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Zur Ethik von Nudges

Summary:
Nudges, die "sanften Stupser", haben in den letzten Jahren vor allem in der angelsächsischen Regulierungspolitik grosse Popularität erlangt. Seit vergangenem Jahr gibt es auch im Bundeskanzleramt ein "Nudging-Büro". Dieser Beitrag zeigt, wie sich "Nudges" aus wirtschaftsethischer Perspektive beurteilen lassen. Angenommen, in einem bestimmten Land werden sogenannte "Nudges" implementiert. Sie erinnern sich, das sind jene vermeintlich "sanften Stupser", die das Verhalten von realen Menschen – nicht aber das von Homines Oeconomici – beeinflussen, ohne Zwang auszuüben oder materielle Anreizstrukturen spürbar zu ändern. Die nominelle Freiheit bleibt gewahrt. Nudges erreichen dieses Kunststück, indem sie bewusst kognitive Biases ausnutzen (oder auf solche reagieren), die uns Sterbliche nun einmal auszeichnen, ob es uns bewusst ist oder nicht (Hansen 2015). Beispiele für "Nudges" sind das Rearrangement von Produkten zugunsten angeblich "gesunder" Speisen in der Mensa oder die Änderung der Standardeinstellung z.B. bei betrieblichen Rentensparplänen. Es geht stets um das (Re-)Design der uns umgebenden Entscheidungsarchitektur. Nudges begegnen uns bislang v.a. als Kerninstrument des "Libertären Paternalismus" (Thaler/Sunstein 2008). Sie sind aber auch nicht-paternalistisch einsetzbar, etwa um Konsumenten zu umweltfreundlicheren Entscheidungen, d.h.

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Nudges, die "sanften Stupser", haben in den letzten Jahren vor allem in der angelsächsischen Regulierungspolitik grosse Popularität erlangt. Seit vergangenem Jahr gibt es auch im Bundeskanzleramt ein "Nudging-Büro". Dieser Beitrag zeigt, wie sich "Nudges" aus wirtschaftsethischer Perspektive beurteilen lassen.

Angenommen, in einem bestimmten Land werden sogenannte "Nudges" implementiert. Sie erinnern sich, das sind jene vermeintlich "sanften Stupser", die das Verhalten von realen Menschen – nicht aber das von Homines Oeconomici – beeinflussen, ohne Zwang auszuüben oder materielle Anreizstrukturen spürbar zu ändern. Die nominelle Freiheit bleibt gewahrt. Nudges erreichen dieses Kunststück, indem sie bewusst kognitive Biases ausnutzen (oder auf solche reagieren), die uns Sterbliche nun einmal auszeichnen, ob es uns bewusst ist oder nicht (Hansen 2015). Beispiele für "Nudges" sind das Rearrangement von Produkten zugunsten angeblich "gesunder" Speisen in der Mensa oder die Änderung der Standardeinstellung z.B. bei betrieblichen Rentensparplänen. Es geht stets um das (Re-)Design der uns umgebenden Entscheidungsarchitektur.

Nudges begegnen uns bislang v.a. als Kerninstrument des "Libertären Paternalismus" (Thaler/Sunstein 2008). Sie sind aber auch nicht-paternalistisch einsetzbar, etwa um Konsumenten zu umweltfreundlicheren Entscheidungen, d.h. letztlich zu Beiträgen für Kollektivgüter zu verleiten (Sunstein/Reisch 2013). Nudges sollen laut ihren Verfechtern "transparent" sein, etwa so, dass ein aufmerksames Individuum sie leicht erkennen kann (das disqualifiziert z.B. "subliminal advertising"). Auch in diesem Sinne transparente Nudges können durchaus Wirksamkeit entfalten (Loewenstein et al. 2014).

Wie lassen sich Nudges wirtschaftsethisch beurteilen?

In der angelsächsischen Regulierungspolitik sind diese Instrumente der letzte Schrei, und bekanntlich gibt es seit vergangenem Jahr auch ein Büro im Bundeskanzleramt, das sich mit ihnen befasst. Ich werde mich hier weder mit der Frage beschäftigen, ob Nudges grundsätzlich zu empfehlen oder zu verdammen sind (kompromisslose Verdammnis ist heutzutage selbstverständlich für jeden streitbaren Ordnungsökonomen, wie Sie in den Kommentaren vermutlich bald sehen können); noch beschäftigt mich das spannende, aber nach wie vor kaum erforschte Thema der politischen Ökonomie von Nudging (Schnellenbach 2012) bzw. die naheliegende Frage nach der Rationalität der Politiker und Bürokraten selbst (Schnellenbach/Schubert 2015). Was mich stattdessen umtreibt sind einige m.E. bislang vernachlässigte Aspekte der wirtschaftsethischen Bewertung von Nudges. Welche konkreten Politikimplikationen sich daraus ergeben ist ohnehin noch weithin unklar. Die Komplexität dieser Frage wird von Anhängern und Gegnern des "Libertären Paternalismus" regelmäßig unterschätzt.

Angenommen also, Nudges werden in Land X implementiert. Wie gelangen wir zu einer adäquaten wirtschaftsethischen Bewertung? Zunächst stellt sich (a) die Frage nach den Wohlfahrtseffekten, und schon hier geraten wir in Untiefen. Offenbar wirken Nudges ja v.a. dann, wenn Individuen unvollständige oder inkonsistente Präferenzordnungen haben – dann aber ist der wohlvertraute ökonomische Ansatz, Wohlfahrt als Grad der Befriedigung gegebener konsistenter Präferenzen zu verstehen, nicht mehr kohärent anwendbar. Wir brauchen alternative Maßstäbe individueller "Besserstellung", die durchaus auch z.B. Freiheitsaspekte herausstellen können (vgl. z.B. Sugden 2008; zur Kritik Schubert 2015a). Solange diese Probleme ungeklärt sind, läßt sich Frage (a) kaum sinnvoll beantworten.

Kommen wir zur vieldiskutierten Frage (b): Beeinträchtigen Nudges die Autonomie der betroffenen Individuen? Die meisten Kritiker sind sich einig: Nudges wirkten "manipulativ" und versagten den Adressaten insofern den gebührenden Respekt – sie "verzerrten" die Präferenzbildung der Individuen (z.B. Bovens 2009, Hausman/Welch 2010, Wight 2013). Ein genauerer Blick auf die hier verwandten Argumentationsmuster macht indes stutzig: Oft wird Autonomie mit quasi übermenschlicher Rationalität (in Gestalt vollständiger "Kontrolle" über die eigenen präferenzbildenden psychischen Elemente) gleichgesetzt, was in der realen Welt, in der wir leben und in der Nudges potentiell wirken, nicht angemessen ist. Und verlieren wir, wenn wir irrational, habituell oder gedankenlos handeln, tatsächlich unsere "Autonomie" (Buss 2012)? Zudem muss der Einwand erlaubt sein, dass wir alle tagtäglich ohnehin "genudgt" werden, nur eben meistens durch private kommerzielle Anbieter auf mehr oder weniger wettbewerblich verfassten Märkten. Ohne dies abschließend bewerten zu wollen: Es sollte deutlich geworden sein, dass der Kritiker, der sich auf die Autonomiekosten des Nudging kapriziert, eine Menge schwieriger konzeptioneller Fragen beantworten muss.

Damit zu Frage (c): Könnte es sein, dass Nudges weniger die "Autonomie" der adressierten Individuen, als vielmehr deren Charakter- bzw. Identitätsbildung (oder Integrität) beeinträchtigten (Schubert 2015b)? Buchanan (1999) ist meines Wissens nach der einzige nennenswerte Ökonom, der in Erwägung gezogen hat, dass reale Menschen nicht nur keine von Geburt an "gegebenen" Präferenzen (= Identität) haben, sondern ihre Identität im Laufe ihres Lebens selbst kreieren (müssen). Wie Korsgaard (2009) zeigt, bedarf es dazu aktiven Handelns. Genau dieses zur "Selbstkonstituierung" notwendige aktive Handeln wird aber durch Nudges potentiell decouragiert. Das gilt zunächst für staatliches wie auch für privates Nudging: Es schafft potentiell "exzessive Bequemlichkeit". Hat sich nicht bereits jemand um die Voreinstellung bei Sparplänen gekümmert? Gibt es nicht diese "Cooling-off"-Zeiten bei Haustürgeschäften? Muss ich in der Mensa keine Willenskraft mehr aufwenden, um den Schokoriegeln zu entsagen? Dann kann ich selbst beruhigt auf Autopilot umschalten und mich der Fürsorge derjenigen anvertrauen, die sich irgendwo hinter den Kulissen um das Design der Entscheidungs­architektur kümmern. Diese Form von Moral Hazard ist in der Literatur vereinzelt als Risiko der fortschreitenden "Infantilisierung" bezeichnet worden (Bovens 2009, Binder 2014), und es ist genau dieses Risiko, um das sich die Debatte um Nudges – und übrigens "behavioral policies" insgesamt – drehen sollte, nicht Gedankenspiele um Begriffe wie "Autonomie" oder "Manipulation".

Abschließend einige tentative Gedanken zu möglichen Implikationen einer solchen Perspektivenverschiebung (wohlgemerkt, dies richtet sich an die Bürger als Souveräne einer konstitutionellen Demokratie, nicht an Technokraten in den Ministerien): Wenn reale Individuen über beschränkte mentale Ressourcen verfügen – d.h. beschränkte kognitive Ressourcen, Aufmerksamkeit und Willenskraft –, ist es dann nicht so, dass sie, um überhaupt handeln und sich selbst als Agenten konstituieren zu können, zumindest stellenweise bestimmter (in einer imperfekten Welt auch staatlicher) Nudges bedürfen? Wenn dem so ist, dann stehen wir vor einem Trade-off zwischen "zu wenig" und "zu viel" staatlichem Nudging bzw. zu geringer und exzessiver Bequemlichkeit.

Wäre es denkbar, dass letzteres v.a. dann riskant ist, wenn die Präferenzen heterogen sind, wenn es also (1.) um paternalistisches Nudging geht, welches (2) über einen eng umgrenzten Bereich basaler "Primärgüter" (Rawls) hinausgeht? Damit wäre z.B. Hilfe bei der Sicherung einer betrieblichen Basisrentenversorgung akzeptabel, das Redesign von Voreinstellungen bezüglich der Bereitschaft, post mortem Organe zu spenden, jedoch nicht. Und auch in der Mensa sollte man darauf verzichten, den Salat in einem günstigeren Licht als die Schokoriegel zu plazieren. Ökonomische Politikberatung sollte sich davor hüten, vorschnell normative Urteile zu treffen – sie kann die hier offenkundig notwendigen Abgrenzungen letztlich nur im ethisch informierten Dialog mit den souveränen Stimmbürgern vornehmen (Kirchgässner 2015, Schubert 2014).

Akerlof, G.A. and R.J. Shiller. 2015. Phishing for phools: The economics of manipulation and deception. Princeton: Princeton University Press.

Binder, M. 2014. Should evolutionary economists embrace libertarian paternalism? Journal of Evolutionary Economics 24: 515-539.

Bovens, L. 2009. The ethics of nudge. In Preference change: Approaches from philosophy, economics and psychology, ed. T. Grüne-Yanoff and S.O. Hansson, 207-220. Berlin: Springer.

Buchanan, J.M. 1999. Natural and artifactual man. In his The logical foundations of constitutional liberty, Vol. I, ed. 246-259. Indianapolis: Liberty Fund.

Buss, S. 2012. Autonomous action: Self-determination in the passive mode. Ethics 122: 647-691.

Hansen, P.G. 2015. The definition of nudge and libertarian paternalism – does the hand fit the glove? European Journal of Risk Regulation, forthcoming.

Hausman, D.M. and B. Welsh. 2010. Debate: to nudge or not to nudge? Journal of Political Philosophy 18: 123-136.

Kirchgässner, G. 2015. Soft paternalism, merit goods, and normative individualism. European Journal of Law and Economics, im Erscheinen.

Korsgaard, C.M. 2009. Self-Constitution – Agency, Identity, and Integrity. Oxford: Oxford University Press.

Loewenstein, G., C. Bryce, D. Hagmann, and S. Rajpal. 2014. You are about to be nudged. Working Paper, ssrn.com/abstract=2417383

Schnellenbach, J. 2012. Nudges and norms: The political economy of libertarian paternalism. European Journal of Political Economy 28: 266-277.

Schnellenbach, J., and C. Schubert. 2015. Behavioral Political Economy: A Survey. European Journal of Political Economy, im Erscheinen.

Schubert, C. 2014. Evolutionary economics and the case for a constitutional libertarian paternalism. Journal of Evolutionary Economics 24: 1107-1113.

Schubert, C. 2015a. Opportunity and preference learning. Economics and Philosophy, 31: 275-295.

Schubert, C. 2015b. On the ethics of public nudging: Autonomy and agency. Working paper, verfügbar auf: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2672970

Sugden, R. 2008. Why incoherent preferences do not justify paternalism. Constitutional Political Economy 19: 226-248.

Sunstein, C.R., Reisch, L.A. 2013. Green by default. Kyklos 66: 398-402.

Thaler, R.H. and C.R. Sunstein. 2008. Nudge: Improving decisions about health, wealth and happiness. New Haven: Yale University Press.

White, M.D. 2013. The manipulation of choice: ethics and libertarian paternalism. New York: Palgrave.

©KOF ETH Zürich, 11. Dez. 2015

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Christian Schubert
Christian Schubert ist Gastprofessor für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Kassel. Er hat u.a. in Economics and Philosophy, dem European Journal of Political Economy, Kyklos und dem Journal of Evolutionary Economics veröffentlicht.

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