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Technischer Rückschritt II: Netzwerkeffekte und Wissensmonopole

Summary:
Was passiert, wenn wir technischen Rückschritt haben? Im ersten Teil dieses Beitrags zeigte Ernst Mönnich, ausgehend vom Betrug der Autobranche durch Softwaremanipulation, einige Beispiele für Wohlfahrtsverluste durch technischen Rückschritt in anderen Branchen. Hier folgt die Fortsetzung, die sich auf technischen Rückschritt bei der Gestaltung von Informationstechnologien konzentriert. Privatisierung von Information, sozialem Gedächtnis, Wissen und Wissenschaft Technisch organisatorischer Fortschritt prägte bereits die ersten Stufen von Industrialisierung (List 1841; Taylor 1911, Womack, Jones, Roos 1990). Die gegenwärtige Phase der Industrie- und Dienstleistungsentwicklung – modisch als Industrie 4.0 bezeichnet – zeichnet sich durch eine noch intensivere Nutzung der Informationstechnik zur Vereinfachung der Wertschöpfungsketten aus. Automatisierte und vernetzte Information prägt aber vor allem die Austauschverhältnisse zum Kunden. Sie generiert neue und rationalisiert alte Leistungen. Formatbindung, Zugang zu erworbenen Rechten: Auch ich wollte mögliche Vorteile eines E-Book-Readers testen. In der Tat stellt die Möglichkeit, an jedem Ort mit Netzzugang ein E-Book zu erwerben, ein Beispiel gesteigerter Bequemlichkeit, also technischen Fortschritt dar. Lesen ist mir dennoch in der Papierversion angenehmer.

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Was passiert, wenn wir technischen Rückschritt haben? Im ersten Teil dieses Beitrags zeigte Ernst Mönnich, ausgehend vom Betrug der Autobranche durch Softwaremanipulation, einige Beispiele für Wohlfahrtsverluste durch technischen Rückschritt in anderen Branchen. Hier folgt die Fortsetzung, die sich auf technischen Rückschritt bei der Gestaltung von Informationstechnologien konzentriert.

Privatisierung von Information, sozialem Gedächtnis, Wissen und Wissenschaft

Technisch organisatorischer Fortschritt prägte bereits die ersten Stufen von Industrialisierung (List 1841; Taylor 1911, Womack, Jones, Roos 1990). Die gegenwärtige Phase der Industrie- und Dienstleistungsentwicklung – modisch als Industrie 4.0 bezeichnet – zeichnet sich durch eine noch intensivere Nutzung der Informationstechnik zur Vereinfachung der Wertschöpfungsketten aus. Automatisierte und vernetzte Information prägt aber vor allem die Austauschverhältnisse zum Kunden. Sie generiert neue und rationalisiert alte Leistungen.

  1. Formatbindung, Zugang zu erworbenen Rechten: Auch ich wollte mögliche Vorteile eines E-Book-Readers testen. In der Tat stellt die Möglichkeit, an jedem Ort mit Netzzugang ein E-Book zu erwerben, ein Beispiel gesteigerter Bequemlichkeit, also technischen Fortschritt dar. Lesen ist mir dennoch in der Papierversion angenehmer. Problematisch für den Kunden ist dabei, wenn er an das Dateiformat eines Anbieters gebunden ist (Reuß 2015, 81). Nach dem Auslesen soll das erworbene Buch in der „Anbietercloud“ verfügbar bleiben. Der örtliche Speicher meines Readers ist ja endlich. Wer garantiert mir eigentlich den ungehinderten Zugang zu erworbenen Rechten am E-Book auch nach technischen Systemänderungen oder einer Insolvenz des Anbieters?
  2. Kommerzfreiheit sozialer (Speicher-) Dienste: Wir alle haben inzwischen zu viele digitale Fotos. Ein Weg, diese Freunden und Verwandten zugänglich zu machen und den Ballast empfindlicher Festplatten zu vermindern, ist die Auslagerung der Daten auf externe Datenspeicher. Die Dienste werden noch kosten- und werbefrei angeboten. Mit der Zahl der Nutzer steigt der potenzielle kommerzielle Wert des Netzwerks. Kann ich sicher sein, dass ein Dienst, dem ich durch Nutzung zu Marktwert verhelfe, auch kommerzfrei bleibt? Wer garantiert mir, dass bei einer Datenspeicherung außerhalb der EU abgelegte Daten nur für die von mir beabsichtigten Zwecke verwendet werden? Welche Halbwertzeit hat der Speicherservice? Könnte tatsächlich der Ausdruck der einzige Weg sicherer Archivierung von Fotos sein, die nicht nur Wegwerfschnappschüsse sind?
  3. Missbrauchsmöglichkeit von Kundendaten: Jeder von uns ist Kunde von diversen Firmen mit einer elektronischen Kundenkartei. Hier werden auch sensible Daten wie Konto- und Kreditkarteninformationen gespeichert. Immer mehr Firmen speichern oder verarbeiten die Daten nicht selbst. Der Datendiebstahl wird zum lukrativen Geschäft und das nicht nur bei Bankdaten zu Steuerhinterziehungsfällen. Mit der generellen Erlaubnis zum Umgang mit meinen Daten verliere ich Rechte auf informationelle Selbstbestimmung. Bei wem liegt dann die Beweislast, wenn über meine Kreditkarte illegal Beträge abgebucht werden?
  4. Marktmacht von Informationsportalen: Einer rasch steigenden Beliebtheit erfreut sich die Suche und Buchung von Diensten im Internet. Dieses gilt für Flüge, Unterkünfte oder auch Taxifahrten. Eine Vielfalt überregional aktiver Suchportale verdrängt zunächst lokale oder regionale Serviceplattformen, vorwiegend zum Vorteil der Werbeeinnahmen von Google und Co. Mit fortschreitender Monopolbildung folgt dann die Verlagerung von Wertschöpfungsanteilen von den Dienstleistungsproduzenten auf die Buchungsportale. Was als gemeinwirtschaftlich anmutender Beitrag zur Sharing Economy beginnt wie Airbnb, wird als profitmaximierendes Unternehmen mit Marktmacht enden. Wer sichert die Interessen der eigentlichen Anbieter von Diensten, wenn sie nicht auch über Marktmacht verfügen? Wie ist es um die Chance zu Markttransparenz für die Kunden bestellt, wenn bezahlte Informationen das Suchergebnis dominieren?
  5. Zugang zu digitalen Verlagsarchiven: Als Leser mit eingeschränktem Gedächtnis habe ich für mich wichtige Artikel und Aufsätze aufbewahrt. Hierfür ist der Zugang zu online-Zeitschriften incl. ihrer Archive ein eindeutiger technischer Fortschritt. Als zusätzlicher Service scheint mir der kostenpflichtige Zugang vertretbar, wenngleich es sich aus Sicht der Theorie ebenfalls um eine Leistung mit Grenzkosten nahe Null handelt. Auch in diesem Fall stellt sich jedoch die Frage nach der Halbwertzeit meines Informationszugangs. Ausgeschnittene oder kopierte Artikel kann ich dauerhaft archivieren. Ob der Zugang zum digitalen Zeitungsarchiv dagegen auch nach Jahrzehnten noch möglich sein wird, liegt im Dunkel der wirtschaftlichen und technologischen Zukunft von Verlagen. Für diese bisher angeführten Beispielfälle mag es schon Präzedenzfälle rechtlicher Regulierung geben, die einen sinnvollen Interessenausgleich normieren oder eine Lösung ist denkbar. Die vom letzten Beispiel aufgeworfenen Fragen haben demgegenüber eine grundsätzlichere Natur.
  6. Blended Learning mit privatisierten Lernplattformen – Gefahren für wissenschaftliche Pluralität: Der vor einigen Jahren entfachte Hype um Online Universitäten ist Geschichte. Ins Netz gestellte Vorlesungen ersetzen nicht den persönlichen Dialog. Die aktuellen Ansprüche der Pioniere virtueller Bildung lesen sich deshalb deutlich bescheidener (Brinck 2016). Dieses bedeutet nicht, dass von netzgestützten Lehrmedien keine Gefahren für die wissenschaftliche Bildung ausgehen. Der Anspruch wissenschaftlicher Verlage ist ein Beitrag zum Blended Learning. Der Selbstversuch im Ausland hierzu zeigt ein deutliches Rationalisierungspotential für das Fakten- und Methodenlernen (Mönnich 2014). Zur gleichen Zeit ergeben sich jedoch auch deutliche Einschränkungen für die wissenschaftliche Freiheit des einzelnen Lehrenden an den Hochschulen. Amerikanische Wissenschaftsverlage beginnen bereits, ihre Standardlehrbücher, die mit Online-Lernplattformen verknüpft sind, auch für andere Sprachen verfügbar zu machen. Diese Lehrunterstützungsmöglichkeiten rechnen sich nur durch die Realisierung von Skalenerträgen, also hohen verkauften Auflagen mit Lernplattformzugang. Sie werden damit zunehmend wissenschaftliche Autoren von der Möglichkeit abschneiden, Lehrbücher mit gleichwertigem Leistungsumfang zu veröffentlichen. Hierin sehe ich eine ernsthafte Gefahr für die Pluralität wissenschaftlicher Lehrangebote, denn im Blended Learning verändert sich die Rolle des Dozenten drastisch. Damit ergeben sich auch deutliche Gefahren für den wissenschaftlichen Diskurs, die Freiheit des Lernens und Qualitätseinbußen für das Studium.

Was tun?

Ein den Problemen angemessenes Grundverständnis für notwendige Regulierungen setzt zunächst die Einsicht voraus, dass reine Marktregulierung bei einseitiger Marktmacht und ungleich verteilten Informationen nicht automatisch technischen Fortschritt bewirken wird. Der Staat muss also entweder diese Ungleichgewichte reduzieren oder selbst regulierend eingreifen. Sinnvolle Ansatzpunkte wären der Verbraucherschutz, Normungs- und Kontrahierungszwang, Einschränkung des Patentschutzes, Regulierung von Netzmonopolen, Wahrung von Kollektivgütern und Initiativen zur Weiterentwicklung der Wissens- und Wissenschaftsfreiheit unter neuen technologischen Rahmenbedingungen. Dieses zu diskutieren, bedarf es aber eines eigenen Beitrages.

Zusammenfassung und Fazit

Im ersten Teil dieses Aufsatzes wird ausgehend von der Softwaremanipulation bei Pkw-Motoren technischer Rückschritt als nicht nur singuläres Marktergebnis definiert und mit einigen Beispielen verifiziert. Der zweite Teil konzentriert sich auf die Janusköpfigkeit technischer Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologien. Wenn Märkte durch Marktmacht, ungleich verteilte Informationen und Monopolisierung durch Netzwerkeffekte gekennzeichnet sind, liegt es nahe, Ko-Produzenten und Konsumenten um Wohlfahrtsgewinne technischen Wandels zu bringen. Auch die Einhegung von Allmenden oder Privatisierung von Kollektivgütern durch neue Techniken kann die Wohlfahrt der Gesellschaft vermindern. Ein generell anwendbares Maß für technischen Rückschritt bietet die ökonomische Theorie bis heute nicht. Auch ohne einen Maßstab für technischen Rückschritt erfordert der Befund eine Debatte über notwendige Reaktionen und Regulierungen.

Literatur

Brinck, Christine (2016), Das ist unser Sweet Spot, Interview mit Sebastian Thrun über die Online-Uni Udacity, in: Die Zeit vom 24.7.2016

List, Friedrich (1841), Das nationale System der Politischen Ökonomie, zit. n. der 8. Aufl. Stuttgart, Berlin 1925

Mönnich, Ernst (2014), Die fortschreitende Vereinheitlichung der Volkswirtschaftslehre und ihre Risiken, in: Ökonomenstimme, 2014.

Reuß, Jürgen (2015), Garantiert nicht lang haltbar, in: Atlas der Globalisierung, Weniger wird mehr, Berlin, S. 78-83

Taylor, Frederick W.: The principles of scientific management. New York 2006 (Nachdruck der Ausgabe London 1911). Deutsch: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. Paderborn 2011

Womack, James P., Jones, Daniel T., Roos, Daniel (1990), The Machine that changed the World, New York, zit. n. der dt. Übersetzung: Die zweite Revolution in der Autoindustrie, München 1997

©KOF ETH Zürich, 27. Okt. 2016

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