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Unsicherheit: Ursache, Wirkung und Krisenpolitik

Summary:
In der Ökonomie ist derzeit viel von Unsicherheit und ihren meist negativen Auswirkungen die Rede. Doch was genau zu dieser Unsicherheit führt, wird dabei oftmals ausser Acht gelassen, wie dieser Beitrag zeigt. "Zu welchem Zins werden Anleihen in zwanzig Jahren gehandelt?", fragte Keynes rhetorisch um gleich darauf die Antwort zu geben: "Wir wissen es einfach nicht." (Keynes 1937, S. 213f) Mit seinem Beispiel wollte Keynes auf die Tatsache hinweisen, dass es eine Form von Unsicherheit gibt, die sich nicht durch nackte Zahlen zähmen lässt. Ökonomen fragen sich heutzutage immer öfter, was die ökonomisch optimale Antwort auf Unsicherheit ist. Gleichzeitig und interessanter Weise wird bislang kaum darüber nachgedacht, was die Ursachen für Unsicherheit sind. Das ist umso erstaunlicher, als dass das Wissen um die Ursachen potentiell wichtige Hinweise für den richtigen Umgang mit ihr geben könnte. Im Folgenden wird argumentiert, dass die Suche sowohl nach Ursache als auch nach Wirkung von Unsicherheit fast zum gleichen Ergebnis führt und vielleicht einen Weg aus der Wachstumskrise weist. In der Ökonomie wird unterschieden zwischen deterministischen und zufälligen Ereignissen. Deterministische Ereignisse lassen sich vollständig auf mechanistische Weise beschreiben.

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In der Ökonomie ist derzeit viel von Unsicherheit und ihren meist negativen Auswirkungen die Rede. Doch was genau zu dieser Unsicherheit führt, wird dabei oftmals ausser Acht gelassen, wie dieser Beitrag zeigt.

"Zu welchem Zins werden Anleihen in zwanzig Jahren gehandelt?", fragte Keynes rhetorisch um gleich darauf die Antwort zu geben: "Wir wissen es einfach nicht." (Keynes 1937, S. 213f) Mit seinem Beispiel wollte Keynes auf die Tatsache hinweisen, dass es eine Form von Unsicherheit gibt, die sich nicht durch nackte Zahlen zähmen lässt. Ökonomen fragen sich heutzutage immer öfter, was die ökonomisch optimale Antwort auf Unsicherheit ist. Gleichzeitig und interessanter Weise wird bislang kaum darüber nachgedacht, was die Ursachen für Unsicherheit sind. Das ist umso erstaunlicher, als dass das Wissen um die Ursachen potentiell wichtige Hinweise für den richtigen Umgang mit ihr geben könnte. Im Folgenden wird argumentiert, dass die Suche sowohl nach Ursache als auch nach Wirkung von Unsicherheit fast zum gleichen Ergebnis führt und vielleicht einen Weg aus der Wachstumskrise weist.

In der Ökonomie wird unterschieden zwischen deterministischen und zufälligen Ereignissen. Deterministische Ereignisse lassen sich vollständig auf mechanistische Weise beschreiben. Zufallsereignisse müssen noch einmal danach unterschieden werden, ob sie durch eine mathematische Wahrscheinlichkeit abgebildet, d.h. zahlenmässig ausgedrückt werden können oder nicht. Ist eine Quantifizierung nur theoretisch, aber nicht praktisch möglich, spricht man von Ambiguität (Knight 1928), andernfalls von Risiko. Risiko ist Gegenstand der Standardkurse in Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie. Wenn aber eine Quantifizierung des Zufalls noch nicht einmal theoretisch möglich ist, handelt es sich um die oben illustrierte Unsicherheit nach Keynes. Diese Form der Unsicherheit dürfte die bei weitem interessanteste sein.

Alles Natürliche ist sicher

Fragen wir also zunächst, was Unsicherheit hervorrufen kann. Die Antwort darauf hat vor mehr als zweihundert Jahren die Aufklärung geliefert. Sie lautet kurz gesagt, nichts, was in der Natur geschieht, ist unsicher. Mit Physik, Chemie und vor allem Mathematik lassen sich praktisch alle natürlichen Phänomene erklären. Das, was vor der Aufklärung als "unsicher" galt, ist seither lediglich Gegenstand unserer Ignoranz. Nicht einmal das Wetter ist nach dieser Ansicht zufällig, sondern lässt sich – wenigstens theoretisch – exakt beschreiben. Dort, wo wie in der Quantenmechanik der Zufall in der Natur eine Rolle spielt, lässt er sich mathematisch und experimentell quantifizieren und damit letztlich beherrschen.

Die Ausnahme von dem "natürlichen Geschehen", das sich nicht mechanistisch beschreiben lässt, bildet zweifelsohne der Mensch. Im Unterschied zu Pflanzen, Wolken, Photonen usw. verfügt der Mensch über ein Bewusstsein, das es ihm erlaubt, Wirkungsketten gezielt zu verändern. Menschliches Handeln besitzt daher sogenannten formativen Charakter. Die Richtung, in die der Mensch in die Kausalketten eingreift, lässt sich dabei jedoch nicht vorab beschreiben. Diese Unmöglichkeit der Quantifizierung resultiert aus der – nach bisherigem Kenntnisstand – faktisch unbegrenzten Fantasie und Kreativität des Menschen, die so unglaubliche Dinge wie Musik, Literatur und das Smartphone hervorgebracht haben.

Ökonomen haben bereits sehr früh auf die formative Macht des Menschen hingewiesen. Erinnert sei an Marx (1848), Knight (1921) und natürlich Schumpeter (1912). Letzterer hat mit dem Begriff der schöpferischen Zerstörung und des Entrepreneurs diesen Aspekt in das Zentrum seiner Analyse gerückt. Unternehmen suchen inzwischen systematisch nach Möglichkeiten für die schöpferische Zerstörung bestehender Strukturen und versuchen dabei wie Entrepreneure zu agieren. Damit lässt sich auf die Frage nach der Ursache für Unsicherheit zusammenfassend antworten, dass das menschliche Handeln; individuell oder im Rahmen von Institutionen wie zum Beispiel Unternehmen und Staaten, Unsicherheit erzeugt.

Unternehmen, insbesondere, schaffen Unsicherheit durch ihr Profitstreben. In aller Regel steigert das den Wohlstand und ist somit normativ erwünscht. Gelegentlich führt dieses Streben aber auch zu tiefen Krisen, wie in den 1930er Jahren und in den Finanzmarktkrisen, die später folgten. Grundsätzlich ist die Erzeugung von Unsicherheit somit ein unverzichtbarer Teil des wirtschaftlichen Fortschritts und zugleich auch des Auftretens von Krisen.

Wie mit Unsicherheit umgehen

Institutionen, d.h. menschengemachte Systeme von Regeln, sind aber auch der Schlüssel zum Verständnis des Umgangs mit Unsicherheit. Bereits in der vormodernen Zeit dienten sie dazu, die Unsicherheit (und Ignoranz) zu bewältigen. Das schliesst den Schamanenkult ebenso mit ein wie das Geld. Letzteres ist auch nichts anderes als eine Institution, die die grundsätzlich mit Unsicherheit behaftete Zeit zwischen Lieferung der eigenen und Empfang der gekauften Ware überbrücken hilft. In modernen Ökonomien dominieren private Unternehmen und staatliche Organisationen als diejenigen Institutionen, die Unsicherheit bewältigen helfen. Unternehmen versuchen etwa, in allen Marktlagen profitabel zu sein und der Staat schafft Zentralbanken für die Geldversorgung und Sozialversicherungen für den Ausgleich von Einkommensschwankungen.

Keynes hat daher dem Staat auch eine bis heute häufig missverstandene Rolle zugedacht. Seiner Ansicht nach sollte der Staat dann massiv in die Wirtschaft eingreifen, wenn Unternehmen aufgrund von Unsicherheit nicht mehr in der Lage sind zu investieren. Darin wurde – zu Unrecht – eine Empfehlung für Konjunktursteuerung gesehen. Konjunkturelle Fluktuationen können aber auch auftreten, wenn Unternehmen ohne die Gegenwart von Unsicherheit ihre Investitionen reduzieren. Verhält sich der Staat in einer solchen Situation so, als ob er Unsicherheit bekämpfen müsste, wird die nun vorhersehbare expansive Fiskalpolitik zum Spielball von Spekulanten mit den bekannten Resultaten: Die Produktion wird nicht nachhaltig gesteigert; stattdessen die Preise erhöht.

Die Situation in Europa

Gegenwärtig stellt sich daraus folgend die Frage, ob die europäische Wachstumsschwäche nicht auch ein Zeichen grosser Unsicherheit ist. Der Preis für Investitionskredite ist faktisch bei null angelangt, doch die Rückkehr auf den alten Wachstumspfad ist nicht in Sicht. Genau diese Situation müsste man erwarten, wenn die Finanzmarktkrise so viel Unsicherheit hervorgerufen hat, dass die Unternehmen als Institutionen nicht allein in der Lage sind, sie zu bewältigen. Die Lösung des Problems könnte in diesem Fall eine andere Institution liefern: der Staat. Die USA haben es mit ihrer expansiven Fiskalpolitik und der Bereinigung des Finanzsektors vorgemacht. Es wäre nun an den europäischen Staaten, Ursache und Wirkung von Unsicherheit in ihrer Krisenpolitik zu berücksichtigen.

Keynes, J. M. The General Theory of Employment, Quarterly Journal of Economics 1936.

Knight, F. H. Risk, Uncertainty, and Profit, Boston, MA 1921.

Marx, K. Das Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848.

Müller, C. Unsicherheit: Ein blinder Fleck der Ökonomie, Ökonomenstimme 2010

Müller, C. The puzzle that just isn't[ a ], arXive.org 2016

Schumpeter, J. Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1912.

©KOF ETH Zürich, 8. Jun. 2016

Christian Müller
Christian Müller berät das Eidgenössische Finanzministerium und ist Privatdozent an der Jacobs University Bremen. Er hat in Deutschland, Grossbritannien und Schweden Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie studiert, an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert und habilitierte sich an der Jacobs University Bremen.

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