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Wann funktionieren Reformen?

Summary:
Der Reformbedarf in Europa ist groß: es herrschen Ungleichgewichte, die Wirtschaft wächst nicht, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Reformstrategien wie die Lissabon-Agenda und nun Europa 2020 scheitern in der Umsetzung. Im Projekt WWWforEurope[ a ] entwerfen 34 europäische Forschungsteams eine neue Reformagenda und untersuchen, unter welchen Voraussetzungen Reformen erfolgreich umgesetzt werden und wie Reformwiderstände vermindert werden können. Dieser Beitrag fasst die zehn wichtigsten empirischen Erfahrungen zusammen. Europa und die europäischen Länder brauchen dringend Reformen. Bisher mangelte es nicht an Zukunftsstrategien, sondern an deren Umsetzung. Die "Lissabon-Strategie" wollte Europa zum wettbewerbsstärksten Wirtschaftsraum machen und die Eurosklerose überwinden; die Europa 2020 Strategie will ein smartes, inklusives und nachhaltiges Wachstum, indem sie national differenzierte Ziele erlaubt und die Verantwortung der Mitgliedsländer betont ("ownership"). Dennoch ist die Wirtschaftsleistung Europas 2016 kaum höher als vor der Krise, die Arbeitslosigkeit zweistellig und die Erfolge der Klimastrategie reichen nicht annähernd aus, um der EU Energy Roadmap oder den Zielsetzungen der Pariser Konferenz von 2015 zu entsprechen.

Topics:
Karl Aiginger, Teresa Bauer considers the following as important:

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Der Reformbedarf in Europa ist groß: es herrschen Ungleichgewichte, die Wirtschaft wächst nicht, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Reformstrategien wie die Lissabon-Agenda und nun Europa 2020 scheitern in der Umsetzung. Im Projekt WWWforEurope[ a ] entwerfen 34 europäische Forschungsteams eine neue Reformagenda und untersuchen, unter welchen Voraussetzungen Reformen erfolgreich umgesetzt werden und wie Reformwiderstände vermindert werden können. Dieser Beitrag fasst die zehn wichtigsten empirischen Erfahrungen zusammen.

Europa und die europäischen Länder brauchen dringend Reformen. Bisher mangelte es nicht an Zukunftsstrategien, sondern an deren Umsetzung. Die "Lissabon-Strategie" wollte Europa zum wettbewerbsstärksten Wirtschaftsraum machen und die Eurosklerose überwinden; die Europa 2020 Strategie will ein smartes, inklusives und nachhaltiges Wachstum, indem sie national differenzierte Ziele erlaubt und die Verantwortung der Mitgliedsländer betont ("ownership"). Dennoch ist die Wirtschaftsleistung Europas 2016 kaum höher als vor der Krise, die Arbeitslosigkeit zweistellig und die Erfolge der Klimastrategie reichen nicht annähernd aus, um der EU Energy Roadmap oder den Zielsetzungen der Pariser Konferenz von 2015 zu entsprechen.

Das Projekt WWWforEurope, in dem 34 Forschungsteams unter der Leitung des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung eine Strategie für eine sozial-ökologische Transformation in einem dynamischen Europa entwickelten, untersuchte, unter welchen Bedingungen in der Vergangenheit Reformen erfolgreich waren bzw. was ihren Erfolg behinderte (Bayer, 2015; Fischer-Kowalski 2011; Fischer-Kowalski – Hausknost; 2014, Pitlik et al., 2014).

Erfolgsfaktor 1: Integrierter Ansatz statt Silopolitiken

Viele Reformprogramme – so auch Europa 2020 – haben die einzelnen Ziele zu isoliert betrachtet. Verschiedene Ziele können nur dann gleichzeitig erreicht werden, wenn sie auch simultan verfolgt werden. Will man Nachhaltigkeit durch eine hohe Besteuerung von Energie und Emissionen erreichen, wehrt sich die Industrie mit Erfolg und auch die Gewerkschaften sind dagegen, da niedrige Einkommen von einer Energiesteuer überproportional belastet werden. Senkt man jedoch gleichzeitig die Lohnsteuer (besonders die Abgaben für Niedrigeinkommen) und erhöht die Forschungsförderung und forciert die Verfügbarkeit von hochqualifizierten Fachkräften, so nimmt weder die Lohnspreizung noch steigen die Kosten der industriellen Produktion. Die Industrie gewinnt stattdessen bei den Faktoren, die für die Wettbewerbsfähigkeit in Industrieländern wichtig ist. Keine Gruppe hat nun einen Grund, gegen die Reform zu lobbyieren. Die drei Ziele einer Reform, wie höhere Dynamik für Europa und gleichzeitig weniger Ungleichheit und absolut sinkende Emissionen müssen in einem integrierten Ansatz verfolgt werden - nicht in Silosstrategien (Aiginger, 2016).

Erfolgsfaktoren 2 und 3: Fairness und Vertrauen

Die Verteilung der Lasten und Gewinne einer Reform müssen als fair betrachtet werden. Fehlende Fairness und mangelndes Vertrauen in die Politik verhindern die Implementierung von Reformen. Kann der Politik die Vertretung von Partikularinteressen vorgeworfen werden, tritt Reformwiderstand auf. Dass Fairness und Vertrauen Grundpfeiler großer Reformen sind, wurde in den skandinavischen Ländern gezeigt, wo das Vertrauen in die Politik tendenziell groß ist und daher komplexe Reformen in den neunziger Jahren durchsetzbar waren. (Andreasson et al., 2013; Heinemann–Grigoriadis, 2013; Pitlik–Kouba, 2013). Reformwiderstand kann auch gemildert werden, indem Reformen bereits "erworbene Rechte" teilweise mitberücksichtigen – etwa durch Übergangsregelungen ("grandfahtering of reforms") oder eine schrittweise Einführung von radikaleren Änderungen bei einer allerdings klar definierten und stringent verfolgten Strategie. Faire Reformen bringen oft nicht die radikale Erreichung eines einzelnen Zieles, sondern sind das Ergebnis eines Kompromisses zwischen mehreren Zielen. Sie sehen oft nicht elegant aus, weil die Ziele sich teilweise von Anfang an widersprechen und erst durch eine komplexere Instrumentenwahl Synergien entstehen. Jedoch sind faire Kompromisslösungen erfolgreicher als der Versuch, ein Ziel auf Kosten anderer durchzusetzen (Bayer, 2015).

Erfolgsfaktoren 4 und 5: Bündelung und Kompensation

Damit auch die Verlierer einer Reform für deren Durchführung gewonnen werden können, sollten Nachteile für stark betroffene Gruppen teilweise – jedoch nicht ganz – kompensiert werden. Eine vollständige Kompensation verhindert die von der Reform gewünschten Verhaltensänderungen. Kompensationen lassen sich auch durch die Bündelung von Reformen bewerkstelligen, indem die Benachteiligten einer Reform die Begünstigten einer anderen sind. Ein Bespiel für eine Bündelung wäre die gleichzeitige Einführung einer Pensions- und Gesundheitsreform. Gruppen, die bei der Pensionsreform mehr zahlen müssen bzw. eine niedrigere Pension bekommen, können in einer Gesundheitsreform finanziell entlastet werden und durch stärkere Prävention kann die gesunde Lebenserwartung gesteigert werden (Pitlik et al., 2014).

Erfolgsfaktoren 6 und 7: Einbindung von Reformpartnern und neuen Akteuren

Die Geschichte zeigt, dass Reformen gegen den Widerstand von einflussreichen Interessensgruppen wie Industrie, Sozialpartnern, Pensionistenverbänden oder Ärzte nicht durchgeführt werden können. Die Politik muss – gestützt auf Experten – die Ziele der Reform vorgeben. Bei dem Weg der Implementierung muss eine Strategie gewählt werden, die den Widerstand der betroffenen Gruppen mildert. Eine neue Industriepolitik, die auch gesellschaftliche Ziele mitberücksichtigt und die Definition von Wettbewerbsfähigkeit als die Erreichung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ziele ("high road strategy" statt reiner Kostensenkungsstrategie), muss auch wirtschaftlich wichtige Gruppen überzeugen (Schweickert et al., 2013).

Besonders wichtig ist es, die Jugend, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Migranten zum Mitwirken an Reformen zu bewegen. Denn die Geschichte zeigt, dass die tiefgreifendsten Reformprozesse ("transitions") immer neue Akteure hervorgebracht haben und von diesen gestützt worden sind (Sauer et al., 2015; Fischer–Kowalski, 2011; Polyani, 1944; Ostrom, 2010A und 2010B).

Erfolgsfaktoren 8 und 9: Kommunikation und Konsistenz

Die Reformnotwendigkeit und die Reformziele müssen gut kommuniziert werden, damit Einwände in Relation zum Gesamtvorhaben gesehen werden und Reformen nicht an vordergründigen kurzfristigen Kosten gemessen werden. Insbesondere muss verstanden werden, welche Nachteile eintreten, wenn Reformen unterbleiben (Bayer, 2015).

Sind die Reformziele bekannt und die Strategie sichtbar, ist es wichtig, die Reform konsistent durchzuführen und nicht durch wechselnde Prioritäten und Rahmenbedingungen zu entwerten. Wenn der Ausstieg aus fossiler Energie geplant ist, darf der Preis von Benzin und Diesel nie vorübergehend niedrig sein. Wohnbau darf nie unter dem Aspekt niedriger Errichtungskosten stattfinden, sondern es sollten immer die Kosten für die vollen Bestandsdauer der neuen Infrastruktur berechnet werden, und unter den Zielen von Paris 2015 muss die Entkarbonisierung in allen Entscheidungen ihren Niederschlag finden. Wenn Diesel im Straßentest nie die vorgeschriebenen Grenzwerte für Stickoxide erreichen kann, so kann eine Verbesserung der Software auch nicht helfen und die Grenzwerte dürfen nicht erhöht werden, sondern der Umstieg auf alternative Technologien muss forciert werden.

Erfolgsfaktor 10: Überprüfbarkeit durch Indikatoren

Indikatoren für die Zielerreichung müssen definiert werden. Der Umstieg vom Bruttonationalprodukt als Erfolgskriterium einer Wirtschaft zur Lebensqualität erfordert neue Indikatoren. Sie sind etwa durch die Beyond GDP Indikatoren der OECD oder der EU verfügbar (OECD, 2015). Da viele Indikatoren für Lebensqualität erst mit Zeitverzögerung vorliegen, müssen sie durch Prognosetechniken zeitnah verfügbar gemacht werden. Wenn es zum Beispiel schwer ist, die Gesamtemissionen für das laufende oder vergangene Jahr zu erfassen, müssen sie mit dem monatlichen Energieverbrauch und den gefahrenen Straßenkilometern angenähert werden. "Nowcasting" ist heute für die Erstellung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung etabliert, es müsste auch für die Überprüfung der Ziele einer großen Reform eingesetzt werden.

Zusammenfassend gibt es eine umfangreiche ökonomische Literatur über erfolgreiche Reformen. Sie wird im Projekt WWWforEurope von einem interdisziplinären Team erweitert und verdichtet. Die Projektergebnisse wurden am 25. Februar der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament präsentiert. Eine Strategie ist aber nur so gut wie ihre Umsetzung. Die Wahrscheinlichkeit des Erfolges der im Projekt WWWforEurope konzipierten Strategie, im Gegensatz zur Lissabon-Strategie und Europa 2020, liegt an der konsequenten Berücksichtigung der Determinanten für die Umsetzung erfolgreicher Reformen.

Aiginger, K., New Dynamics for Europe: Reaping the Benefits of Socio-ecological Transition[ b ], Synthesis Report Part I, WWWforEurope, Deliverable, Issue 11, February 2016.

Bayer, K., Institutional Set-up and Conflict Resolution. Implementation of the WWWforEurope Transition Strategy[ c ], WWWforEurope Working Paper, 2015, (99).

Fischer-Kowalski, M., "Analyzing sustainability transitions as a shift between soci-metabolic regimes[ d ]", Environmental Innovation and Societal Transitions, 2011, 1(1), pp. 152-159.

Fischer-Kowalski, M., Hausknost, D., Large scale societal transitions in the past[ e ], WWWforEurope Working Paper, 2014, (55).

Pitlik, H., Heinemann, F., Schweickert, R., Overcoming reform resistance and political implementation of large-scale welfare state reforms[ f ], WWWforEurope Policy Brief, 2014, (3)

Andréasson, H., Elert, N., Karlson, N., Does Social Cohesion Really Promote Reforms?[ g ], WWWforEurope Working Paper, 2013, (33).

Heinemann, F., Grigoriadis, T., Origins of Reform Resistance and the Southern European Regime[ h ], WWWforEurope Working Paper, 2013, (20). [ h ]

Pitlik, H., Kouba, L., The interrelation of informal institutions and governance quality in shaping Welfare State attitudes[ i ], WWWforEurope Working Paper, 2013, (38).

Ostrom, E. (2010A), "Beyond Markets and States: Polycentric Governance of Complex Economic Systems", American Economic Review, 2010, 100(3), pp. 641-672.

Ostrom, E. (2010B), "Polycentric Systems for Coping with Collective Action and Global Environmental Change", Global Environmental Change, 2010, 20(4), pp. 550-557.

Sauer, Th., Barnebeck, St., Kalff, Y., Schicklinski, J. (2015B), The Role of Cities in the Socio-Ecological Transition of Europe (ROCSET)[ j ], WWWforEurope Working Paper, 2015, (93). 

©KOF ETH Zürich, 21. Mär. 2016

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