Mit 23 Franken pro Stunde hat Genf den höchsten Mindestlohn der Welt eingeführt. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist das viel zu wenig. In den 1960er-Jahren war es üblich, dass ein Alleinverdiener eine Familie mit damit damals durchschnittlich 2,6 Kindern mit einer 44-Stundenwoche durchbringen konnte. Man musste zu diesem Zweck kein Spitzenverdiener sein, zumal die Lohnunterschiede zwischen ArbeiterInnen und Angestellten relativ gering waren. Inzwischen hat sich die Produktivität pro Arbeitsstunde verdoppelt und die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist auf 74% gestiegen. Man sollte also annehmen, dass ein Schweizer Paar mit je einem durchschnittlichen Arbeitspensum heute erst recht wenigstens zwei Kinder durchbringen kann. Machen wir die Probe aufs Exempel. Die Stimmberechtigten des
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Mit 23 Franken pro Stunde hat Genf den höchsten Mindestlohn der Welt eingeführt. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist das viel zu wenig.
In den 1960er-Jahren war es üblich, dass ein Alleinverdiener eine Familie mit damit damals durchschnittlich 2,6 Kindern mit einer 44-Stundenwoche durchbringen konnte. Man musste zu diesem Zweck kein Spitzenverdiener sein, zumal die Lohnunterschiede zwischen ArbeiterInnen und Angestellten relativ gering waren. Inzwischen hat sich die Produktivität pro Arbeitsstunde verdoppelt und die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist auf 74% gestiegen. Man sollte also annehmen, dass ein Schweizer Paar mit je einem durchschnittlichen Arbeitspensum heute erst recht wenigstens zwei Kinder durchbringen kann. Machen wir die Probe aufs Exempel.
Die Stimmberechtigten des Kantons Genf haben Ende September mit fast 60% Ja-Stimmen einem Mindestlohn von 23 Franken zugestimmt. Nach den Erfahrungen in den Kantonen Tessin und Neuenburg dauert es zwar noch ein paar Jahre, bis die entsprechenden Gesetze in Kraft treten, aber nehmen wir an, die 23 Franken werden sofort eingeführt. Frage: Kann man damit eine Familie durchbringen und für das Alter und die anderen Wechselfälle des Lebens die notwendigen Reserven anlegen?
Dabei dürfen wir nicht von der in der Schweiz immer noch üblichen 42-Stundenwoche ausgehen, sondern von der durchschnittlich pro Erwerbsperson geleisteten Arbeitszeit von aktuell 1520 Jahresstunden. Wobei die gut bezahlten Vollzeitjobs den Hochqualifizierten vorbehalten sind, während sich die weniger Qualifizierten mit entsprechend unterdurchschnittlichen Pensen begnügen müssen. Doch nehmen wir an, unser Paar könne dank einem Krippenplatz für das jüngere der beiden Kinder je ein 1520 Stunden Pensum ergattern – das entspricht in etwa einer 30-Stundenwoche oder einem 70%-Pensum. Mit dem Mindestlohn von 23 Franken verfügen sie gemeinsam dann über ein Bruttoeinkommen von 69'920 Franken pro Jahr, bzw. 5826 Franken pro Monat. Klingt nicht schlecht. Doch reicht es auch? Rechnen wir.
Trotz staatlicher Unterstützung bleiben nach Miete, Krippenkosten und Versicherung bloss 19 Frank pro Tag und Person
Der grösste Ausgabenposten ist die Miete. Selbst eine 3- Zimmerwohnung kostet im Genfer Schnitt 2210 Franken. Dank der „Allocation de Logement[ a ]“ sinkt dieser Ausgabenposten auf 1960 Franken. Dafür ist die Krippe billig - rund 400 Franken pro Kind und Monat, womit allerdings kaum ein Viertel der Kosten gedeckt ist. Den Rest übernimmt der Staat. Auch punkto Steuern geht Genf mit dieser Einkommensklasse schonend um, und begnügt sich mit rund 180 Franken monatlich. Bei der Krankenkasse greift der Staat ebenfalls tief in die Tasche und übernimmt – in der tiefen Einkommensklasse – 300 Franken monatlich pro Erwachsenen und 100 Franken pro Kind. Dank einem Hausarztmodell kann unsere „Familie Mindestlohn“ die Prämien auf 500 Franken monatlich beschränken.
Kommen wir nun zur Altersvorsorge. Die AHV kostet unsere Familie 5,275% des Bruttolohns oder 310 Franken monatlich. Die Pensionskassenbeiträge hängen stark vom Koordinationsabzug ab. Wir rechnen mit 190 Franken Arbeitnehmerbeitrag monatlich und kommen so auf ein Total von 500 Franken Altersvorsorge. Rechnet man den Arbeitgeberbeitrag dazu und zieht die Verwaltungs- und Versicherungskosten ab, kommt man auf einen jährlichen Sparbeitrag von maximal 5000 Franken pro Person. Rein rechnerisch könnte man damit eine Rente (AHV und BVG) von knapp 1000 Franken finanzieren. Es ist klar, dass der Staat auch da massiv mit Ergänzungsleistungen nachhelfen muss.
Nach allen diesen Fixkosten bleibt ein verfügbares Monatseinkommen von 2286 Franken – das sind ca. 19 Franken pro Tag und Person für Nahrungsmittel, Getränke, Kleider, Energie, Verkehr, Unterhaltung, Ferien etc. für vier Personen. Das ist mehr als knapp. Gemäss der Haushaltsbudgeterhebung gab ein durchschnittliches Paar mit zwei Kindern im Jahre 2016 für diese Posten mehr als doppelt so viel, nämlich 5350 Franken aus. Auch das ärmste Fünftel wendet immer noch 3200 Franken auf. Damit unsere „Familie Mindestlohn“ mit dem ärmsten Fünftel Schritt halten könnte, müsste der Mindestlohn um rund vier auf 27 Franken steigen.
ArbeitgeberIn wälzt Lebenshaltungskosten seiner Angestellten auf den Staat ab
Doch selbst dieser Mindestlohn würde bedeuten, dass der Arbeitgeber einen grossen Teil der Lebenshaltungskosten (Krippe, Wohnen, Rente, Schule etc.) auf den Staat abwälzt. In unserem konkreten Beispiel sind das mehr als 2000 Franken monatlich, wobei allerdings die Kosten für die Krippe nur in einem relativ kurzen Zeitraum anfallen. Vorsichtig geschätzt, müsste ein eine Reproduktionskosten deckender Lohn noch einmal um 8 auf 35 Franken erhöht werden.
Klammer auf: Ein beträchtlicher Teil dieser Kosten für öffentliche Dienste ist deshalb (bisher) nicht angefallen, weil sich die tiefen Einkommensklassen gar nicht erst zwei Kinder und entsprechend grosse Wohnung leisten können. Zweitens nehmen sie auch deshalb weniger öffentliche Gelder in Anspruch, weil sie eine deutlich kürzere Lebenserwartung haben. In Deutschland sind es fast 10 Jahre. Anders gesagt: Diese Kosten werden nicht in Geld, sondern in Lebensqualität bezahlt. Klammer geschlossen.
Gemessene «Produktivität» ist Folge vom Machtverteilung zwischen ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn
ÖkonomInnen fragen sich an dieser Stelle, ob wir uns so hohe Mindestlöhne überhaupt leisten können. Doch das ist die falsche Frage. Die richtige müsste lauten: Wie konnte es dazu kommen, dass – im Gegensatz zu früher – heute viele Löhne nicht mehr lebenskostendeckend sind, und dass ein grosser Teil der Lohnkosten auf den Staat abgewälzt wird? Volkswirtschaftlich gesehen setzen sich die Kosten eines Produkts aus den Lebenshaltungskosten, bzw. –ansprüchen all jener zusammen, die am der Produktion, Transport, Vermarktung oder Finanzierung des Produkts beteiligt sind. Welche Ansprüche jemand geltend machen kann, hängt von der Marktmacht ab. Das legt die Vermutung nahe, dass nicht (mehr) kostendeckende Löhne die Folge eines Machtverlusts sind.
Viele ÖkonomInnen sehen tiefe Löhne hingegen als Folge einer tiefen Produktivität und sie warnen davor, die Löhne „künstlich“ über die Produktivität anzuheben, weil sonst die „unproduktiven“ Jobs verschwinden. Doch das ist reine Tautologie. Niemand kann messen, wie viel etwa ein Pizzakurier zur Pizza beigetragen hat. Stattdessen messen die ÖkonomInnen bloss das, was der Kurier für seinen Beitrag kassiert hat. Anstelle der Wertschöpfung messen sie bloss die Wert-Abschöpfung –und bezeichnen diese als „Produktivität“.
Letztlich ist die gemessene „Produktivität“ also eine Frage der Macht, und Mindestlöhne sind ein Machtfaktor. Mit einem höheren Mindestlohn wird die Wertabschöpfung neu geregelt. In unserem Beispiel haben wir zwei Tranchen von Lohnerhöhungen unterschieden: Mit den ersten vier Franken wird sichergestellt, dass sich unsere “Familie Mindestlohn“ einen – gemessen am Genfer Standard – minimalen Privatkonsum leisten kann. Damit werden die von Herrn und Frau Mindestlohn erbrachten Leistungen um etwa 17% teurer. Es findet eine Umverteilung zwischen dem Leistungserbringer und der Konsumentin statt.
Die zweite Tranche von rund 8 Franken dient dazu, dass die „Familie Mindestlohn“ die Kosten ihres öffentlichen, bzw. kollektiv finanzierten Konsums, der Altersvorsorge und Krankenversicherung wenigstens annähernd selber decken kann. Es findet eine Umverteilung zwischen der Steuerzahlerin und dem Konsumenten statt. Damit würde etwa die Krippe, der Coiffeur oder der Kaffee in der Kneipe teurer. Ein Teil der Mehrkosten geht auch zu Lasten der (bisher überzogenen) Gewinne der ArbeitgeberInnen. Das alles ist im Sinne des Verursacherprinzips: Wer Leistungen beansprucht soll auch dafür zahlen, statt die Kosten auf den Staat oder auf die Erbringerin der Leistung abzuwälzen.
Mehr Geld landet beim ärmsten Fünftel wieder in der Realwirtschaft – statt auf den Finanzmärkten
Doch höhere Mindestlöhne beeinflussen nicht nur die Einkommensverteilung, sondern auch die Konsumgewohnheiten. Spargeln etwa könnten sich nur noch wenige leisten. Die Pizza würde man sich öfter mal selber backen, oder man würde das Velo nehmen, statt ein Taxi zu bestellen. Eine Putzhilfe könnte man sich nur noch jede zwei Woche leisten. Insgesamt würde viel bezahlte Arbeit durch unbezahlte ersetzt. Damit entfiele auch der beträchtliche administrative Aufwand, der mit bezahlter Arbeit verbunden ist. Unser Wohlbefinden würde durch diese Verschiebung eher vermehrt als vermindert, zumal unbezahlte Arbeit klar mehr Spass macht, als billig-bezahlte.
Dass dadurch bezahlte Arbeit per Saldo „vernichtet“ wird, ist aber eher unwahrscheinlich, denn es gibt einen Gegentrend: Die tiefen Einkommensklassen können sich mehr leisten. Dasselbe gilt für den Staat: Statt die Löhne (und damit auch die Gewinne) zu subventionieren kann er mehr öffentliche Leistungen anbieten – Umweltschutz, bessere Schulen, Ausbau des öffentlichen Verkehrs usw. Jeder Franken, der vom reichsten ins ärmste Fünftel der Haushalte (bzw. in den Staatshaushalt verschoben wird, wird annähernd vollumfänglich statt bloss zu 60 Prozent ausgegeben und schafft dadurch mehr Konsumnachfrage.
Und diesen Mehrkonsum könnte sich die Schweiz locker leisten. Unser Nettoüberschuss gegenüber dem Ausland von weit über 1000 Milliarden Franken allein seit 2000 zeigt, dass unsere Volkswirtschaft nicht genug Nachfrage schafft, um das hohe Produktionsniveau auszuschöpfen, bzw. um das zu verkonsumieren, was die SchweizerInnen in ihren durchschnittlich 1520 Arbeitsstunden produzieren. Schuld daran ist vor allem das reichste Fünftel der Haushalte. Dieses verdient- gemessen am Budget der Paarhaushalte unter 65 - zwar rund vier mal so viel wie das ärmste, konsumiert aber nur 80% mehr und legt gut 40% seines verfügbaren Einkommens in Immobilien und anderen Finanzanlagen an.
Fazit: 23 Franken sind zu wenig
Geht man von einem – auch in anderen Industrieländern zu beobachtenden –Konsumverhältnis von rund 2 zu 1 zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel aus, müsste eine „markträumende“ – sprich für ausreichend Nachfrage sorgende – Verteilung der Lohneinkommen diese Relation in etwa widerspiegeln. Da das durchschnittliche Brutto-Arbeitseinkommen der Schweiz bei 62 Franken pro Stunde liegt, ergibt sich rein rechnerisch folgende Verteilung: 41 Franken für das ärmste, 82 Franken für das reichste Fünftel, der Rest irgendwo dazwischen. So gesehen, ist ein Mindestlohn von bloss 23 Franken – zumal in Genf, wo die Einkommen 15 % über dem Schweizer Schnitt liegen – schon fast verantwortungslos.
Das Problem ist, dass das fast niemand so sieht. Der Mindestlohn wird noch immer nur als soziales und nicht als ökonomisches Problem betrachtet. Dabei ist der Mindestlohn – weit vor dem Zins und Wechselkurs – eine der beiden wichtigsten wirtschaftspolitischen Stellschrauben. Die andere ist die Regelung der Arbeitszeit – doch das ist eine andere Geschichte.
©KOF ETH Zürich, 14. Okt. 2020