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Noch einmal: Mario Draghi und die Geldpolitik

Summary:
In ihrem Beitrag Draghis Weltbild vom Billiggeld kritisierten die Autoren Volker Bieta und Hellmuth Milde die EZB-Geldpolitik. In diesem Beitrag korrigieren sie zwei darin enthaltene Aussagen, eine zur Geldpolitik in der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 und eine zur Klassifikation von Gelpolitik als "kontraktiv" und "expansiv".Die generelle Kritik an der gegenwärtigen EZB-Politik bleibt indes bestehen. Unser Beitrag "Draghis Weltbild vom Billiggeld" vom 12. April 2016 ist in einigen Punkten fehlerhaft. Im vorliegenden Beitrag wird dies korrigiert. Der Hinweis auf die fehlerhaften Stellen kam von Martin Hellwig, Professor am Max-Planck-Institut in Bonn. Er hatte am 28. April 2016 in Zürich einen Vortrag über "Zentralbanken in der Krise" gehalten. Der Vortrag basiert zum Teil auf Überlegungen, die in der Wochenzeitung "Die Zeit" im Juni 2013 publiziert worden waren; eine leicht veränderte Fassung erschien am 20. August 2013 in der "Ökonomenstimme" unter dem Titel Warum die Geldpolitik der EZB (bisher) nicht inflationär ist.

Topics:
Volker Bieta, Hellmuth Milde considers the following as important:

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In ihrem Beitrag Draghis Weltbild vom Billiggeld kritisierten die Autoren Volker Bieta und Hellmuth Milde die EZB-Geldpolitik. In diesem Beitrag korrigieren sie zwei darin enthaltene Aussagen, eine zur Geldpolitik in der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 und eine zur Klassifikation von Gelpolitik als "kontraktiv" und "expansiv".Die generelle Kritik an der gegenwärtigen EZB-Politik bleibt indes bestehen.

Unser Beitrag "Draghis Weltbild vom Billiggeld" vom 12. April 2016 ist in einigen Punkten fehlerhaft. Im vorliegenden Beitrag wird dies korrigiert. Der Hinweis auf die fehlerhaften Stellen kam von Martin Hellwig, Professor am Max-Planck-Institut in Bonn. Er hatte am 28. April 2016 in Zürich einen Vortrag über "Zentralbanken in der Krise" gehalten. Der Vortrag basiert zum Teil auf Überlegungen, die in der Wochenzeitung "Die Zeit" im Juni 2013 publiziert worden waren; eine leicht veränderte Fassung erschien am 20. August 2013 in der "Ökonomenstimme" unter dem Titel Warum die Geldpolitik der EZB (bisher) nicht inflationär ist. Unsere Korrekturen betreffen zwei Punkte: (1) die Aussage, Zentralbanken hätten in der Zeit der Depression 1929-1933 nichts getan, wird korrigiert; (2) die Klassifikation der Geldpolitik als "kontraktiv" oder "expansiv" darf laut Friedman/Schwartz nur auf der Basis der Gesamtgeldmenge erfolgen; unsere Klassifikation anhand der Zentralbankgeldmenge wird korrigiert.

Die Zentralbankgeldmenge Z muss bei der Analyse der Geldpolitik klar und deutlich von der Gesamtgeldmenge M unterschieden werden. Es gelten die folgenden Definitionen: Z = R + C, mit R = Reservehaltung des Bankensektors und C = Bargeldhaltung des Publikums; M = D + C, mit D = Giralgeldbestand beim Publikum und C = Bargeldhaltung des Publikums. Aus M = D + C sowie Z = R + C folgt der Quotient:

(1) M / Z = [D + C] / [R + C].

Wenn man die rechte Seite von (1) im Zähler und im Nenner durch D dividiert, erhält man:

(2) M / Z = [1 + c] / [r + c],

mit c = C / D = Bargeldhaltungskoeffizient des Publikums und r = R / D = Liquiditätskoeffizient des Bankensektors. Definiert man den Geldmengenmultiplikator m durch:

(3) m = [1 + c] / [r + c]

dann erhält man aus (2) die Multiplikatorformel:

(4) M = m * Z.

Der Geldmultiplikator m hängt über die c und r von den Entscheidungen des Publikums und des Bankensektors ab. Daraus folgt zweierlei: (1) Wegen der Flexibilität der Koeffizienten ist m keine konstante Größe. (2) Da m allein von den Entscheidungen im Privatsektor bestimmt wird, ist fraglich, ob die Zentralbank die Kontrolle über M (= m * Z) besitzt.

Die Komponenten der Gesamtgeldmenge M können auch in Änderungsgrößen oder in Wachstumsraten ausgedrückt werden. Aus (4) erhält man:

(5) ΔM = Z * Δm + m * ΔZ,

mit Δ als absoluter Änderungsgröße. Wenn man beide Seiten von (5) durch M = m * Z dividiert, errechnet man relative Änderungen oder Wachstumsraten:

(6) ΔM / M = [Δm / m] + [ΔZ / Z].

Die Wachstumsraten von M und Z können für gegebene Perioden aus statistischen Daten ermittelt werden. Die Zuwachsrate m kann laut (3) aus den Änderungen von c und r errechnet werden. Wir analysieren ein Beispiel aus der Zeit der Depression 1929-1933.

Für genau diese Zeitperiode geben Friedman/Schwartz eine Zuwachsrate für Z von (+15%) an. Im Gegensatz zu unserer Aussage im April-Artikel kann man nicht sagen, in dieser Phase habe die Zentralbank nichts getan. Mit Blick auf die Zuwachsrate von Z (+15%) könnte man behaupten, die Geldpolitik sei expansiv gewesen. Auch diese Aussage ist falsch. Friedman/Schwartz haben immer betont, für die Klassifikation der Geldpolitik sei allein der Blick auf die Gesamtgeldmenge M relevant. Für die Gesamtgeldmenge M errechnen Friedman/Schwartz in der Periode 1929-1933 eine Wachstumsrate von (-33%); die Geldmenge ist in dieser Periode um 33% kleiner geworden. Die Frage lautet: Wie passen die Wachstumsrate für Z von (+15%) und die Wachstumsrate für M von (-33%) zusammen? Zur Beantwortung der Frage müssen wir die Wachstumsrate von m näher betrachten.

Banken und Publikum hatten während der Zeit der Depression ihr Verhalten massiv verändert. Auf Bankeninsolvenzen reagierte das Publikum landesweit mit der Auflösung von Girokonten und der Erhöhung der Bargeldhaltung. Bei den Banken galt, dass sie sich untereinander nicht mehr vertrauten, was die Funktionsunfähigkeit des Interbankenmarktes zur Folge hatte; die Konsequenz daraus war eine massive Erhöhung der bankbetrieblichen Reservehaltung. Beide Verhaltensänderungen führen in der Multiplikatorformel (3) zu einem starken Anstieg der Koeffizienten c und r. Im folgenden Rechenbeispiel stützen wir uns auf gerundete Zahlen aus dem Lehrbuch "Macroeconomics" von Dornbusch und Fisher. Am Jahresende 1929 hatten c und r folgende Werte: c = 20% und r = 10%. Nach (3) erhält man für m = 1.2/0.3 = 4.0. Während der Jahre der Depression erhöhten sich die Koeffizienten auf c = 40% und r = 30% . Dies führt zu m = 1.4/0.7 = 2.0. Der Vergleich der beiden Werte von m zeigt eine Reduktion von 4.0 auf 2.0. Damit erhält man für m eine Wachstumsrate von (-50%).

Werden die Wachstumsraten in (6) eingesetzt, erhält man (-50%) + (+15%) = (-35%). In unserer Beispielrechnung sinkt die Gesamtgeldmenge M um 35%. Wie oben gesagt wurde, ermittelten Friedman/Schwartz für die Wachstumsrate von M den Wert (-33%). Die Differenz resultiert aus der Tatsache, dass wir für unser Rechenbeispiel "runde" Zahlen gewählt hatten.

Das Ergebnis ist klar: Trotz der Erhöhung von Z um (+15%) durch die Zentralbank kam es zu einer Reduktion der Gesamtgeldmenge M von 33%. Der Grund dafür waren die massiven Verhaltensänderungen im Privatsektor. Die daraus folgende Änderung des Multiplikators war betragsmäßig größer als die gegenläufige Auswirkung der Zentralbankpolitik. Der Weg in die große Depression konnte von der Zentralbank also nicht gestoppt werden. Man fragt sich natürlich sofort, warum die Zentralbank damals nicht stärker eingegriffen hat. Mit einem Wachstum von Z in der Höhe von (+50%) hätte man die Gesamtgeldmenge M stabil halten können. Aus heutiger Sicht ist es sehr einfach, die richtige Lösung zu finden. In der damaligen Situation hatten die Entscheidungsträger weder den Theoriehintergrund, noch verfügten sie über korrekte statistische Daten. Die damalige Fehlentscheidung der Zentralbank ist daher nicht überraschend.

Heute, gut 80 Jahre später, ist man bei der Lösung der Probleme schlauer. Der ehemalige Fed-Chef Ben Bernanke kannte in den Jahren 2007/08 die theoretischen Zusammenhänge und die aktuellen statistischen Daten. Ihm war klar, wie der Privatsektor in der Krise reagieren würde. Er konnte sich die notwendige Dosierung der Zuwachsrate von Z recht genau ausrechnen. Ähnlich war die Situation für den damaligen EZB-Chef Claude Trichet in der Eurozone. Im Euro-Raum gelten nach Hellwig für die Fünfjahresperiode 2008-2013 die folgenden Daten: Zuwachsrate für Z = +100%; Zuwachsrate für die Gesamtgeldmenge M = +10% . Dabei arbeitet Hellwig im Gegensatz zu Friedman/Schwartz bei der Gesamtgeldmenge nicht mit M1, sondern mit M3. Der Unterschied besteht darin, dass in M3 neben Bargeld und Sichteinlagen des Publikums auch die Termin- und Spareinlagen des Publikums hinzugerechnet werden. In einer Krise gibt es bei Termin- und Spareinlagen ebenfalls Verhaltensänderungen; diese schlagen sich dann in der Änderung der modifizierten Multiplikatorformel nieder. Als Ergebnis erhält man eine wesentlich stärkere Reduktion des Multiplikators als die oben berechneten (-50%); man erhält Werte von (-80%) bis (-90%). Bei einem Zuwachs von Z um (+100%) kann der Zuwachs von M3 um (+10%) dann auch modellmäßig erklärt werden.

Wie soll die Geldpolitik in der Anfangsphase der Sub-Prime-Krise klassifiziert werden? War sie expansiv? War sie kontraktiv? Bei der Zuwachsrate von M3 für die fünf Jahre von 2008 bis 2013 in Höhe von (+10%) errechnet man eine jährliche Zuwachsrate von rund (+2%). Dieser Wert kann wirklich nicht als "extrem expansiv" bezeichnet werden. Insofern gilt, was wir bereits in unserem Beitrag von April geschrieben hatten: Die Zentalbanker haben in der Anfangsphase der Sub-Prime-Krise die richtige Dosierung gewählt.

Wenn wir heute dennoch die Draghi-Entscheidung vom 10. März 2016 kritisieren, so liegt das nicht an der Geldpolitik der Vergangenheit; es liegt vielmehr an der höchst gefährlichen Geldpolitik der Zukunft. Es soll noch einmal betont werden, dass die bisherige Geldpolitik notwendig und alternativlos war. Unser Zweifel am Sinn der künftigen Zentralbankpolitik basiert auf der Tatsache, dass das beobachtbare EZB-Management der Zinswende unkalkulierbare Risiken produziert. Wenn sich die Situation im Euro-Raum normalisiert haben wird, werden die Verhaltenskoeffizienten von Publikum und Banken zu den alten Werten zurückfinden. Dann wird auch der Geldmengenmultiplikator wieder auf den Anfangswert von ca. 4.0 ansteigen. Ohne eine Reduktion der Zuwachsrate von Z wird es aber zu einem unerwünscht hohen Geldmengenzuwachs kommen. Um dieses Ergebnis zu verhindern, muss die Zuwachsrate von Z massiv reduziert werden. Das ist im Prinzip das Problem der Zinswende.

Die kontroversen Diskussionen dazu beobachtet man schon heute in den USA. Die eine Gruppe behauptet, der richtige Zeitpunkt für die Zinswende sei genau jetzt gekommen; die Gegner bestreiten diese Behauptung sehr massiv. Die verschiedenen Positionen werden nicht nur von Geldpolitikern verkündet; geldpolitikferne Parteipolitiker oder Interessenvertreter melden sich lautstark zu Wort. Die Gegenargumente laufen immer in die gleiche Richtung: Die Zinswende und der Abbau der Zentralbankgeldmenge müssen verzögert, verschoben oder sogar verhindert werden.

Eine mutige Gegnerin dieser Parolen ist die Fed-Chefin Janet Yellen. Im Dezember 2015 hatte sie zum ersten Mal seit fast 10 Jahren eine Zinserhöhung durchgesetzt. Für die EZB wäre es eine einmalige Chance gewesen, sich diesem Schritt anzuschließen und die Zinswende im Euro-Raum einzuleiten. Diese Chance wurde leider verpasst. Mario Draghi legte sich auf das Gegenteil einer vernünftigen Geldpolitik fest: Er reduzierte den Leitzins auf null und erhöhte die Zuwachsrate von Z. Unser Urteil zu diesem Schritt lautet: Das kann nicht gut gehen; die nächste Krise kommt bestimmt.

©KOF ETH Zürich, 15. Jun. 2016

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