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Wie gehen Volkswirte mit der Makroökonomik um? Ein Kommentar zur Jubiläumsausgabe des Wirtschaftsdienst

Summary:
Der Wirtschaftsdienst feiert sein 100-jähriges Bestehen[ a ] mit einer Jubiläumsausgabe. Dieser Beitrag setzt sich mit den enthaltenen Artikeln zur ökonomischen Politikberatung auseinander und kritisiert, dass darin die ökonomische Theorie vergessen geht. Die zentrale Frage der modernen Makroökonomik ist die nach dem Einfluss des Staates auf eine marktwirtschaftlich koordinierte Volkswirtschaft. Noch mehr zugespitzt: Wie können (a) langfristig gesehen eine stabile ökonomische Entwicklung gefördert und (b) kurzfristig konjunkturelle Schwankungen ausgeglichen werden? Um diese und andere Fragen zu beantworten, stellt die Makroökonomik eine Reihe von theoretischen Ansätzen zur Verfügung, die sie zu empirisch überprüfbaren Modellen ausformuliert und – so hofft man – nur dann dem ökonomischen Laien, insbesondere dem Politiker, anempfiehlt, wenn empirische Tests bestanden worden sind. Einen Gegensatz von modell- und evidenzbasierter Politikberatung, wie sie Weimann (620) der Politikberatung unterstellt, sollte es nach diesem Verständnis der Ökonomik und ihrer praktischen Anwendung nicht geben. Ob das zutrifft, zeigt sich darin, in welchem Maße sich Volkswirte bei ihren Empfehlungen auf die Makroökonomik beziehen. Mit der Diskussion wirtschaftspolitischer Instrumente ist das Spielfeld umrissen, auf dem der "Wirtschaftsdienst" seit 100 Jahren agiert.

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Der Wirtschaftsdienst feiert sein 100-jähriges Bestehen[ a ] mit einer Jubiläumsausgabe. Dieser Beitrag setzt sich mit den enthaltenen Artikeln zur ökonomischen Politikberatung auseinander und kritisiert, dass darin die ökonomische Theorie vergessen geht.

Die zentrale Frage der modernen Makroökonomik ist die nach dem Einfluss des Staates auf eine marktwirtschaftlich koordinierte Volkswirtschaft. Noch mehr zugespitzt: Wie können (a) langfristig gesehen eine stabile ökonomische Entwicklung gefördert und (b) kurzfristig konjunkturelle Schwankungen ausgeglichen werden? Um diese und andere Fragen zu beantworten, stellt die Makroökonomik eine Reihe von theoretischen Ansätzen zur Verfügung, die sie zu empirisch überprüfbaren Modellen ausformuliert und – so hofft man – nur dann dem ökonomischen Laien, insbesondere dem Politiker, anempfiehlt, wenn empirische Tests bestanden worden sind. Einen Gegensatz von modell- und evidenzbasierter Politikberatung, wie sie Weimann (620) der Politikberatung unterstellt, sollte es nach diesem Verständnis der Ökonomik und ihrer praktischen Anwendung nicht geben. Ob das zutrifft, zeigt sich darin, in welchem Maße sich Volkswirte bei ihren Empfehlungen auf die Makroökonomik beziehen.

Mit der Diskussion wirtschaftspolitischer Instrumente ist das Spielfeld umrissen, auf dem der "Wirtschaftsdienst" seit 100 Jahren agiert. Wenn sich Erfolg allein am Überleben trotz zunehmender Konkurrenz bemisst, kann man der Zeitschrift und ihrer aktuellen redaktionellen Besatzung ganz aufrichtig und reinen Herzens gratulieren. Im Augustheft feiert die Zeitschrift sich selbst und lässt die von ihr wohl am meisten favorisierten Autoren zu Wort kommen. Im Folgenden soll an markanten Beispielen aus dem Heft ein Merkmal nachgewiesen werden, durch das die zeitgenössische Politikberatung charakterisiert werden kann.

Fehlende theoretische Grundlagen

Dieses Merkmal ist zunächst dadurch definiert, was im Jubiläumsheft nicht thematisiert wird, nämlich die theoretischen Grundlagen, auf denen die "Instrumente der Wirtschaftspolitik" beruhen. Entschuldigend kann man anführen, dass sich die Zeitschrift als Organ der wirtschaftspolitischen Beratung und nicht als Forum der Grundlagenforschung versteht. Dem widerspricht aber, dass im Heft mindestens zwei methodologische orientierte Beiträge zu finden sind, die durchaus auf die Grundlagen der Politikberatung zielen, ansonsten aber ohne jeden theoretischen Tiefgang präsentiert werden – einer davon wurde bereits zitiert. Dasselbe muss man auch von Beiträgen sagen, die zwar aktuelle und durchaus wichtige Themen wie ein gerechtes Steuersystem oder eine steuergestützte Maßnahme zur Eindämmung von Völkerwanderungen behandeln, zugleich aber einen eher politikwissenschaftlichen Charakter haben. Würde ich diese Artikel in der Lehre als Lektüre einsetzen, müsste ich mit Fragen rechnen, die fast jedem Studierenden der Volkswirtschaftslehre sofort in den Sinn kämen: Was haben diese Beiträge mit der Ökonomik zu tun? Findet dort irgendeine Wirkungsabschätzung statt? Auf welche kausalen Gesetzmäßigkeiten beziehen sich die Empfehlungen? Meine Antwort darauf würde wohl lauten: "Auf den gesunden Menschenverstand."

Eine herausragende Stellung nehmen objektiv Autoren ein, die eng mit dem deutschen Sachverständigenrat der Wirtschaft verbunden sind und deren wirtschaftspolitisches Gewicht auch an der Platzierung im Jubiläumsheft abzulesen ist. Elstner, Michaelis und Schmidt beschreiben sachkundig, umfassend und durch vielfältige Zitate belegt, welche Schwierigkeiten die exakte Prognose der genauen Position einer Volkswirtschaft im konjunkturellen Zyklus bereitet – eine Voraussetzung für zielgerichtete Interventionen des Staates bei einer konjunkturellen Schwäche. Hinzu kommen die Hürden bei der Umsetzung wirtschaftspolitischer Maßnahmen, so dass letztlich eine antizyklische Politik Gefahr läuft, sich prozyklisch auszuwirken. Deshalb sollte sich die Fiskalpolitik – so eine der Empfehlungen – auf Ausnahmesituationen beschränken (540).

Man darf wohl davon ausgehen, dass der stärkste Rückgang des BIP in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 2008/9 eine solche Ausnahmesituation darstellte. Stabilisierende Maßnahmen wurden zwar implementiert, aber erst wirksam, als der Tiefpunkt schon fast überschritten war. Der überwiegende Teil der Maßnahmepakete der deutschen Regierung erstreckte sich bis 2012 und wirkte deshalb prozyklisch. Konsequenterweise müssten die Autoren auch Interventionen im Fall von Ausnahmesituationen ablehnen. Das erschien ihnen wohl zu radikal. Stattdessen empfehlen sie der Politik, sich auf die automatischen Stabilisatoren zu verlassen – mit anderen Worten: nichts zu tun. Eine neoliberale Empfehlung im Rahmen eines keynesianisch inspirierten Staatsinterventionismus, wie er vom Sachverständigenrat verkörpert wird? Die automatischen Stabilisatoren glätten nach Berechnungen jener Institution 20 Prozent der "Outputeffekte" (536). Mit dem überwiegenden Rest – das wäre im Fall der oben genannten Krise ein Rückgang des BIP um 100 Milliarden Euro – müssen Arbeitslose, Kurzarbeiter, Sozialversicherer usw. dann eben zurechtkommen.

Abgesehen von diesem ziemlich fragwürdigen Verständnis der Aufgaben eines Sachverständigenrates fällt auf, dass die Autoren die theoretische Frage gar nicht erst stellen und die empirische Forschung auch nur sehr ausschnittweise zur Kenntnis nehmen. Klarerweise wird man in einer amerikanischen Studie keine besonders differenzierte Auskunft über die aktuellen Multiplikatoren der deutschen Volkswirtschaft erhalten. Unter wissenschaftstheoretischem Aspekt ist die Ignoranz gegenüber den theoretischen Grundlagen der Politikberatung als ein Angriff auf diese zu werten. Warum? Wenn es, wie an anderer Stelle begründet, richtig ist, dass die Makroökonomik weder im strengen Sinn des Kritischen Rationalismus falsifizierbar ist noch einen deduktiven Aufbau nach dem Vorbild der Axiomatik aufzuweisen hat, dann besteht die effektive "Widerlegung" einer Theorie in ihrer Nicht-Anwendung (und im Warten darauf, dass deren Vertreter aussterben). Die Autoren werden das sicherlich nicht im Sinn gehabt haben, handeln aber so.

Einen komprimierten Überblick über die Eurokrise sowie über die von ihr veranlassten Reformen in der Europäischen Währungsunion gibt der Volkswirt Dullien. Das Kernproblem, wie man auf unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit in einem gemeinsamen Währungsraum reagieren kann, wird anhand einer Erzählung der bereits ergriffenen und geplanten Maßnahmen beantwortet – einen Bezug zu irgendwelchen theoretischen Grundlagen vermisst man, wenngleich das Wort "makroökonomisch" dreimal erwähnt wird.

Methode statt Theorie

"Ungelöste methodische Fragen" – nicht etwa theoretische, denn mit dem Hinweis auf Eugen von Böhm-Bawerk aus dem Jahre 1924 sollte die theoretische Grundlage wohl geklärt sein (550) – wollen Belke, Gros und Schnabl diskutieren. Generell geht es ihnen darum, "Ungleichgewichte" – also ein typisches Thema heterodoxer Ökonomen – als Frühindikatoren eventueller Krisen nicht nur zu identifizieren, sondern auch zu kontrollieren (555), das heißt, wirtschaftspolitisch zu beeinflussen. Die Asymmetrien werden unter anderem in den Leistungsbilanzsalden, Wechselkursen, Kapitalbeständen und Kapitalflüssen sowie in den Immobilienpreisen gesucht (548). Zu loben ist das Vorhaben, die beim IWF und der EU seit 2010 bzw. 2011 gesammelten Erfahrungen mit dem Krisenmanagement systematisch auszuwerten und zu evaluieren (551). Dieser Plan sieht dem in einer empirischen Wissenschaft üblichen Vorgehen ähnlich. Das größte inhaltliche Problem dürften dabei die anhaltenden deutschen Exportüberschüsse darstellen (550), die aus theoretischer Sicht eine Asymmetrie darstellen, aus der Sicht der Politik aber meistens positiv bewertet werden. Theoretiker, die sich der Politik akkommodieren, zeichnet aus, dass sie nach Gründen suchen, die eine allzu strenge Beurteilung des Sachverhaltes relativieren. Die Autoren behaupten, dass die durch Exportüberschüsse im Ausland gebildeten Kapitalvermögen ein Risiko für die deutsche Volkswirtschaft darstellen könnten (551f., 555) – ein Problem, das die meisten Europäer wohl als "Jammern auf höchstem Niveau" einstufen werden. Bislang ging man jedenfalls davon aus, dass der Abzug oder die Entwertung von Kapital vor allem dem Land schadet, in das es investiert worden ist. Des Weiteren deuten die Autoren an, dass bei einer anderen Messung der Asymmetrien Deutschland "in geringerem Ausmaß ein Ausreißer zu sein" scheint (552). Immerhin sind in diesem Sinn schon "erste Voruntersuchungen mit Methoden der deskriptiven Statistik" unternommen worden, die eine solche Bewertung nahelegen (554). Man darf gespannt sein, welche Ergebnisse dann die Voruntersuchungen auf dem etwas höheren Niveau der "schließenden Statistik" erbringen werden. Sicher wird die Redaktion des Wirtschaftsdienstes auch diese veröffentlichen, schließlich will man ja plural sein und der Diskussion ein Forum bieten. Ob die Autoren aber "wissenschaftlich abgesicherte Antworten" (531) zu bieten haben, darf mit Blick auf diesen Beitrag bezweifelt werden.

In scharfem Kontrast zu der fiskalpolitischen Enthaltsamkeit der Vertreter des Sachverständigenrates steht die persönliche Meinung der im Heft sich äußernden Vertreter der Deutschen Bundesbank zur Regulierung des Finanzmarktes. Demnach haben die mit der Rezession 2008/9 entstandenen, angeblich neuen Probleme eine Reihe von Ad-hoc-Maßnahmen hervorgebracht, deren tatsächliche Wirkung noch völlig unklar ist (562). Die Autoren Buch, Reich und Weigert empfehlen, dem neu entstandenen Forschungsgebiet makroprudenzieller Politik mit der Schaffung einer breiten Datengrundlage Rechnung zu tragen; des Weiteren sollte die Implementation von "makroprudenziellen Instrumenten" auf europäischer Ebene wissenschaftlich begleitet werden; erforderlich sei schließlich die Schaffung "struktureller oder [wieso oder?] empirischer Modelle", um die Wirkungen abschätzen zu können (562). Das erinnert an das Forschungsprogramm, das 1950 mit L. R. Kleins erstem ökonometrischen Modell auf dem Gebiet realwirtschaftlich orientierter ökonomischer Forschung einsetzte, das sich zwar auf vielfältige Weise etabliert hat, an das aber heutzutage, wie die Äußerungen der Vertreter des Sachverständigenrates belegen, einflussreiche Volkwirte kaum noch Hoffnungen knüpfen.

Die Empfehlung, Interventionen in die Realwirtschaft zu unterlassen, zementiert (zumindest in Deutschland) den Status quo; denn der Staat definiert die Rahmenbedingungen einer Marktwirtschaft auch dann, wenn er gerade keine Konjunkturprogramme auf den Weg bringt. Das macht der Beitrag von Schettkat klar. Der Autor rekapituliert dogmengeschichtlich die Demontage keynesianischer Wirtschaftspolitik – nicht immer konsequent, wie eines seiner Beispiele zeigt. Dabei handelt es sich um die Phillips-Kurve (576), die in den sechziger Jahren von Samuelson und Solow uminterpretiert und die in dieser Form allgemein von der Politik überschätzt wurde, bis sie in den siebziger Jahren – wie in Lehrbüchern der neoklassischen Synthese nachzulesen ist – wegen des Phänomens der Stagflation angeblich zusammengebrochen sei. Genau auf dieser Linie wird sie auch von Schettkat als Scheinkorrelation eingestuft wird (577). Offenbar genügen einigen  Ökonomen "anekdotische Evidenzen" (579), um einen statistisch nachweisbaren Zusammenhang als diskreditiert anzusehen. Doch das wichtigste Thema dieses Beitrages ist der Arbeitsmarkt, dessen isolierte Erforschung einer Kritik unterzogen wird. Diese, unter deutschen Forschern vereinzelt immer noch verbreitete Methode , sei paradigmatisch bedingt durch die "neoliberale ‚Revolution’" in den Wirtschaftswissenschaften (577), die auch für die gegenwärtige Stagnation in Europa verantwortlich sei (579). Der Autor liefert eine Reihe von schlagkräftigen Argumenten, auf die ich hier aus Platzgründen nur verweisen und dem Leser und der Leserin empfehlen kann, sie im Original zur Kenntnis zu nehmen.    

Fazit

Resümiert man das Bild der Politikberatung in Deutschland, so wie sie sich im Jubiläumsheft präsentiert, so hat man den Eindruck, das eine Reihe von gut informierten Menschen ihre Meinung zu aktuellen Themen der Gesellschaftspolitik unter Berücksichtigung des ökonomischen Aspektes der erörterten Sachverhalte kundgibt. Dass dabei im Hintergrund eine entwickelte wissenschaftliche Disziplin mit empirisch überprüften Theorien steckt, kann man bestenfalls erahnen. 

©KOF ETH Zürich, 24. Aug. 2016

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