Auch in der Schweiz ertönt von vielen Seiten der Ruf, die Corona-Schulden des Staates nicht auf die nächste Generation abzuwälzen, sondern möglichst rasch zu tilgen, denn schliesslich handle es sich ja um „das Geld unserer Kinder“. Aber stimmt das? Die Rechnung ist nicht so einfach, wie es zunächst den Anschein macht. Die zweite Welle der Corona-Krise hat die Kosten der Hilfsmassnahmen auch in der Schweiz nochmals kräftig in die Höhe getrieben. Trotz allen Diskussionen um das Wie und Wieviel der Staatshilfen ist im Grundsatz unbestritten, dass der Staat nochmals tief in die Tasche greifen und den Rahmen der Schuldenbremse überschreiten muss. Nun richtet sich der Blick bereits auf die Tilgung der neuen Schulden. Diverse Finanzierungsvorschläge liegen auf dem Tisch. Gerne wird eine
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Auch in der Schweiz ertönt von vielen Seiten der Ruf, die Corona-Schulden des Staates nicht auf die nächste Generation abzuwälzen, sondern möglichst rasch zu tilgen, denn schliesslich handle es sich ja um „das Geld unserer Kinder“. Aber stimmt das? Die Rechnung ist nicht so einfach, wie es zunächst den Anschein macht.
Die zweite Welle der Corona-Krise hat die Kosten der Hilfsmassnahmen auch in der Schweiz nochmals kräftig in die Höhe getrieben. Trotz allen Diskussionen um das Wie und Wieviel der Staatshilfen ist im Grundsatz unbestritten, dass der Staat nochmals tief in die Tasche greifen und den Rahmen der Schuldenbremse überschreiten muss. Nun richtet sich der Blick bereits auf die Tilgung der neuen Schulden. Diverse Finanzierungsvorschläge liegen auf dem Tisch. Gerne wird eine zügige Tilgung dabei zu einem moralischen Imperativ erhoben: Wäre es nicht unverantwortlich, den nächsten Generationen die ganzen Schulden zu hinterlassen und ihnen damit die Kosten der Krise aufzubürden? Finanzminister Ueli Maurer rechnet vor, dass der Schuldenberg derzeit um 100.000 Franken pro Minute wächst und mahnt: „Wenn Sie Schulden machen, geben Sie sozusagen das Geld unserer Kinder aus“ (Medienkonferenz[ a ], 27.01.2021).
Irreführende Analogien
Der Appell an die Generationengerechtigkeit kommt gut an und wird auch in Medien und von Wirtschaftsverbänden gerne verbreitet. Dennoch ist er falsch. Warum ist er falsch? Weil er unterschwellig eine irreführende Analogie zu einem Privathaushalt herstellt, der in ganz normalen Zeiten eine Einkommensdelle mit der Aufnahme eines rückzahlbaren Kredites überbrückt. Eine solche Kreditaufnahme erfüllt einen nützlichen Zweck, indem sie es dem privaten Haushalt erlaubt, eine unvermeidliche Konsumeinbusse zeitlich zu strecken. Jedermann versteht auch die Kehrseite davon: Das in Zukunft verfügbare Familienbudget wird durch den Schuldendienst belastet – und soweit der Kredit nicht getilgt wird, verringert er den Wert des Nettovermögens, das an die nächste Generation übergeht. So weit, so klar. Was aber, wenn sich nun der Staat verschuldet, um den direkt Betroffenen der Corona-Krise über die Durststrecke hinwegzuhelfen? Gilt dann nicht genauso, dass die Kosten der Krise an den nächsten Generationen hängen bleiben, wenn wir die Schulden nicht zügig zurückzahlen?
Der Staat finanziert sich am Kapitalmarkt durch Ausgabe von Anleihen, die in die Portefeuilles von InvestorInnen wandern. Deren Nachfrage nach Staatsanleihen ist aktuell so groß, dass die Rendite über das ganze Spektrum der Laufzeiten hinweg negativ ist. Hinter den InvestorInnen steht, direkt oder indirekt, ein privater Sektor, dessen Sparüberschuss in der Schweiz schon vor der Pandemie weltrekordverdächtig hoch war und im zurückliegenden Jahr nochmals angestiegen ist. Der größere Teil dieses Sparüberschusses findet seinen Weg als Leistungsbilanzüberschuss nach wie vor ins Ausland. Indem der Staat aber durch seine laufende Neuverschuldung den verbleibenden Teil des Sparüberschusses einsammelt und als Corona-Hilfen wieder in den privaten Sektor zurückleitet, besorgt er innerhalb der heute lebenden Generation einen Lastenausgleich, der sich aus der Ungleichverteilung der Pandemie- und Lockdown-Schäden in der Volkswirtschaft rechtfertigt. Der Staat agiert de facto als kollektive Pandemieversicherung.
Der wesentliche Unterschied zwischen diesem Vorgang und dem oben geschilderten privaten Konsumkredit ist, dass es die Pandemie den Schweizer Haushalten nicht erlaubt, ihren Konsumverzicht zeitlich zu strecken. Das Corona-Virus fragt nicht nach optimalen Konsumprofilen, sondern erzwingt einen Minderkonsum hier und heute, weil das Infektionsrisiko in großen Teilen des Dienstleistungssektors sonst zu hoch wäre. Der Konsum kommt so lange zum Erliegen, bis die Pandemie unter Kontrolle ist. Im Unterschied zum Lastenausgleich innerhalb der heutigen Generation ist eine Verschiebung des Minderkonsums auf später nicht möglich. Ein Netto-Ressourcentransfer von einer Generation zur anderen findet daher nicht statt. Der Konsumspielraum, über den künftige Generationen insgesamt verfügen werden, wird von der künftigen Produktivität der Wirtschaft bestimmt, nicht von den Modalitäten des heutigen intra-generativen Lastenausgleichs.
Indirekte Wirkungskanäle
Es gibt indirekte Wirkungskanäle, über die eine Staatsverschuldung zukünftige Generationen belasten kann. Die Lehrbücher nennen vor allem zwei. Wenn die staatliche Kreditaufnahme auf dem Kapitalmarkt produktive Investitionen verdrängt, wirkt sich dies auf das Wachstum und damit auf den zukünftigen Wohlstand aus. Heute besteht diese Gefahr nicht. Im Gegenteil: Indem der Staat die wirtschaftliche Aktivität stützt, begrenzt er auch den Absturz der Investitionstätigkeit – ein klares Plus für die zukünftige Produktivität der Wirtschaft.
Ein zweiter indirekter Wirkungskanal führt über die Steuern, die für den Schuldendienst dereinst erhoben werden müssen. Das dafür erforderliche Steuervolumen stellt zwar keine Nettoverbindlichkeit der künftigen Generationen dar, sondern erneut einen Transfer innerhalb der künftigen Generationen – zwischen künftigen SteuerzahlerInnen und künftigen GläubigerInnen des Staates (vielleicht sogar teilweise denselben Personen). Aber die Erhebung der Steuern verursacht Effizienzverluste, weil sie Preisanreize verzerrt. Hier kommt uns heute der Kapitalmarkt zu Hilfe. Da sich der Bund derzeit über alle Laufzeiten zu negativen Zinsen finanzieren kann, führen die zusätzlichen Corona-Schulden paradoxerweise dazu, dass die Zinsausgaben des Bundes sinken.
Nachhaltigkeit und Schuldenbremse
Und die Belastung durch die Rückzahlung der Schulden? Aus rein ökonomischer Sicht ist eine Schuldentilgung durch laufende Überschüsse nur notwendig, wenn sie zur Sicherung der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen erforderlich ist. Nachhaltig ist die finanzielle Situation eines Staates, wenn es ihm mühelos gelingt, seine Schulden- und Zinslastquote, also das Verhältnis der Schulden bzw. der Zinszahlungen zum Bruttoinlandsprodukt, stabil zu halten. Diesbezüglich unterscheiden sich die Voraussetzungen verschiedener Staaten erheblich. Niedrige oder gar negative Zinsen allein machen Schulden weder «kostenlos» (Niepelt 2021) noch automatisch nachhaltig (Reis 2021), aber sie beeinflussen die Kosten-Nutzen-Bilanz der Staatsverschuldung (Blanchard 2019). Dort, wo die Schuldenquoten, die strukturellen Primärdefizite und die Zinssätze relativ zum mittelfristigen Wachstumspotential niedrig sind, kann die Volkswirtschaft aus den Schulden herauswachsen. Diese günstigen Voraussetzungen hat heute etwa Deutschland (Fuest 2021), und noch ausgeprägter auch die Schweiz (Graff 2021). Da lange Laufzeiten der Anleihen das Zinsänderungsrisiko abfedern können, besteht selbst im derzeit unwahrscheinlichen worst case eines abrupten und anhaltenden Wiederanstiegs der Zinsen viel Spielraum, die Schuldenquote vom Wirtschaftswachstum abschmelzen zu lassen. Schwieriger ist die Ausgangslage für viele Entwicklungs- und Schwellenländer und auch für manche Länder des Euroraums. Selbst in den USA, die heute ein riesiges Corona-Hilfspaket zwar noch mühelos finanzieren können, zeichnet sich aufgrund der schon vor der Corona-Krise strukturell hohen Primärdefizite langfristig ein Aufwärtstrend der Schuldenquote ab, der früher oder später zu markanten Korrekturen der fiskalpolitischen Parameter zwingen wird (Cochrane 2021).
Obwohl die Tilgung der Corona-Schulden im Falle der Schweiz keine ökonomische Notwendigkeit ist, wird sie von der 2001 in die Bundesverfassung aufgenommenen Schuldenbremse verlangt. Diese hat mit dem Erfordernis eines im Mittel ausgeglichenen Haushalts dem Bund von Anfang an eine restriktivere Finanzpolitik verordnet, als das Kriterium der Nachhaltigkeit verlangt hätte – eine Vorgabe, die seit Bestehen der Schuldenbremse nicht nur erfüllt, sondern bei weitem übererfüllt wurde. Insgesamt sind bis 2019 nicht-budgetierte Überschüsse von fast 30 Mrd. Fr. angefallen, die dem sogenannten „Ausgleichskonto“ gutgeschrieben wurden. Ob eine Finanzpolitik, welche die Eliminierung der Staatsschuld quasi als Selbstzweck verfolgt, angesichts der zuletzt rekordtiefen Zinsen und vor dem Hintergrund des ungestillten Hungers der Finanzmärkte nach «Safe Assets» einer nüchternen Kosten-Nutzen-Rechnung standhält, darf mit einem Fragezeichen versehen werden (Tille 2020).
Trotz den rigiden Vorgaben der Schuldenbremse steht die Finanzpolitik nicht ganz ohne Handlungsspielraum da. Ansatzpunkte bilden die Verrechnung der Corona-Schulden mit dem Saldo des Ausgleichskontos und die Frist für die Tilgung des verbleibenden Rests. Wie dieser Spielraum genutzt wird, sollte von den Opportunitätskosten der für einen Schuldenabbau aufgewendeten Mittel und vor allem auch vom Verlauf der konjunkturellen Entwicklung abhängig gemacht werden. Das irreführende Narrativ vom «Geld unserer Kinder» sollte diese Erwägungen nicht vernebeln.
Blanchard, Olivier (2019), Low Interest Rates and Public Debt, American Economic Review 109[ b ], 1197-1229.
Cochrane, John (2021), Low Interest Rates and Government Debt, The Grumpy Economist[ c ], January 11.
Fuest, Clemens (2021), Staatsfinanzen nach der Coronakrise – Wer zahlt die Rechnung? 15. Wilhelm-Röpke-Vorlesung[ d ], Erfurt, 4. Februar.
Graff, Michael (2021), Müssen die neuen Staatsschulden wirklich zurückgezahlt werden? Ökonomenstimme, 4. Januar.
Niepelt, Dirk (2021), Sind Staatsschulden heute kostenlos? Ökonomenstimme, 5. Februar.
Reis, Ricardo (2020), The constraint on public debt when r < g but g < m, unveröffentlichtes Papier[ e ], London School of Economics, Dezember.
Tille, Cédric (2020), The "burden" of Swiss public debt: Lessons from research and options for the future, CEPR Policy Insight No. 101[ f ], London.
©KOF ETH Zürich, 8. Mär. 2021