleatorische Demokratie

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Brexit, Trump, Cambridge Analytics, Elitenbashing, Wutbürger, Politikverdrossenheit. Es steht nicht gerade optimal um unsere westlichen Demokratien und um unsere Meinungsbildung. Zeit, sich auf ein Verfahren aus dem klassischen Athen zu besinnen: Bestimmung der Regierenden durch das Los. Der hässliche Wahlkampf in den USA ist zu Ende. Er hat gezeigt, dass sich viele Bürger durch das politische Establishment nicht mehr vertreten fühlen. Auch in Europa wächst die Distanz der "Wutbürger" gegenüber den Eliten. Gleichzeitig haben sich in den sozialen Medien unwahre Behauptungen, gehässige Pöbeleien und Manipulationen durch "filter bubbles" und "social bots" breit gemacht, welche die politische Meinungsbildung vergiften. Vom klassischen Athen lernen Was lässt sich dagegen tun? Wir schlagen die Rückbesinnung auf ein Verfahren vor, auf das wir bereits früher in der Ökonomenstimme aufmerksam machten: Im klassischen Athen wurden die Regierenden durch das Los bestimmt. Auch im mittelalterlichen Venedig und anderen italienischen Stadtstaaten wie Florenz, Parma oder Bologna wurde die Exekutive in einem gemischten Verfahren aus Wahl und Los besetzt, ebenso in Spanien und der Schweiz. An der Universität Basel wurden im 18. Jahrhundert Professoren per Los aus einer Liste von drei Kandidaten bestimmt (Burckhardt 1916; Stolz 1986).

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Brexit, Trump, Cambridge Analytics, Elitenbashing, Wutbürger, Politikverdrossenheit. Es steht nicht gerade optimal um unsere westlichen Demokratien und um unsere Meinungsbildung. Zeit, sich auf ein Verfahren aus dem klassischen Athen zu besinnen: Bestimmung der Regierenden durch das Los.

Der hässliche Wahlkampf in den USA ist zu Ende. Er hat gezeigt, dass sich viele Bürger durch das politische Establishment nicht mehr vertreten fühlen. Auch in Europa wächst die Distanz der "Wutbürger" gegenüber den Eliten. Gleichzeitig haben sich in den sozialen Medien unwahre Behauptungen, gehässige Pöbeleien und Manipulationen durch "filter bubbles" und "social bots" breit gemacht, welche die politische Meinungsbildung vergiften.

Vom klassischen Athen lernen

Was lässt sich dagegen tun? Wir schlagen die Rückbesinnung auf ein Verfahren vor, auf das wir bereits früher in der Ökonomenstimme aufmerksam machten: Im klassischen Athen wurden die Regierenden durch das Los bestimmt. Auch im mittelalterlichen Venedig und anderen italienischen Stadtstaaten wie Florenz, Parma oder Bologna wurde die Exekutive in einem gemischten Verfahren aus Wahl und Los besetzt, ebenso in Spanien und der Schweiz. An der Universität Basel wurden im 18. Jahrhundert Professoren per Los aus einer Liste von drei Kandidaten bestimmt (Burckhardt 1916; Stolz 1986). Losverfahren wurden noch in den politischen Theorien von Montesquieu und Rousseau diskutiert, dann aber vergessen.

Neubelebung der aleatorischen Demokratie

Seit einiger Zeit werden aleatorische Verfahren (von alea, lat. Würfel) wieder diskutiert (z.B. Frey 1969; Manin 1997; Buchstein 2009; Sintomer 2011; Zeitoun, Osterloh & Frey 2014; Van Reybrouck 2016; Osterloh & Frey 2016). Hintergrund dafür ist nicht nur Misstrauen gegenüber den politischen Eliten, sondern auch ein neues Selbstbewusstsein der Bürger gegenüber der Expertokratie. Wikipedia hat demonstriert, dass Laien durchaus mit dem Wissen von Spezialisten mithalten können (Frey, Lüthi & Osterloh 2012). Fachleute liefern kaum bessere Vorhersagen über politische und ökonomische Trends als aufmerksame Zeitungsleser (Tetlock 2005; Kahneman 2011). Spezialisten überschätzen oft ihre Fähigkeiten, Sachverhalte jenseits ihres eigenen Bereichs zu beurteilen, wohingegen Laien mitunter offener für neue Aspekte sind. Auch hat sich gezeigt, dass Abgeordnete im Parlament erstaunlich schlecht informiert sind, sogar bei wichtigen Entscheidungen. So haben bei der Abstimmung im Deutschen Bundestag über den Euro-Rettungsfonds 2011 viele Abgeordnete durch beachtliches Unwissen geglänzt[ a ]. Sie lassen Experten in den Ausschüssen für sich entscheiden statt selber zu urteilen.

Los- oder Zufallsauswahl beschränkt die Vorherrschaft politischer und wirtschaftlicher Eliten, indem sie die repräsentative und direkte Demokratie ergänzt. "Zufall" wird hier im Sinn statistischer Wahrscheinlichkeit verwendet. Das hat nichts mit Willkür zu tun, sondern mit Gesetzmässigkeit. So könnte neben Bundestag und Bundesrat eine dritte Kammer mit Hilfe des Loses aus allen Bürgern bestimmt werden. Dem europäischen Parlament könnte eine zweite Kammer mit aus EU-Bürgern ausgelosten Parlamentariern hinzugefügt werden (Buchstein 2009: 445). Für die Corporate Governance haben wir eine nach dem Losprinzip gebildete zweite Kammer des Aufsichtsrates vorgeschlagen, um Stakeholdern neben Aktionären eine Stimme zu geben (Zeitoun, Osterloh & Frey 2014). In Irland wurde jüngst demonstriert, wie eine Kombination von Losverfahren, parlamentarischer und direkter Demokratie praktisch funktioniert: Ein Komitee aus ausgelosten Bürgern und gewählten Politikern erarbeitete Vorschläge für eine Verfassungsreform, die anschliessend von den zwei Kammern des Parlamentes und 2015 per Volksabstimmung angenommen wurde.

Vor- und Nachteile aleatorischer Verfahren

Wie können aleatorische Verfahren die Gefährdung der Demokratie durch abgehobene Eliten sowie durch Desinformations-Kaskaden in den Sozialen Medien verhindern? Losverfahren schützen erstens vor Machtkonzentration durch abgeschottete Politiker. Persönliche Einflussnahme, Investitionen in Beziehungen, Vetternwirtschaft und Bestechung lohnen nicht. Eliten können ihre Interessen gegenüber Mittel- und Unterschichten nicht mehr ohne weiteres durchsetzen.

Zweitens verlieren Wählermanipulationen in den sozialen Medien durch unwahre Behauptungen und Social Bots an Bedeutung. In den ausgelosten Gruppen müssen Likes und Dislikes durch Diskurse ersetzt werden.

Das Los führt drittens zu repräsentativer Vertretung. Es verhindert Diskriminierung nach Geschlecht, Herkunft, Bildung, Alter oder Hautfarbe. Quoten werden überflüssig. Bisher vernachlässigte Perspektiven der weniger Privilegierten finden Beachtung. Deren Desinteresse gegenüber dem politischen System nimmt ab, weil sie sich vertreten fühlen (Benz & Stutzer 2004). Es kommen Personen zum Zug, die sonst wenig Vorliebe für den Wettbewerb haben. Das ist besonders bei Frauen der Fall (Niederle & Vesterlund 2007). Diese werden deshalb durch Losverfahren eher zur Kandidatur veranlasst (Osterloh & Frey 2016).

Das Los fördert viertens neue Ideen von aussen, die im herkömmlichen politischen Betrieb wenige Chancen haben, aber die Kreativität beflügeln. Das zeigen empirische Befunde zum Innovationsmanagement (z.B. Jeppesen & Lakhani 2010; Rost & Osterloh 2010). Zufall ist deshalb eine wirksame "Suchmaschine" für neue Perspektiven.

Auslosung erleichtert fünftens Stabilität und Kontinuität zwischen konfligierenden Interessengruppen. Jede Gruppe hat die Chance, zum Zuge zu kommen. Dies spielte im klassischen Athen und in den italienischen Stadtstaaten des Mittelalters eine grosse Rolle (Greif 1995).

Schliesslich verlieren bei Losverfahren die Verlierer der Wahl nicht ihr Gesicht und ihr Selbstwertgefühl. Gewinner überschätzen ihre Fähigkeiten weniger und sind eher bereit, auf Ratschläge Anderer zu hören. Beides bewirkt eine bessere Kooperation zwischen Gewinnern und Verlierern. Laut empirischen Befunden handeln Menschen sozialer, wenn sie wissen, dass sie vom Schicksal – hier dem Los – begünstigt wurden (Frank 2016).

Den zahlreichen Vorteilen stehen einige Nachteile gegenüber. Der wichtigste ist, dass das Los nicht zwischen Fähigen und Unfähigen unterscheidet. Mit der Kompetenz der Parlamentarier und der Weitsicht von Experten steht es aber – wie erwähnt – auch nicht zum Besten. Auch gewählte Parlamentarier nehmen Zuarbeit durch Experten in Anspruch. Das könnten auch durch Los bestimmte Laien tun. Würden sie sich damit stärker vom Rat der Experten abhängig machen als gewählte Abgeordnete? Das hängt von ihrem Selbstbewusstsein als mündige Bürger gegenüber der Expertokratie ab, welches sich mit der Zeit herausbilden würde.

Das Verantwortungsgefühl könnte beeinträchtigt werden, weil sich durch das Los ausgewählte Politiker nicht um eine Wiederwahl kümmern müssen. Dem kann man entgegentreten, wenn – wie in der Athener Demokratie – die Ausgelosten nach Beendigung ihrer Aufgabe öffentlich Rechenschaft abzulegen haben (Manin 1997).

Zuweilen werden Losverfahren als "irrational" angesehen. Sie sind aber – weil nach strenger Gesetzmässigkeit zustande gekommen – zweifellos rationaler als Vetternwirtschaft und Oligarchie.

Fazit

Aleatorische Verfahren überwinden viele Probleme heutiger Demokratie. Kombiniert mit repräsentativer und direkter Demokratie lassen sich ihre Nachteile ausgleichen. Für Aristoteles war ein politisches Verfahren nur dann demokratisch, wenn es Elemente des Zufalls enthält. Wir sollten von Aristoteles lernen.

Benz, M. & Stutzer, A. (2004). Are voters better informed when they have a larger say in politics? Evidence for the European Union and Switzerland. Public Choice, 119(1-2): 31-59.

Buchstein, H. (2009). Demokratie und Lotterie. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Burckhardt, A. (1916). Ueber die Wahlart der Basler Professoren, besonders im 18. Jahrhundert. Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, 15: 28-46.

Frank, R. H. (2016). Success and Luck: Good Fortune and the Myth of Meritocracy. Princeton: Princeton University Press.

Frey, B. S. (1969). Wahrscheinlichkeiten als gesellschaftliche Entscheidungsregel. Wirtschaft und Recht, 21: 3–15.

Frey, B. S., Lüthi, R. & Osterloh, M. (2012). Community Enterprises – An Institutional Innovation. Managerial and Decision Economics, Special Issue: Emergent Nature of Organization, Markets and Wisdom of Crowds, 33(5-6): 427-439.

Greif, A. (1995). Political Organizations, Social Structure, and Institutional Success: Reflections From Genoa and Venice During the Commercial Revolution. Journal of Institutional and Theoretical Economics (JITE), 151(4): 734-740.

Jeppesen, L. B. & Lakhani, K. R. (2010). Marginality and problem-solving effectiveness in broadcast search. Organization Science, 21(5): 1016-1033.

Kahneman, D. (2011). Thinking fast and slow. New York: Farrar, Straus and Giroux.

Manin, B. (1997). The principles of representative government. Cambridge: Cambridge University Press.

Niederle, M. & Vesterlund, L. (2007). Do Women Shy Away from Competition? Do Men Compete Too Much? Quarterly Journal of Economics, 122(3): 1067-1101.

Osterloh, M. & Frey, B. S. (2016). Chef per Zufall. WirtschaftsWoche, 47, 11.11.2016: 111-113.

Rost, K. & Osterloh, M. (2010). Opening the Black Box of Upper Echelons: Expertise and Gender as Drivers of Poor Information Processing. Corporate Governance. An International Review. 18(3): 212-233.

Sintomer, Y. (2011). Petite histoire de l’expérimentation démocratique. Tirage au sort et politique d'Athènes à nos jours. Paris: Éditions La Découverte.

Stolz, P. (1986). Parteienwettbewerb, politisches Kartell und Tausch zwischen sozioökonomischen Gruppen. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 122: 657-675.

Tetlock, P. E. (2005). Expert Political Judgment: How Good Is It? How Can We Know? Princeton und Oxford: Princeton University Press.

Van Reybrouck, D. (2016). Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Göttingen: Wallstein.

Zeitoun, H., Osterloh, M. & Frey, B. S. (2014). Learning from Ancient Athens: Demarchy and corporate governance. Academy of Management Perspectives, 28(1): 1-14.

©KOF ETH Zürich, 9. Dez. 2016

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