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Marx, Mathematik und der Mainstream

Summary:
Lassen sich Karl Marx' meist qualitative Thesen aus dem "Kapital" sauber mathematisch-quantitativ modellieren und, falls ja, können wir daraus etwas lernen? Zweimal ja, meint dieser Beitrag. Die Gegenstände ökonomischer Theorien sind in den meisten Fällen von quantitativen Verhältnissen durchdrungen. Maß und Zahl stellen im Handel, in der Produktion, bei der Verteilung, aber auch im Konsum wichtige Aspekte dar, um die sich nicht nur die Praktiker, sondern auch die Ökonomen bemühen müssen, um rationale Entscheidungen treffen zu können und um zu verstehen, was in der ökonomischen Realität vor sich geht. Nur sehr reiche Akteure, wie zum Beispiel die Könige in Homers Ilias, können es sich leisten, den Preis eines begehrten Gutes zu ihren Ungunsten zu ignorieren und dabei das Hundertfache draufzulegen. In diesem Extremfall hat es selbst der Dichter, für den es sicher interessantere und schönere Dinge gab, für wichtig befunden, der Nachwelt davon zu berichten (der Tausch der Rüstungen zwischen Diomedes und Glaukos). Vor der Notwendigkeit, quantitative Verhältnisse exakt darzustellen, stand auch der Ökonom Karl Marx als er sein Hauptwerk "Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie" verfasste.

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Lassen sich Karl Marx' meist qualitative Thesen aus dem "Kapital" sauber mathematisch-quantitativ modellieren und, falls ja, können wir daraus etwas lernen? Zweimal ja, meint dieser Beitrag.

Die Gegenstände ökonomischer Theorien sind in den meisten Fällen von quantitativen Verhältnissen durchdrungen. Maß und Zahl stellen im Handel, in der Produktion, bei der Verteilung, aber auch im Konsum wichtige Aspekte dar, um die sich nicht nur die Praktiker, sondern auch die Ökonomen bemühen müssen, um rationale Entscheidungen treffen zu können und um zu verstehen, was in der ökonomischen Realität vor sich geht. Nur sehr reiche Akteure, wie zum Beispiel die Könige in Homers Ilias, können es sich leisten, den Preis eines begehrten Gutes zu ihren Ungunsten zu ignorieren und dabei das Hundertfache draufzulegen. In diesem Extremfall hat es selbst der Dichter, für den es sicher interessantere und schönere Dinge gab, für wichtig befunden, der Nachwelt davon zu berichten (der Tausch der Rüstungen zwischen Diomedes und Glaukos).

Vor der Notwendigkeit, quantitative Verhältnisse exakt darzustellen, stand auch der Ökonom Karl Marx als er sein Hauptwerk "Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie" verfasste. Zwar findet man bei ihm einige wenige, sehr einfache, trotzdem aber für seine Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise ziemlich zentrale Formeln wie die entstehungsseitige Aufspaltung des Warenwerts W in konstantes Kapital c, variables Kapital v und den berühmt-berüchtigten Mehrwert m:

W = c + v + m

Darüber hinaus ist es aber nicht übertrieben festzustellen, dass die meisten quantitativen Verhältnisse, die im "Kapital" dargestellt werden, verbal, das heißt ohne jede Mathematik, und anhand von Beispielen dargestellt werden. Das ist eine Form, die der moderne Ökonom – wenn überhaupt – nur noch Nase rümpfend zur Kenntnis nimmt. Für den Dogmenhistoriker ergibt sich hier die lohnende Aufgabe, die in einem Werk angesprochenen quantitativen Verhältnisse möglichst textgetreu in die Sprache der Mathematik zu übersetzen. Vorbild kann dabei Paul Samuelson sein, der mit Blick auf die gesamte klassische Periode der Ökonomie sich an einer solche mathematischen Modellierung versucht hat, allerdings ohne allzu tief in die Details der Theorien von Adam Smith, David Ricardo, geschweige denn in die von Karl Marx, einzudringen.

Die wissenschaftliche Darstellung einer ökonomischen Theorie erfordert grundsätzlich dreierlei:

(i) Eine verständliche Begriffsbildung, auf deren Grundlage qualita­tive Merkmale möglichst eindeutig identifiziert werden können; das be­dingt unter Umständen ein gewisses Maß an philosophischer Analyse. Im vorliegenden Zusammenhang, das heißt mit Bezug auf einen klassischen Text, dessen Autor die Grenznutzentheorie vermutlich noch nicht zur Kenntnis genommen hat und wahrscheinlich auch nicht allzu viel von ihr gehalten hätte, stellt die Kategorie des Gebrauchswerts eine Her­ausforderung an die Genauigkeit der begrifflichen Analyse dar. Dabei geht es weniger darum, dem heutigen Leser klar zu machen, was Marx mit dem Begriff des Gebrauchswerts oder Gutes gemeint hat, als die vielen verwirrenden Interpretationen, die wir in der gesellschaftspolitisch engagierten Marx-Exegese finden, zurecht zu rücken. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Güte und Gehalt eines mathematischen Modells einer ökonomischen Theorie entscheidend davon abhängen, wie sinnvoll die inhaltlichen Interpretationen ausfallen. Im Falle einer Modellierung ist das von vornherein zu beachten. 

(ii) Notwendig ist nicht nur eine adäquate Formulierung der qualitativen, sondern natürlich auch der quantitativen Ver­hältnisse. Dabei wird unterstellt, dass eine so umfassende ökonomische Theorie wie die im "Kapital" niedergelegte ohne Darstellung quantitativer Ver­hältnisse ihren Gegenstand verfehlt hätte, ganz gleich, mit welchem Ziel dieses Werk geschrieben worden ist. Als "adäquat" soll eine mathe­mati­sche Formulierung dann gel­ten, wenn die im Originaltext mit Hilfe von Beispielen oder ande­ren verbalen Beschrei­bungen behaupteten Zusammenhänge formal-lo­gisch exakt aus dem vor­geschlagenen mathe­matischen Modell folgen.

Beim Aufstellen eines sol­chen Modells geht es erfahrungsgemäß vor al­lem um die Transformation verbaler Formulie­rungen quantitativer Ver­hältnisse, wie sie beispiels­weise im "Kapital" laufend vorkommen, in die Sprache der Mathematik. In der Regel ist mit einer solchen Modellie­rung eine Verallgemeinerung verbunden, die über die Beispiele im Ori­ginal­text hinausgehen. Insofern ist mit der mathema­tischen Formulierung oder Modellierung immer die Hypothese verbun­den, dass der Autor genau jene Verallgemeinerung inten­diert hatte. Zur Überprüfung dieser Hypo­these sind dann sämtliche, sonst noch zu fin­denden Textstellen von Be­deutung, die auf den gleichen Zu­sammenhang Bezug nehmen. Bei der  mathematischen Verallgemeinerung angelangt, erfordert die Textanalyse also einen nächsten Schritt, der so beschrieben werden kann: Die Verallgemeinerungen muss sich bei der Interpretation anderer Textstellen, in der begrifflich gesehen derselbe Bedingungskomplex vorliegt, bewähren. Auf diese Weise kann der "hermeneutische Zirkel", dass die Gesamtheit eines Werkes durch die Interpretation einzelner Aussagen verstanden werden muss, und einzelne Aussagen im Lichte der Interpretation des Ganzen, in einzelne Interpretationsschritte mit nachfolgender Überprüfung an anderen Textstellen aufgelöst werden. Diese Vorgehensweise sollte klar unterschieden werden von der Methode, bei jedem Konflikt mit dem Marx'schen Text diesem irgendeine Ungenauigkeit zu unterstellen, ohne auf die Idee zu kommen, dass die eigene Interpretation fehlerhaft sein könnte. Beispiele für diesen Typ "marxistisch inspirierter Sozialwissenschaft" sind leicht zu finden.

(iii) Auf der Grundlage eines solchen Modells, das – um es noch einmal zu betonen – nicht  nur aus mathematischen Formeln besteht, sondern stets auch eine sinn­volle ökonomische Interpretation der mathematischen Objekte (Variab­len, Parameter, Gleichungen, Ungleichungen etc.) um­fasst, kann es er­neut, sozusagen auf höherer Ebene, eine weitergehende qualitative Inter­pretation geben, die dann jene Aspekte der Theorie freilegt, die dem über die Ökonomik hinausgehenden Wissen­schaftsanspruch eines Werkes zuzurechnen sind. Im vorliegenden Fall handelt es sich um den Anspruch, nicht nur die (von Marx) beobachteten Verhältnisse darzustellen, sondern auch ihre historische Herausbildung zu rekonstruieren – zumindest hinsichtlich der strukturell und funktional wesentlichen Aspekte.

An solchen Darstellungen der Marx'schen Theorie fehlt es aus einem leicht nachvollziehbaren Grund: Während die professionelle Ökonomik hinreichend mit dem entsprechenden mathematischen Rüstzeug ausge­stattet wäre, um die ökonomische Theorie von Marx zu rekonstruieren, hat sie schon lange das Interesse daran verloren; auf der anderen Seite stehen marxistische Ökonomen, die mehrheitlich der Mathematik, wenn nicht gar feindlich, so doch zumindest fremd, auf jeden Fall aber skep­tisch gegenüber stehen. Wann immer der mathematische Ökonom Zu­sammenhänge geltend macht, verweist diese Kohorte stereotyp auf den bürgerlichen, angeblich unhistorischen Charakter der Mathematik, die, so wird behauptet, Verhältnisse verdinglicht, die man gern in Fluss bringen möchte. Ausnahmen gibt es natürlich.

Was bringt die Modellierung des Kapitals?

Welchen Nutzen hat die mathematisch Modellierung eines ökonomischen Werkes, dessen erste Publikation sich im kommenden Jahr zum 150sten mal jährt?

(i) Erwähnt wurde bereits der dogmenhistorische Aspekt; auch wenn die Dogmengeschichte aus dem Kanon der Pflichtfächer wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge weitgehend verschwunden ist, so besteht doch bei der heranwachsenden Generation ein starkes Interesse an den Ideen, die letztlich zur Herausbildung der modernen Ökonomik geführt haben. Was die ökonomische Theorie von Marx betrifft, so verdienen die vorliegenden Darstellungen, die sich im Wesentlichen darauf beschränken, die obige Formel zu erklären, allerdings kein großes Lob. Der Autor dieser Zeilen kann nur hoffen, dass ihm diese Bemerkung nicht als substanzlose Arroganz angerechnet wird, sondern den Leser (und natürlich auch die Leserin) anregt, sich selber anhand einer entsprechenden Darstellung ein Urteil darüber zu bilden, wie vielgestaltig, facettenreich, logisch-kohärent und umfassend die ökonomische Theorie von Marx doch ist – um im Anschluss an diese Lektüre den Vergleich mit den ziemlich dürftigen, wenn auch wortreichen Darstellungen vorzunehmen, die bis dato vorliegen.

(ii) Angesichts einer Tendenz, die man im deutschsprachigen Raum beobachten kann und von der auch "Ökonomenstimme" ein beredtes Zeugnis ablegt, nämlich die Tendenz, sozial in Schulen, um nicht zu sagen: in Sekten zu zerfallen, wäre es an der Zeit, Brücken zwischen Heterodoxen und Orthodoxen, zwischen Klassik und Neoklassik, zwischen Marx-Exegese und der breiten Hauptstraße der Wissenschaft zu bauen. Dabei braucht man nicht beim Punkt Null anzufangen. Die Tür ist bereits offen zwischen den Handelstheorien, wie sie heute gelehrt werden, und der traditionellen Arbeitswertlehre; zwischen letzterer und der zeitgenössischen Input-Output-Analyse – um nur zwei bedeutendere Schnittstellen zu nennen.

(iii) Schließlich bietet die umfassende Darstellung der ökonomischen Theorie von Karl Marx auch Ansatzpunkte für weitergehende Forschungen. Spätestens seitdem Friedrich Engels die ökonomische Zunft mit der Frage herausforderte, wie denn Wertpreise korrekt in Produktionspreise umzurechnen seien, gibt es eine immer noch anschwellende Literatur von einigen hundert Studien zum sogenannten Transformationsproblem. Trotz ansonsten divergierender Auffassungen sind sich die Autoren in einem Punkt einig, dass nämlich Marx' Preistheorie erst im dritten Band des "Kapital" zu finden ist. Dort wird unterstellt, dass es in einer sich entwickelnden und entfaltenden Volkswirtschaft zu einem Ausgleich der Profitraten kommt, einem Prozess, dem die Produktionspreise Rechnung tragen müssen.

Bislang hat man wenig Lust empfunden, jene Hypothese empirisch nachzuprüfen. Vom Standpunkt einer Rekonstruktion des Textes scheint die Empirie aber auch irrelevant zu sein. Schließlich müsste die Konzeption der Produktionspreise auch dann modelliert werden können, wenn diese in der realen Welt keine Rolle spielen. Es lässt sich aber zeigen, dass Marx' Preistheorie bereits im ersten Band dargestellt und in der Konzeption wertadäquater bzw. durch Angebot und Nachfrage modifizierter Preise dort fest verankert ist. Der zwar später erschienene, aber früher geschriebene dritte Band stellt keineswegs die Preistheorie dar, die als Marx' letztes Wort gelten kann.

(iv) Die ökonomische Theorie von Karl Marx bietet einen bislang wenig erforschten Ansatz, um die der Klassik und der modernen Makroökonomik zugrunde liegende paradigmatische Idee des ökonomischen Kreislaufs und seiner Evolution weiterzuentwickeln. Während der Revolutionär Marx mit seinem Schema der erweiterten Reproduktion paradoxerweise die Möglichkeit einer unbegrenzten kapitalistischen Entwicklung aufzeigte, fördert eine differenziertere Analyse dieses Schemas Grenzen des Wachstums zutage, die aber keine Grenzen kapitalistischer Marktwirtschaften, sondern ihrer mathematischen Modellierung darstellen, also weitere theoretische Überlegungen erfordern.

©KOF ETH Zürich, 26. Okt. 2016

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