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Erstaunlich: Das Sorgentelefon läuft im Lockdown nicht heiss

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Marius Brülhart und Rafael Lalive Einsamkeit, Stress, Alkoholmissbrauch, Depressionen, häusliche Gewalt: diese und andere psycho-soziale Nebenwirkungen haben auch wir vom Lockdown erwartet. Wir malten uns nach dem bundesrätlichen Lockdown Beschluss vom 13. März 2020 aus, solche Probleme könnten sich ähnlich wie das Virus über die Zeit exponentiell verschärfen, wenn sich Frustration, Ängste und Spannungen nach und nach kumulieren. Um diese naheliegenden Vermutungen mit einer gewissen Wissenschaftlichkeit zu prüfen, haben wir die Zahl der Anrufe ans Schweizer Sorgentelefon Die Dargebotene Hand (Tel. 143) aus neun Kantonen bis und mit 23. April ausgewertet. Unsere Ergebnisse sind in einer kurzen Studie zusammengefasst. Die wichtigsten Befunde vorweg: Eine überdurchschnittliche

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Einsamkeit, Stress, Alkoholmissbrauch, Depressionen, häusliche Gewalt: diese und andere psycho-soziale Nebenwirkungen haben auch wir vom Lockdown erwartet. Wir malten uns nach dem bundesrätlichen Lockdown Beschluss vom 13. März 2020 aus, solche Probleme könnten sich ähnlich wie das Virus über die Zeit exponentiell verschärfen, wenn sich Frustration, Ängste und Spannungen nach und nach kumulieren.

Um diese naheliegenden Vermutungen mit einer gewissen Wissenschaftlichkeit zu prüfen, haben wir die Zahl der Anrufe ans Schweizer Sorgentelefon Die Dargebotene Hand (Tel. 143) aus neun Kantonen bis und mit 23. April ausgewertet. Unsere Ergebnisse sind in einer kurzen Studie zusammengefasst.

Die wichtigsten Befunde vorweg: Eine überdurchschnittliche Beanspruchung des Sorgentelefons in der Coronakrise ist bislang nicht auszumachen. Der Anstieg der Anrufe von etwas mehr als 5% gegenüber März-April 2019 (s. Abbildung 1) entspricht ziemlich genau dem durchschnittlichen Anstieg der letzten Jahre. Auch ist keine ausserordentliche – geschweige denn exponentielle – Zunahme seit dem 13. März erkennbar.

Erstaunlich: Das Sorgentelefon läuft im Lockdown nicht heiss

Abbildung 1

Überdurchschnittlich angestiegen ist der Anteil der Anrufe von Menschen im Rentenalter. Neu gegenüber dem Vorjahr ist auch, dass 15% der Anrufe zumindest teilweise aus Angst vor einer Infektion getätigt wurden. Der Schluss liegt nahe, dass das Sorgentelefon im Lockdown-Frühling sogar weniger beansprucht wird als im Vorjahr, wenn man die aus „rein medizinischen“ Ängsten vorgenommenen Anrufe herausrechnet. Anrufe wegen häuslicher Gewalt liegen beispielsweise klar unter dem Vorjahresniveau (Abbildung 2, erste Grafik). Somit scheint es um die psycho-soziale Befindlichkeit der Schweizer Bevölkerung im Lockdown bis jetzt nicht schlechter zu stehen als in normalen Zeiten.

Spannend an den Sorgentelefon-Daten ist auch, dass man diese tagesgenau verfolgen kann. Somit können wir beobachten, wie sich die Anzahl Anrufe in einzelnen Problembereichen seit dem 13. März entwickelt. Dabei stellen wir im ersten Lockdown-Monat einen Anstieg der Problembereiche „Familie und Beziehungen“ (Abbildung 2, mittlere Grafik) und „Suchtverhalten und Suizidalität“ fest. Diese Anstiege sind in den letzen beiden Wochen jedoch wieder teilweise abgeklungen.

Umgekehrt verhält es sich mit dem Problembereich „materielle Sorgen“: Nach einem starken Rückgang in den ersten drei Lockdown-Wochen sind diese wieder am Zunehmen (Abbildung 2, dritte Grafik). Hier liegt die Vermutung nahe, dass sich die steigende Arbeitlosigkeit und vom Staat kaum kompensierte Einkommensausfälle von Selbstständigerwerbenden und Kleinbetrieben bemerkbar machen.

Erstaunlich: Das Sorgentelefon läuft im Lockdown nicht heiss

Abbildung 2

Unser Fazit aus dieser Analyse ist, dass die medizinischen und ökonomischen Sorgen bislang viel schwerer wiegen für die Befindlichkeit der Schweizer Bevölkerung als die die psychischen und sozialen Herausforderungen des Lockdown.

Doch wie aussagekräftig sind Sorgentelefon-Anrufe? Wir sehen zwei Argumente für die Nützlichkeit dieses Indikators (zusätzlich zu seiner täglichen Echtzeit-Verfügbarkeit), und eines dagegen.

Erstens sind Sorgentelefon-Anrufe meistens Ausdruck einer echten Notlage – man muss eine gewisse mentale Hemmschwelle überwinden, um von diesem Angebot Gebrauch zu machen (Jux- und Falschanrufe sind in den Daten nicht mitgezählt). Damit unterscheidet sich diese Messgrösse von Umfrage-Antworten, wo die Anreize zur wahrheitsgetreuen Wiedergabe der psychischen Befindlichkeit weniger klar sind. Zweitens dürfte die Option Sorgentelefon in Zeiten von „social distancing“, wo eh ein viel grösserer Teil der Kommunikation elektronisch und per Telefon läuft, besonders in den Vordergrund rücken. Es ist also umso bemerkenswerter, dass unter diesen Umständen kein signifikanter Anstieg der Sorgentelefon-Anrufe zu beobachten ist.

Der eine uns erkenntliche Nachteil der Massgrösse „Sorgentelefon-Anrufe“ liegt ebenfalls an der mentalen Hemmschwelle: Niederschwellige aber daher noch lange nicht vernachlässigbare Sorgen und Leiden münden wohl selten in Anrufen an die Dargebotene Hand. Wir erfassen daher gewiss nicht die gesamte Intensitäts-Spannbreite der Probleme. Aber so lange die zeitliche Veränderung von psycho-sozialen Problemen verschiedener Intensitätsgrade einigermassen parallel verläuft, stellen Sorgentelefon-Anrufe einen wertvollen Indikator dar.

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