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Neuer linker Nationalismus

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Photo: Streets of Berlin from Flickr (CC BY-SA 2.0) Der internationalistische Anspruch der Linken stand schon immer auf wackeligen Beinen. Seit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober wird auch in kosmopolitisch linken Kreisen sehr nonchalant davon ausgegangen, dass Nationen eine Realität und legitime Träger von Rechten seien. Sozialismus verkauft sich leichter national „Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“ So haben viele Generationen von Linken aus voller Brust geschmettert. In diesen Zeilen hat sich niedergeschlagen, welche Utopie den Vordenkern einer neuen gerechteren Welt vorschwebte, die im 19. Jahrhundert die Grundlagen für Sozialismus und Anarchismus legten. Sie sehnten sich nach dem Schrankenlosen: ökonomische Klassen

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Photo: Streets of Berlin from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Der internationalistische Anspruch der Linken stand schon immer auf wackeligen Beinen. Seit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober wird auch in kosmopolitisch linken Kreisen sehr nonchalant davon ausgegangen, dass Nationen eine Realität und legitime Träger von Rechten seien.

Sozialismus verkauft sich leichter national

„Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“ So haben viele Generationen von Linken aus voller Brust geschmettert. In diesen Zeilen hat sich niedergeschlagen, welche Utopie den Vordenkern einer neuen gerechteren Welt vorschwebte, die im 19. Jahrhundert die Grundlagen für Sozialismus und Anarchismus legten. Sie sehnten sich nach dem Schrankenlosen: ökonomische Klassen sollten so wenig das Schicksal von Menschen bestimmen wie Grenzen. Der aufklärerische Universalismus des „all men are created equal“ sollte aus dem theoretischen Elfenbeinturm von Pamphleten und Verfassungen in den Lebensalltag der Menschen übersetzt werden. „Alle Menschen werden Brüder“ sollte nicht mehr nur in den bürgerlichen Konzerthäusern erklingen, sondern auf den Äckern, in den Fabriken und im Bauch der Dampfschiffe erlebbar werden.

Solche hehren Vorstellungen passten aber nicht so recht zu der Realität, mit der die Vordenker konfrontiert wurden, als sie ihre Theorien in politische Praxis ummünzen mussten. Bald stellten sie fest, dass viele der malochenden Arbeiter im Stahlwerk in Duisburg für ihre Leidensgenossen in Scunthorpe oder Dunkerque nicht nur kein großes Interesse aufbringen würden, sondern sie aufgrund der starken kulturellen und sprachlichen Barrieren mitunter sogar mehr verachteten als die Söhne des Fabrikbesitzers, die mit der Kutsche vom Gymnasium abgeholt wurden. (Imaginiertes) Blut war doch oft dicker als Schweiß. Und Kosmopolitismus blieb ein Projekt der Bourgeoisie. Sarah Wagenknecht ruft es uns seit Jahren ins Gedächtnis: Links ist erfolgreich, wenn es Klientelpolitik für die eigene Gruppe macht. Ideale sind ein Luxus, den sich weder die sich als benachteiligt Empfindenden noch die Politiker leisten können.

Woke auf Orbans Pfaden

Dennoch hat es in linken Bewegungen auch weiterhin immer diesen idealistischen Strang gegeben mit prominenten Fürsprecherinnen wie Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci, Noam Chomsky oder Judith Butler. Ein nicht unbedeutender Teil des linken Lagers, oft die Avantgarde, sah im Nationalismus einen Teil des zu bekämpfenden ideologischen Endgegners aus Kapitalisten, Militaristen, Imperialisten und Sexisten. Bis heute: Die Einstellung, die von Freunden und Gegnern gleichermaßen als „woke“ bezeichnet (oder beschimpft) wird, beruht auf der Überzeugung, dass jede Diskriminierung abgebaut werden sollte und die einzelne nicht durch auswärtige Zuschreibungen definiert werden dürfe. Eigenartigerweise, wenn auch nicht wirklich überraschend, entdecken nun auch diese Linken den Nationalismus, obwohl sie sich dessen womöglich gar nicht bewusst sind.

Wenn die mit Kufiya und Augenbrauenpiercings bewehrten Studierenden an der Berliner Humboldt-Universität skandieren „from the river to the sea“, dann nutzen sie einen Slogan, der andere Implikationen hat als die Beendigung von Unterdrückung, Kolonialismus, Patriarchat oder was auch immer sich die Rufenden so vorstellen. Es ist nicht dasselbe wie der Ruf „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner 1898; nicht dasselbe wie die Protestaktionen von Gandhi oder Martin Luther King. Vielmehr macht man sich nationalistische, mitunter womöglich gar rassistische Narrative zu eigen. Denn dieser Slogan impliziert, dass es eine palästinensische Nation gebe, die es zu erhalten gelte, die Anspruch auf ein bestimmtes Territorium habe und deren Existenz aus sich heraus gut ist. Das ist die klassische Annahme des Nationalstaats. Das ist die Logik, nach der auch Orban, Fico, Le Pen und Kaczyński operieren. So vertraut den Protestierenden das Denken und Fühlen in der Kategorie „Wir gegen die“ sein mag: in diesem Fall wird die Unterscheidung nicht durch ökonomische Unterschiede oder durch Machtverhältnisse definiert, sondern durch Blut und Boden. „Die Palästinenser“ sollen sich gegen „die Israelis“ durchsetzen.

Der Linken steht ein schmerzhafter Selbstreinigungsprozess bevor

Dass es hier eine gefährliche Entwicklung gibt, wird zwar in der linken Szene durchaus thematisiert, so hat sich zum Beispiel die Amadeu-Antonio-Stiftung sehr ausführlich damit auseinandergesetzt, wie Islamisten und Antiimperialisten sich seit dem 7. Oktober rapide annähern, und auch in der taz sind häufig sehr kritische Stimmen zu lesen. Aber diese Stimmen kommen oft schon aus dem linken Establishment. Eine neue radikale Generation hat kein Verständnis mehr dafür, dass Ideen menschliches Miteinander zerstören; Ideen wie Überlegenheitsgefühl und Völkerhass. Für sie sind es feste Menschengruppen, die für das Übel verantwortlich sind: alte weiße Männer, „Zionisten“, Finanzeliten. Und feste Menschengruppen sind Opfer, die der Erlösung bedürfen: queere Personen, Palästinenser*innen, Arbeiter*innen.

Die politische Tektonik des Westens driftet in den letzten anderthalb Jahrzehnten massiv: Rechte ziehen mit Sozialpopulismus Klientel der klassischen Linken an, linksökologische Milieus werden bis weit ins bürgerliche Lager akzeptabel und Sozialdemokraten mausern sich zu Vorkämpfern der Festung Europa. In dem Zusammenhang fallen bizarrer Weise auch traditionell unumstößliche Brandmauern, wenn propalästinensische Aktivisten den demokratischen US-Präsidenten (zugunsten von Donald Trump) sturmreif schießen und queere Aktivist*innen Seite an Seite mit den Handlangern des iranischen Mullah-Regimes marschieren. In diesem rapiden Veränderungsprozess muss die traditionelle Linke dringend aufwachen und im eigenen Lager diese Abweichungen vom Kampf für Emanzipation, Solidarität und Fortschritt mit Verve zurückdrängen. Denn so wie manche der Protagonisten der 68er später stark nach rechts gerückt sind, kann es auch mit den Woke-Radikalen geschehen. Am Beispiel Israel und Palästina ließe sich dieses Zurückdrängen exemplarisch durchführen: Solidaritätsbedürftige Opfer gibt es auf allen „Seiten“ ebenso wie Täter, die mit Gewalt und Unterdrückung arbeiten und Hass säen.

Clemens Schneider
Clemens Schneider, born in 1980, co-founded the educational project „Agora“ Summer Academy and the blog „Offene Grenzen“ („Open Borders“). From 2011 to 2014 he held a scholarship by the Friedrich Naumann Foundation and held responsible positions there organizing several seminars and conferences. He is active as blogger and speaker and is in constant contact with the young members of the pro-liberty movement.

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