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Migration – die neue Normalität

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Die hohen Flüchtlingszahlen des Jahres 2015 sind primär auf den Bürgerkrieg in Syrien zurückzuführen. Die Schlussfolgerung, dass ein Ende dieses Krieges die Migrationsbewegungen nach Europa beendet, ist gemäss diesem Beitrag jedoch ein Trugschluss. Perspektivisch müssen sich die entwickelten Industrienationen Europas auf dauerhaft hohe Migrationsbewegungen vorbereiten. Begriffsklärung Der Begriff der Migration bezeichnet die Verlagerung des Wohnsitzes einer Person. Der Umzug kann sowohl innerhalb eines Landes (Binnenmigration) erfolgen als auch über die Landesgrenzen hinaus (internationale Migration). Ursachen für die Entscheidung einer Wohnortverlagerung können ökonomischer, politischer, kultureller oder sozialer Natur sein. Dementsprechend gibt es verschiedene Formen der Migration: In den meisten Fällen ist die Migration ökonomisch motiviert, d. h. Menschen verlassen eine Region mit schlechten Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen und ziehen in Regionen mit besseren Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen (Arbeitsmigration). Auch die Aussichten auf bessere Bildungsmöglichkeiten können ein Motiv für eine Wanderungsentscheidung sein. Ein weiteres Motiv für die Verlagerung des Wohnsitzes ist die Flucht vor bedrohlichen Situationen.

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Die hohen Flüchtlingszahlen des Jahres 2015 sind primär auf den Bürgerkrieg in Syrien zurückzuführen. Die Schlussfolgerung, dass ein Ende dieses Krieges die Migrationsbewegungen nach Europa beendet, ist gemäss diesem Beitrag jedoch ein Trugschluss. Perspektivisch müssen sich die entwickelten Industrienationen Europas auf dauerhaft hohe Migrationsbewegungen vorbereiten.

Begriffsklärung

Der Begriff der Migration bezeichnet die Verlagerung des Wohnsitzes einer Person. Der Umzug kann sowohl innerhalb eines Landes (Binnenmigration) erfolgen als auch über die Landesgrenzen hinaus (internationale Migration). Ursachen für die Entscheidung einer Wohnortverlagerung können ökonomischer, politischer, kultureller oder sozialer Natur sein. Dementsprechend gibt es verschiedene Formen der Migration:

  • In den meisten Fällen ist die Migration ökonomisch motiviert, d. h. Menschen verlassen eine Region mit schlechten Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen und ziehen in Regionen mit besseren Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen (Arbeitsmigration). Auch die Aussichten auf bessere Bildungsmöglichkeiten können ein Motiv für eine Wanderungsentscheidung sein.
  • Ein weiteres Motiv für die Verlagerung des Wohnsitzes ist die Flucht vor bedrohlichen Situationen. Derartige Bedrohungen können unterschiedlicher Art sein: die Flucht vor einer politischen, ethnischen oder religiösen Verfolgung, die Flucht vor Umwelt- und Naturkatastrophen (dazu gehört auch die Migration, um nicht zu verhungern oder zu verdursten) und schließlich die Flucht aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten bzw. die Vertreibung aus diesen Regionen. Diese Formen der Migration werden als Fluchtmigration bezeichnet.
  • Angesichts der globalen Erwärmung und des damit verbundenen Klimawandels mit zahlreichen negativen Folgen (Dürren und Wassermangel, Wetterextreme mit Ernteeinbußen und der Zerstörung von Häusern, Produktionsanlagen und Infrastruktureinrichtungen, Überschwemmungen etc.) gewinnt die durch Klima- und Umweltveränderungen hervorgerufene Klimamigration zunehmend an Bedeutung.
  • Ein letztes wichtiges Wanderungsmotiv besteht aus dem Wunsch einer Familienzusammenführung. Hierbei folgen Menschen ihren Familienangehörigen und Freunden, die bereits ihren Wohnsitz verlagert haben, d. h. die Menschen ziehen in die Regionen, in die ihre Angehörigen ausgewandert sind (Familiennachzug bzw. Familienzusammenführung).

Grundlegende Migrationsmotive

Damit gibt es zwei große Motive für die Verlagerung des Wohnortes: die freiwillige Migration, die primär einer Verbesserung der Arbeitsmarkt- und Lebenschancen dient, und die unfreiwillige Migration, die aus der Flucht vor lebens- und gesundheitsbedrohenden Bedingungen resultiert (Terror, Bürgerkrieg, Hunger, Wassermangel, Naturkatastrophen etc.). Beide Formen der Migration sind jedoch nicht völlig trennscharf.

  • So ist z. B. nicht eindeutig, ab welchem Ausmaß der Armut die Lebensbedingungen so schlecht sind, dass die Betroffenen darin eine Bedrohung für ihr Leben sehen und sich zur Flucht entscheiden. Die Menschen können also durch die Lebensbedingungen im Heimatland “existenziell so gefährdet [sein], dass Bleiben keine Option mehr ist und Flucht die einzige Lösung” darstellt (Straubhaar 2016: 238).
  • Auch eine wirtschaftlich motivierte Migration, die grundsätzlich als freiwillig einzustufen ist, kann eine unfreiwillige Wohnortverlagerung sein, weil der Verlust der Lebensgrundlage ohne ein funktionierendes soziales oder familiäres Sicherungssystem lebensbedrohlich wird.
  • Gleiches gilt für Migrationsbewegungen im Kontext von Klima- bzw. Umweltveränderungen: Während der Umzug in Regionen mit einem angenehmeren Klima als freiwillig einzustufen ist, können klimabedingte Dürren und der damit verbundene Wassermangel eine Bedrohung des Lebens darstellen, die zu einer erzwungenen Migration bzw. Flucht führen (vgl. Müller et al 2012: 14).
  • Schließlich ist es sogar möglich, dass Staaten Minderheiten oder Andersdenkende nicht direkt politisch verfolgen, “sondern wirtschaftlich ausbeuten, schikanieren, enteignen und entrechten”. Auch in diesem Fall “wird eine Unterscheidung in politische und ökonomische Fluchtursachen schwierig, meist willkürlich und zu oft für abgewiesene Wirtschaftsflüchtlinge zum Todesurteil” (Straubhaar 2016: 238).

Gründe für die Migration nach Europa

Mit Blick auf die für Deutschland und Europa relevanten Flüchtlingsbewegungen aus Afrika und dem Nahen Osten ist festzustellen, dass mehrere Fluchtursachen gleichzeitig auftreten.

Flucht vor kriegerischen Konflikten

Der zentrale Grund für die aktuellen Zuwanderungszahlen sind (Bürger-)Kriege und bewaffnete Konflikte. Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg listet für das Jahr 2015 insgesamt 32 Kriege bzw. bewaffnete Konflikte auf. Zu den betroffenen Regionen gehören u. a. Afghanistan, Ägypten, Algerien, Armenien, der Irak, Jemen, Libyen, Syrien und Tunesien im Vorderen und Mittleren Orient sowie Burundi, Ostkongo, Mali, Mosambik, Nigeria, Somalia, der Sudan und die Zentralafrikanische Republik (vgl. AKUF 2016: 3). Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung kommt in seinem Konfliktbarometer für das Jahr 2015 auf insgesamt 223 gewaltsame Konflikte, von denen 43 als Kriege bzw. begrenzte Kriege einzustufen sind (vgl. HIIK 2016: 12 f.).

Mangelhafte Lebensbedingungen im Heimatland

Eine weitere entscheidende Ursache für den Fortzug aus dem eigenen Land sind schlechte Lebensbedingungen, also vor allem ein geringes Niveau des materiellen Wohlstands bzw. Armut. Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, gibt es erhebliche Wohlstandsgefälle zwischen den ärmsten afrikanischen Staaten und Deutschland. Der Unterschied bei den materiellen Lebensbedingungen äußert sich dann auch in Unterschieden bezüglich der immateriellen Lebensbedingungen wie z. B. der Lebenserwartung.

Tabelle 1: Ausgewählte Indikatoren zu Einkommen und Gesundheit

Quelle: Population Reference Bureau 2015: 11–19. Erläuterung der Indikatoren: Bruttonationaleinkommen je Einwohner in laufenden US-Dollar im Jahr 2014. Lebenserwartung bei Geburt in Jahren. Kindersterblichkeitsrate: Anzahl von Kindern, die vor Erreichung des ersten Lebensjahrs sterben, je 1.000 Geburten. Müttersterblichkeitsrate: Anzahl der bei der Geburt verstorbenen Mütter je 100.000 Geburten im Jahr 2013.

Die Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen im eigenen Land kann gerade in armen Ländern zu politischen und sozialen Unruhen führen. In ihrem Buch “Warum Nationen scheitern” beschäftigen sich Daron Acemoglu und James A. Robinson mit politischen Unruhen in zahlreichen Ländern wie Ägypten, Bahrain, Jemen, Libyen, Syrien und vielen mehr. Bezüglich der Ursachen dieser Unruhen vertreten sie die Meinung: “Die Wurzeln der Unzufriedenheit in diesen Ländern liegen in der Armut” (Acemoglu und Robinson 2014: 21). Armut ist folglich eine zentrale Ursache für Unruhen, aus denen sich Bürgerkriege entwickeln, die dann Fluchtbewegungen auslösen.

Wachsende Einkommensunterschiede

Ein Blick auf die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) je Einwohner im Zeitverlauf zeigt, dass die Differenzen zwischen den hochentwickelten Industrienationen und den weniger entwickelten Regionen in Afrika und dem Nahen Osten zwischen 1980 und 2015 größer geworden sind. Dabei hat sich das Wohlstandsgefälle zwischen den entwickelten Ländern und den Regionen Afrika und dem Nahen Osten nicht nur absolut, sondern auch relativ vergrößert: 1980 war das BIP je Einwohner in den entwickelten Ländern rund 8,8-mal so groß wie in der Region “Sub-Saharan Africa”. 2015 war dieser Indikator in den entwickelten Ländern hingegen zwölfmal so groß (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2: Entwicklung des BIP je Einwohner in ausgewählten Regionen der Welt zwischen 1980 und 2015 (Angaben in laufenden US-Dollar Kaufkraftparität)

Quelle: IMF World Economic Outlook Database 2015.

Hohes Bevölkerungswachstum in Afrika

Perspektivisch ist nicht davon auszugehen, dass die Wohlstandsgefälle zwischen Afrika und Europa geringer werden. Im Gegenteil: Afrika ist weltweit die Region, die in den nächsten Dekaden die prozentual stärksten Bevölkerungszuwächse zu erwarten hat (siehe Tab. 3). Folglich werden dort die negativen Effekte einer wachsenden Bevölkerung am größten sein (Wohnraummangel, Infrastrukturengpässe, generell zunehmende Verteilungskonflikte inklusive der mit diesen Konflikten verbundenen sozialen Spannungen etc.), was den Abwanderungsdruck erhöht. Zudem wird das BIP auf eine entsprechende hohe Bevölkerungszahl verteilt werden, was für eine geringe Zunahme des BIP pro Kopf spricht.

Tabelle 3: Bevölkerungsentwicklung nach verschiedenen Regionen bis 2050 (Angaben in Millionen)

Quelle: Population Reference Bureau 2015: 11–13.

Zunehmende Bedeutung der Klimamigration

Erschwerend kommt hinzu, dass Afrika die Region ist, in der der Klimawandel als erstes und am stärksten zuschlagen wird. Damit werden dort die negativen Auswirkungen auf die Wasserversorgung, die landwirtschaftliche Produktion und hitzebedingte Krankheiten am größten sein. Auch die Konflikte um knappe Ressourcen – allen voran Wasser – werden zunehmen. 2015 wurden weltweit erstmals mehr als 1.000 schadenrelevante Naturkatastrophen registriert. 94 Prozent von ihnen waren wetterbedingte Ereignisse (vgl. Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft 2016: 1–2).

Angesichts der globalen Erwärmung ist davon auszugehen, dass sich die Zahl der klimabedingten Schadensereignisse zukünftig erhöhen wird. Anders als in den Industrienationen sind die meisten der damit verbundenen Schäden in den Entwicklungs- und Schwellenländern nicht versichert. Wenn es folglich zu einer Zerstörung von Wohnraum, landwirtschaftlichen Betrieben und Handwerksbetrieben kommt, verlieren die davon betroffenen Personen ihre Lebensgrundlage, was dann unzweifelhaft eine Gefahr für Leib und Leben der Menschen darstellt.

Gesellschaftspolitischer Ausblick

Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge bin ich davon überzeugt, dass die Zahl der Menschen, die ihre Heimat in Afrika verlassen, in den nächsten Jahren nicht sinken wird. Zugespitzt formuliert: Selbst wenn es gelingen sollte, die aktuellen Bürgerkriege zu beenden, wird in den nächsten Jahren die Zahl derer, die vor Armut und Klimawandel flüchten, zunehmen. Migration wird daher zukünftig zu einer Normalität. Die entwickelten Industrienationen Europas müssen sich darauf vorbereiten und ihre Integrationsanstrengungen intensivieren, denn ohne eine erfolgreiche Integration sind soziale Spannungen vorprogrammiert. Und vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Alterung in den meisten Ländern Europas ist Zuwanderung auch die einzige realistische Handlungsoption zur Abmilderung der negativen wirtschaftlichen und fiskalischen Folgen dieser Alterung. Notwendig ist zudem eine Migrationssteuerung, die sowohl die Demografiebedarfe der Zuwanderungsländer berücksichtigt als auch die Interessen der Migranten und der Herkunftsländer sowie eine humanitäre Öffnung für Flüchtlinge.

Literatur

Acemoglu, Daron, und James A. Robinson. Warum Nationen scheitern – Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2014.

AKUF (Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg). “2015: Trotz Terroranschlägen kaum Veränderungen im Kriegsgeschehen”. Pressemitteilung vom 4.1.2016. Hamburg 2016.

HIIK (Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung). Conflict Barometer 2015. Heidelberg 2016.

Müller, Bettina et al. “Klimamigration – Definition, Ausmaß und politische Instrumente in der Diskussion”. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Working Paper 45. Nürnberg 2012.

Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft. “Klimaphänomen El Nino dämpfte Schäden aus Naturkatastrophen 2015”. Presseinformation vom 4.1.2016. München 2016.

Population Reference Bureau. The World Population Data Sheet 2015. Washington DC 2015.

Straubhaar, Thomas. “Es kommen Menschen, gebt ihnen Arbeit”. Und das ist erst der Anfang – Deutschland und die Flüchtlinge. Hrsg. Anja Reschke. Hamburg 2016. 236–250.

©KOF ETH Zürich, 10. Mai. 2016

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