Die zentrale These dieses Beitrages lautet: Wissenschaftliche Theorien sind sinnvolle Symbolkomplexe. Auf dieser sehr allgemeinen Basis versucht der Autor, Erfahrungen zu reflektieren, die er in zahlreichen Diskussionen mit Kollegen, Studierenden und Amateurökonomen gesammelt hat. Um nicht erneut in einzelne Themen einsteigen zu müssen, werden Namen nicht genannt. Durch die Charakteristik von wissenschaftlichen Theorien (und nur von solchen ist hier die Rede) als Symbolkomplexe wird ausgeschlossen, dass jede vage Idee im Kopf eines mehr oder weniger mit Titeln versehenen Menschen als Theorie ernst genommen und diskutiert werden muss. Daneben gibt es andere Arten von Symbolkomplexen, die keine Theorien darstellen, zum Beispiel Wegweiser, Backrezepte, das Wort zum Sonntag oder die
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Die zentrale These dieses Beitrages lautet: Wissenschaftliche Theorien sind sinnvolle Symbolkomplexe. Auf dieser sehr allgemeinen Basis versucht der Autor, Erfahrungen zu reflektieren, die er in zahlreichen Diskussionen mit Kollegen, Studierenden und Amateurökonomen gesammelt hat. Um nicht erneut in einzelne Themen einsteigen zu müssen, werden Namen nicht genannt.
Durch die Charakteristik von wissenschaftlichen Theorien (und nur von solchen ist hier die Rede) als Symbolkomplexe wird ausgeschlossen, dass jede vage Idee im Kopf eines mehr oder weniger mit Titeln versehenen Menschen als Theorie ernst genommen und diskutiert werden muss. Daneben gibt es andere Arten von Symbolkomplexen, die keine Theorien darstellen, zum Beispiel Wegweiser, Backrezepte, das Wort zum Sonntag oder die neusten Nachrichten. Theorien zeichnen sich durch Besonderheiten aus, von denen einige im Folgenden erörtert und mit Beispielen versehen werden.
Sinnvolle Symbole verweisen auf etwas. Doch worauf? Das hängt nicht nur davon ab, was der Autor, d.h. der Produzent des Symbolkomplexes, im Sinn hatte, sondern auch vom Rezipienten, dem Interpreten. Jeder Leser[ 1 ] sieht in einem Text genau das, was aus seinem Erfahrungshorizont und in seiner Begriffswelt Sinn macht. Damit scheint die obige Theorien-Charakteristik rettungslos subjektivistisch ausfallen zu müssen. Jedoch wird dieser Spielraum in einem kommunikativen Zusammenhang, der dazu dient, gemeinsam Handlungs- oder Erkenntnisprozesse voranzutreiben, eingeschränkt. Manifestieren sich in diesem Kontext unterschiedliche Deutungen, so liegt es im Interesse der Akteure, sich auf eine einzige Interpretation zu einigen. Dieses Interesse liegt meistens nicht vor, wenn Laien mit Wissenschaftlern und Wissenschaftler unterschiedlicher Schulen miteinander diskutieren. – Soweit der erste Erklärungsansatz für chaotische Diskussionen.
Das, worauf Symbole eventuell verweisen, variiert nicht nur durch die unterschiedlichen Perspektiven der Interpreten, sondern vor allem durch die Funktionen, die die Symbole ausüben und denen sie, evolutionär betrachtet, ihre Existenz verdanken. Nach Moritz Schlick drücken Symbole etwas aus (den körperlichen oder geistigen Zustand des Symbolproduzenten), sie lösen eine Aktion beim Empfänger aus (Mitleid, Furcht, Widerspruch etc.) oder stellen ein Objekt dar (Abbildfunktion); Karl R. Popper ergänzt: sie dienen der Argumentation. Im Sinne Max Webers ist das Argumentieren eine Handlung, und sie hat das Ziel, eine bestimmte Darstellung als authentisch (vom angegebenen Urheber stammend), wahrhaftig (seiner innersten Überzeugung entsprechend), wahr (empirisch zutreffend), richtig (logisch widerspruchsfrei), legitim (mit den herrschenden Normen übereinstimmend) und verbindlich (die Handlungen des Empfängers orientierend) zu charakterisieren. Eine Theorie kann, eben weil sie ein Symbolkomplex ist, unter allen diesen Aspekten zum Gegenstand der Diskussion gemacht werden, was das inhaltliche Chaos und die Häufigkeit des aneinander Vorbeiredens erklärt.
Obwohl man in Kommentaren und Disputen entsprechend vielfältige Reaktionen findet, steht die Wahrheitsfunktion im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, also die Frage, ob die von der Theorie behaupteten Sachverhalte überhaupt existieren. Z. B. behaupten Vertreter der objektiven Wertlehre (zu der u.a. die Arbeitswertlehre gehört), dass es so etwas wie einen Wert der Waren gibt, der nicht identisch mit ihren dinglichen Eigenschaften ist und annähernd durch den Preis ausgedrückt wird. Angewandt auf die Geldtheorie bedeutet das, dass Papiergeld zwar keinen oder nur einen geringen Wert hat, dafür aber einen Wert repräsentiert, der zwiefach gesichert ist: durch den Wert des Kollateral und den Wert der Waren, die man dafür kaufen kann. – Doch es gibt zahlreiche Ökonomen, die die Existenz eines solchen Objektes in Frage stellen.
Jede Theorie kann als Anleitung zum Handeln verstanden werden
Um Theorien auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können, muss man sie präziser als Komplex von Aussagen betrachten (statement-view), d.h. als Sätze, die Dinge und ihre Veränderung, Sachverhalte, Handlungen, Zustände, Mechanismen und Strukturen beschreiben. Da in der Ökonomik Theorien immer auch mit Hilfe der Umgangssprache mitgeteilt werden, sie sich also niemals auf Formeln reduzieren lassen, sind sie vielfältig interpretierbare Symbolkomplexe, die man stets auch als Aufforderung zum Handeln, als Wertung oder Äußerung von Wünschen und Geschmacksurteilen deuten kann. Sätze, die bestimmte Handlungen vorschreiben, beschreiben zwar auch etwas, nämlich die durchzuführenden Handlungen, aber diese sollen ja erst realisiert werden; insofern läuft die Überprüfung, ob das Beschriebene existiert, ins Leere. M.a.W.: Handlungsanweisungen als solche können zwar in die Irre führen, aber sie sind nicht wahrheitsfähig.
Besonders Praktiker neigen dazu, Theorien unter dem Aspekt der Anwendung zu betrachten. Ob es beispielsweise tatsächlich einen objektiven Wert gibt, ist für praktische Fragen weitgehend belanglos. Dass es ein Kollateral geben muss, mindert das Ausfallrisiko der Banken (eine rein technische Frage). Die Kaufkraft des Geldes basiert auf dem staatlich verordneten Annahmezwang (rechtlicher Aspekt) und dem Vertrauen der Bürger in die eigene Währung (psychologische Erklärung). Bliebe man bei diesen Erklärungen stehen, würde die Geldtheorie auf nicht-ökonomische Aspekte reduziert. Ludwig von Mises und einige andere würden dann sagen, dass es sich um überhaupt keine Geldtheorie handelt.
Der Test einer Theorie setzt voraus, dass sie deskriptiv interpretiert und als hypothetisch wahr unterstellt werden kann. Letzteres ist erforderlich, um logische Operationen anwendbar zu machen. Ein bloß deskriptiver Gehalt eines Symbolkomplexes reicht dazu nicht aus, wie das obige Beispiel der Handlungsanweisungen belegt. Theorien sind demnach nicht an sich rein deskriptiv, sondern sie müssen so interpretiert werden (können). Sollte das nicht möglich sein, entziehen sie sich einer wissenschaftlichen Überprüfung und sind aus dem Bereich wissenschaftlicher Symbolkomplexe, den Popper als Welt 3 bezeichnete, auszuschließen.
Der Hinweis einiger Kritiker darauf, dass ökonomische Theorien oftmals ideologischen Charakter tragen, also mehr dazu dienen, Handeln anzuleiten als dazu, Sachverhalte zu erklären, sagt dem Wissenschaftstheoretiker nichts Neues. Jede Theorie kann als Anleitung zum Handeln verstanden werden und übt dann eine präskriptive (vorschreibende) Funktion aus. Ein solches Handeln ist aber erst dann wissenschaftlich begründet, wenn die zugrunde liegende Theorie die härtesten Tests überstanden hat. Dazu gehört in der Ökonomik nicht nur die Erklärung von (in der Vergangenheit) beobachteten Sachverhalten, sondern auch die Prognose zukünftiger Entwicklungen.
Ökonomik muss noch einen weiten Weg zurücklegen
Gegenwärtig wird die Ökonomik in der Öffentlichkeit daran gemessen, wie sie dazu beiträgt, erfolgreich Wirtschaftskrisen zu verhindern. Da sie nachweislich keine Krisen, ja nicht einmal konjunkturelle Wendepunkte, zuverlässig vorhersehen kann, scheint die Ökonomik als Wissenschaft gescheitert zu sein. Dabei können Vertreter dieses Fachs nicht bestreiten, dass zumindest eine verlässliche Vorhersage zu ihren eigenen Zielen gehört. Offenbar ist es so, dass die Ökonomik noch einen weiten Weg zurücklegen muss, um dieses Ziel zu erreichen. Ähnliches gibt es auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen. Die Physik muss noch einen weiten Weg zurücklegen, um eine kontrollierte Kernfusion zu ermöglichen und damit der Menschheit eine unerschöpfliche Energiequelle zur Verfügung zu stellen.
Ein nicht unwesentlicher Unterschied zwischen Ökonomik und Physik besteht darin, dass ein Laie wohl niemals in aller Öffentlichkeit grundlegende Erkenntnisse der Physik in Frage stellen oder versuchen wird, die Profis mit Alltagsweisheiten zu belehren. Gegenteiliges passiert momentan mit der Ökonomik. Dass jede Geldausgabe zugleich eine Einnahme eines anderen Akteurs ist, dass die Verschuldung des Staates bei den Privaten zugleich deren Vermögen ist, dass ein Nettoexport ein Importdefizit darstellt, dass ein Kauf als Geldvermögensabbau angesehen werden kann – mit diesen Trivialitäten sollen die Ökonomen belehrt und auf eine erfolgreichere Spur gesetzt werden. Aber auch innerhalb der Zunft findet Seltsames statt. Heterodoxe kritisieren logische Strukturen wie beispielsweise die Deduktion, bei der angeblich nichts anderes herauskommt, als man hineinsteckt. Ihnen ist offenbar nicht klar, dass wissenschaftliche Theorien unendlich viele Implikationen haben, die kein Mensch vorhersehen kann. Mathematische Modelle, die zugegebenermaßen oftmals mit einem riesigen Aufwand eine triviale Sache erklären (zum Beispiel die hohen Einkünfte von Prostituierten oder das Suchverhalten auf dem Arbeitsmarkt), werden pauschal als weltfremd verdammt. In der Tat sind sie so „weltfremd“ wie die Astronomie (= angewandte Newtonsche Physik), die erfolgreich einen Planeten als Punktmasse betrachtet. Allgemein formuliert: Die Leistungsfähigkeit einer Theorie hängt nicht davon ab, wie plausibel und lebensnah ihre Prämissen sind.
Es ist also Unkenntnis der Wissenschaftsgeschichte einschließlich der Geschichte der eigenen Disziplin mit ihren kontroversen, oft auch weltanschaulich inspirierten Disputen, die zu krassen Fehlurteilen und damit auch zu Fehlorientierungen führt. Aber auch renommierte Ökonomen tragen gelegentlich dazu bei, dass ihre Disziplin in der Öffentlichkeit nicht mehr ernst genommen wird. Wenn auf sachliche Kritiken nicht geantwortet wird, oder eine Antwort nur dann erfolgt, wenn man glaubt, dass der Kritiker in der medialen Welt eine exponierte Stelle einnimmt, dann wird der zentrale Sinn wissenschaftlicher Erkenntnis, nach der Wahrheit zu suchen und der Praxis eine transparente und verlässliche Orientierung zu geben, verfehlt.
Worauf kann sich ein Ökonom, der sich von den chaotischen Wortmeldungen in seinem Umfeld nicht beirren lassen will, stützen? Auf das Abgrenzungskriterium. Es ist daran zu erinnern, dass nicht jeder, ja nicht einmal jeder wahre Symbolkomplex der Wissenschaft zugerechnet werden muss. Theorien einer empirischen Wissenschaftsdisziplin wie der Ökonomik behaupten unter bestimmten, explizit zu nennenden Bedingungen einen allgemeinen Zusammenhang, dessen Existenz – wenn auch erst nach einigen Mühen – anhand der Erfahrung überprüft werden kann und muss. Meinungsäußerungen, die dem nicht dienen, können ignoriert werden, ohne dem wissenschaftlichen Fortschritt zu schaden. Andererseits müssen auch solche Meinungen zugelassen werden, weil sich unter dem ganzen Stroh, das gedroschen wird, auch einmal ein Korn befinden könnte. Und schaden kann es nicht, wenn Experten sich mit dem einen oder anderen Hinweis an der Diskussion ihrer Beiträge beteiligen.
©KOF ETH Zürich, 9. Aug. 2019