Hochkarätige Ökonomen kommen zum Schluss, dass die Asymmetrien im Überweisungssystem des Europäischen Zentralbanksystems normalerweise keine Schwierigkeiten bereiten – ausser, es tritt ein Staat wie Italien aus der Union aus. Doch wie können blosse Buchungen zu einem riesigen Problem werden? Eine Replik. Zwar ist es um das sogenannte Target2-Problem ruhiger geworden, aber die Standpunkte haben sich verfestigt. Jede Seite behauptet, dass sich ihre Auffassung durchgesetzt habe. Nun ist auch der Volkswirt Ulrich van Suntum in einem kürzlich auf Ökonomenstimme veröffentlichten Beitrag zu dem Schluss gekommen, dass die Asymmetrien im Überweisungssystem des Europäischen Zentralbanksystems normalerweise kein Problem darstellen (van Suntum 2019). Nur für den Fall, dass ein Staat wie
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Hochkarätige Ökonomen kommen zum Schluss, dass die Asymmetrien im Überweisungssystem des Europäischen Zentralbanksystems normalerweise keine Schwierigkeiten bereiten – ausser, es tritt ein Staat wie Italien aus der Union aus. Doch wie können blosse Buchungen zu einem riesigen Problem werden? Eine Replik.
Zwar ist es um das sogenannte Target2-Problem ruhiger geworden, aber die Standpunkte haben sich verfestigt. Jede Seite behauptet, dass sich ihre Auffassung durchgesetzt habe. Nun ist auch der Volkswirt Ulrich van Suntum in einem kürzlich auf Ökonomenstimme veröffentlichten Beitrag zu dem Schluss gekommen, dass die Asymmetrien im Überweisungssystem des Europäischen Zentralbanksystems normalerweise kein Problem darstellen (van Suntum 2019). Nur für den Fall, dass ein Staat wie Italien aus der Union austritt, könnte es grössere Schwierigkeiten geben, die im Kern darin bestehen, dass das austretende Land den Rest der Gemeinschaft bestiehlt.
Ist das wirklich so? War das nicht schon die Position von Hans-Werner Sinn, nachdem er bereits 2010 ein paar überspitzte Thesen (wie die Kreditierung durch ein Überweisungssystem) stillschweigend zurückgenommen hat? Für Leute, die Argumente anderer nicht lesen, die zum Beispiel von mir zusammengetragen worden sind (Quaas 2011), hier noch einmal ganz kurz die entscheidenden sachlichen Zusammenhänge.
Finanzierung eines Leistungsbilanzdefizits
Ein italienischer Importeur kaufe fünf Luxus-PKW von einem deutschen Automobilhersteller. Zur Finanzierung des Geschäfts nimmt er einen Kredit von 1 Mio. Euro bei seiner Hausbank auf. Dazu muss er entsprechende Sicherheiten hinterlegen, zum Beispiel eine Hypothek auf eine seiner Immobilien aufnehmen. Wir bezeichnen diese Sorte Sicherheiten mit S1. Die italienische Geschäftsbank erweitert ihren Kreditrahmen bei der Banka d’Italia, indem sie ebenfalls dort Sicherheiten hinterlegt, zum Beispiel italienische Staatspapiere oder Aktien (im Weiteren: S2). Nachdem die fünf PKW eingetroffen sind, überweist der Importeur die 1 Mio. Euro an den deutschen Automobilhersteller. Bankenintern wird dabei sein Konto bei der italienischen Geschäftsbank belastet, wenn diese der Banka d’Italia die Anweisung zur länderübergreifenden Überweisung gibt. Die Banka d’Italia belastet das Konto der italienischen Geschäftsbank, wenn sie der Deutschen Bundesbank den Auftrag erteilt, der Hausbank des deutschen Automobilherstellers den Betrag gutzuschreiben.
Für die italienische Zentralbank waren die 1 Mio. Euro eine Verbindlichkeit gegenüber der italienischen Geschäftsbank. Nun hat sie eine Verbindlichkeit gegenüber der Deutschen Bundesbank, die man Target2-Schuld nennt. Die Deutsche Bundesbank verbucht die 1 Mio. Euro auf dem Konto der Hausbank des deutschen Automobilherstellers und diese schreibt der Firma den Betrag gut. Die Gegenbuchung zur Geldschöpfung der deutschen Bundesbank ist eine Target2-Forderung gegenüber der Banka d’Italia. Die Gegenbuchung zur Verbindlichkeit der deutschen Geschäftsbank gegenüber dem deutschen Automobilhersteller ist ihr um 1 Mio. Euro erweitertes Guthaben bei der Deutschen Bundesbank. Sobald der deutsche Automobilhersteller die 1 Mio. Euro auf seinem Konto sieht, wird er sagen: Die Schuld des italienischen Importeurs ist beglichen.
Die volkswirtschaftliche Sicht
Die Leistungsbilanz (LB) einer Volkswirtschaft (hier aus der Sicht Deutschlands) setzt sich im Allgemeinen aus den Nettoexporten NEx, dem Auslandssaldo der laufenden Transfers LTAS und dem Auslandssaldo der Primäreinkommen YPAS zusammen:
LB = NEx + LTAS + YPAS
Angewandt auf das Beispiel reduziert sich die Formel zu:
LB = NEx = 1 Mio. Euro
Die Zahlungsbilanz setzt die Leistungsbilanz LB mit der Kapitalbilanz KB in Beziehung:
LB + VÜB + SD + KB = 0
Vom Saldo der Vermögensübertragungen VÜB und dem Statistischen Fehler SD wird oftmals abgesehen, so dass einfach notiert wird:
LB + KB = 0
Alternativ:
LB = -KB = NKEx
Der oben als Beispiel dargestellte Geschäftsvorgang würde also volkswirtschaftlich bedeuten, dass Deutschland infolge des Exports einen Nettokapitalexport NKEx von 1 Mio. Euro zu verzeichnen hat. Das ist auch dann der Fall, wenn keine Investitionsgüter, sondern Konsumgüter nach Italien exportiert worden sind. Das aus Italien stammende Geld in Händen des deutschen Automobilherstellers gilt in der Kapitalbilanzrechnung als zinsloser Kredit an die italienische Wirtschaft. Womöglich ist das Geld inzwischen weitergereicht worden, indem damit die Forderungen der Arbeiter, Angestellten, Zulieferer und Eigentümer des Automobilherstellers beglichen worden sind. Wo genau die 1 Mio. Euro letztlich verblieben sind, lässt sich statistisch nicht feststellen. Und obwohl die Schulden des italienischen Importeuers bezahlt worden sind, besteht auf volkswirtschaftlicher Ebene durch den Leistungsbilanzüberschuss eine Art sofort vollstreckbare Schuld Italiens gegenüber der deutschen Volkswirtschaft. Diese Schuld kann nur dadurch abgetragen werden, dass irgendwelche deutschen Besitzer von Euro Waren oder Wertpapiere im Werte von 1 Mio. Euro in Italien einkaufen. Wenn das nicht geschieht, bleibt das Leistungsbilanzdefizit Italiens gegenüber der deutschen Volkswirtschaft bestehen.
Draghis Bluff
Für die Diskussion des sogenannten Target2-Problems ist nun festzuhalten, dass durch die Finanzierung des Leistungsbilanzdefizites eine ganze Kette von Kreditverhältnissen geschaffen wird, wobei der Kredit an den italienischen Importeur am Anfang steht und irgendeine diffuse Gruppe von deutschen Geldbesitzern am Ende der Kette. Des Weiteren ist festzustellen, dass die Bilanz jedes Akteurs in der Kreditkette ausgeglichen ist: Stets stehen sich Aktiva und Passiva in gleicher Höhe gegenüber (von eventuellen Zinsforderungen einmal abgesehen).
Im Januar 2017 wurde bekannt, dass Draghi in einem Brief an zwei italienische Abgeordnete des Europaparlaments darauf hingewiesen haben soll, dass Italien „zuvor seine Target2-Verbindlichkeiten restlos bezahlen [muss]: ‚If a country were to leave the Eurosystem, its national central bank’s claims on or liabilities to the ECB would need to be settled in full.‘“ (Finanzmarktwelt 2017) „Bezahlen“ könnte die Banka d‘ Italia nur mit den Assets, die Gegenbuchungen zu ihren Targetverbindlichkeiten darstellen, und das sind die Sicherheiten der Sorte S2 (siehe oben), die von italienischen Geschäftsbanken bei der eigenen Nationalbank hinterlegt worden sind. Zum Leidwesen der Deutschen Bundesbank befinden sich nach Lockerung der Anforderungen an die zu hinterlegenden Sicherheiten inzwischen darunter auch solche der Sorte S1. Zwar wäre es technisch möglich, auf diese Weise in die Kreditkette einzugreifen und eine solche Übertragung vorzunehmen, mit dem Resultat, dass sich die Europäische Zentralbank und die Deutsche Bundesbank mit Tausenden italienischen Geschäftsbanken und Unternehmen herumschlagen müsste, die sich plötzlich als bei einer ausländischen Bank mit Sitz in Frankfurt verschuldet sehen würden. Wie sie nach einem eventuellen Austritt aus dem Euro und nach Umstellung auf die italienische Lira ihren Schuldendienst bezahlen können sollen, wird wohl Draghis Geheimnis bleiben.
Aber geldpolitischen Laien, auch denen an der Spitze einer Regierung, kann man so einiges erzählen, ohne auf sachlichen Widerspruch zu stoßen, in der Hoffnung auf eine abschreckende Wirkung gegenüber Austrittsplänen. Dass Draghis Idee bei der Deutschen Bundesbank nicht auf besondere Gegenliebe stösst, belegt folgende Aussage des Bundesbank-Präsidenten Jens Weidmann, die er einen Monat später gemacht hat: „Die Target2-Forderungen sind eine Forderung gegenüber der EZB. Die EZB ist ein verlässlicher Schuldner. Ob sich die Situation verbessert, wenn man diese Forderungen beispielsweise gegen Wertpapiere eines Euro-Raum-Staates tauscht, darüber kann man diskutieren. Würde es Sie beruhigen, wenn wir statt dieser Forderung beispielsweise italienische, spanische oder portugiesische Staatsanleihen in unserer Bilanz hielten? Ich habe lieber eine Forderung gegenüber der EZB.“ (DBB 2017)
Die Diebstahls-These
Der Austritt eines Landes aus der Währungsunion würde eine Menge Probleme erzeugen, aber sicherlich keines, das durch die Target2-Salden verursacht ist. Dem Laien in Fragen der Geldpolitik und des Aussenhandels, aber auch manchem Volkswirt, erscheint es so, als ob die Überschussländer bestohlen worden sind: „Da die Banca d’Italia das Geld ja praktisch nur im Auftrag der EZB in Umlauf gebracht hat, gehören ihr die dafür erworbenen Aktiva eigentlich nur zu 12%. Der Targetsaldo zeigt nun nichts Anderes an, als dass sie bei einem Ausscheiden die zu viel in ihrer Bilanz stehenden Aktiva an den Rest der Eurozone zurückgeben müsste!“ Und: „Scheidet Italien aber aus, könnte die Banca d’Italia auf die Idee kommen, diese einfach zu behalten und auf die Rückübertragung (d.h. ihre Target-Verpflichtung) zu pfeifen. Entsprechende Andeutungen wurden aus der neuen Regierung dort auch schon gemacht. Nicht nur Deutschland, die gesamte Eurozone wäre dann bestohlen worden. Soweit sollte es natürlich nicht kommen.“ (van Suntum 2018) Was würde wirklich passieren – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, versteht sich?
Das Austrittsszenario am Beispiel Italiens
Der volkswirtschaftliche Aspekt: Wenn Italien austritt und seine neue/alte Währung Lira wieder einführt, so doch aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Ziel, die Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten zurückzuerlangen, indem sie nun ihre eigene Währung abwerten lassen kann. Eine Abwertung der Lira gegenüber dem Dollar und dem verbliebenen Euro bedeutet, dass die Geldbesitzer aus dem obigen Beispiel sehr viel mehr an Waren und wahrscheinlich auch an Wertpapieren in Italien kaufen können, als dies momentan der Fall ist. Ihre Kaufkraft hätte sich in dem Maße erhöht, wie die Lira abwertet. Nun meine Frage an den o.g. Volkswirt: Wer ist unter dieser Bedingung (Austritt Italiens!) „bestohlen“ worden?
Der geldpolitische Aspekt: Unterstellen wir einmal, die Bankschuldverschreibungen und Staatspapiere, die in der Banka d’Italia lagern, entsprechen den Anforderungen der EZB, haben also mindestens den Wert, für den Geld geschöpft/Kredite vergeben worden ist/sind. Die Schuldner, die Zinsen darauf zahlen müssen, sind überwiegend italienische Geschäftsbanken und Unternehmen. Nun tritt nach unserer Annahme Italien aus dem Euro aus und führt die Lira wieder ein. Würde die Banka d’Italia darauf bestehen, dass die Schulden ihrer Landsleute in Euro bezahlt werden – ebenso die Zinsen –, so wäre die italienische Geschäftswelt dazu nicht mehr in der Lage, da die neue Währung gegenüber dem Euro stark abgewertet haben würde. Die italienische Volkswirtschaft läge in wenigen Wochen am Boden. Die Banka d’Italia würde also aus politischen und volkswirtschaftlichen (!) Gründen, aber rechtlich nicht ganz sauber, ihren Kunden zugestehen müssen, dass die Schulden 1:1 in Lira (oder in einem anderen festen Verhältnis) beglichen werden können. Nur so könnte der Übergang zur neuen/alten Währung funktionieren.
Hätte die Banka d’Italia ihre Assets zur Bundesbank transferiert, um dort die positiven Targetforderungen zu begleichen, sollte sie gleich noch die italienischen Geschäftsbanken und Unternehmen mit nach Deutschland transferieren. Denn nur so können diese ihren Schuldendienst in Euro zahlen. Das ist natürlich absurd. Genauso absurd ist die Idee, jene Sicherheiten S2 (noch absurder: S1) der EZB oder der Bundesbank zu übereignen. Es wäre kein Diebstahl, sondern eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit, die italienischen Kredite und alles, was dazu gehört, in Italien zu belassen, auch wenn diese seit zwei Jahrzehnten in Euro notiert werden.
Fazit
Die Crème de la Crème der deutschen Volkswirtschaftslehre jagt seit fast einem Jahrzehnt einem Scheinproblem nach. Wen wundert es da, wenn ganz ungeniert und unwidersprochen erklärt wird, dass eine „gültige Aussage zum Funktionieren der Wirtschaft kaum möglich ist“? (Müller 2019) Immerhin ist es ein Fortschritt, dass weitere Volkswirte zu der Auffassung gekommen sind: Die Asymmetrie in den Target2-Salden sind nur ein Symptom tiefer liegender Probleme, stellen aber normalerweise nicht selber ein Problem dar. Ulrich van Suntum (2018) ist zu dem Schluss gekommen, dass „die Targetsalden … tatsächlich reine Buchungsvorgänge“ sind, „um die man sich eigentlich nicht weiter kümmern müsste.“ Jedoch: „Wenn ein Land aus dem Euro ausscheidet oder die ganze Währungsunion zerbricht, werden die Targetsalden sofort zu einem riesigen Problem.“
Man fragt sich: Wie können blosse Buchungen zu einem riesigen Problem werden? Buchungen sind ein Ordnungsmittel, das in diesem Fall die Beziehungen der nationalen Zentralbanken zueinander regelt, indem es ihnen hilft, die Übersicht über aus- und eingehende Zahlungen zu behalten und den Gewinn- und Verlustanteil zu verteilen. Der Glaube, sie könnten zu einem realen volkswirtschaftlichen Problem werden, grenzt an Magie.
Deutsche Bundesbank (2017). Editierte Abschrift der Frage- und Antwortrunde [mit Jens Weidmann] anlässlich der Jahrespressekonferenz am 23.02.2017[ a ].
Finanzmarktwelt (2017). Draghis Warnung an Italien: Wer aus der Eurozone austritt, muss seine Target-Schulden bezahlen![ b ] Finanzmarktwelt online, 23.01.2017.
Müller, Christian (2019): Wissen in der Volkswirtschaftslehre, 05.02.2019, Ökonomenstimme.
Quaas, Georg (2011): Ein kritisches Resümee des Target2-Problems[ c ], in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg., Heft 12, S.834-842.
Van Suntum, Ulrich (2018): Das Billionengrab. Was Targetsalden wirklich bedeuten[ d ], 07.08.2018, Internetseiten Wirtschaftliche Freiheit.
Van Suntum, Ulrich (2019): Europäische Targetsalden – Wie gefährlich sind die grossen Ungleichgewichte? 12.02.2019, Ökonomenstimme.
Zwar ist es um das sogenannte Target2-Problem ruhiger geworden, aber die Standpunkte haben sich verfestigt. Jede Seite behauptet, dass sich ihre Auffassung durchgesetzt habe. Nach acht Jahren Nachdenkens ist nun auch der Volkswirt Ulrich van Suntum aufgrund einer Diskussion mit – nach seiner Aussage – Christian von Weizsäcker und einigen anderen, sicherlich ebenfalls hochkarätigen, aber namentlich nicht genannten Ökonomen zu dem Schluss gekommen, dass die Asymmetrien im Überweisungssystem des Europäischen Zentralbanksystems normalerweise kein Problem darstellen (van Suntum 2019). Nur für den Fall, dass ein Staat wie Italien aus der Union austritt, könnte es grössere Probleme geben, die im Kern darin bestehen, dass das austretende Land den Rest der Gemeinschaft bestiehlt.
Ist das wirklich so? War das nicht schon die Position von Hans-Werner Sinn, nachdem er bereits 2010 ein paar überspitzte Thesen (wie die Kreditierung durch ein Überweisungssystem) stillschweigend zurückgenommen hat? Für Leute, die Argumente anderer nicht lesen, die zum Beispiel von mir zusammengetragen worden sind (Quaas 2011), hier noch einmal ganz kurz die entscheidenden sachlichen Zusammenhänge.
Finanzierung eines Leistungsbilanzdefizits
Ein italienischer Importeur kaufe fünf Luxus-PKW von einem deutschen Automobilhersteller. Zur Finanzierung des Geschäfts nimmt er einen Kredit von 1 Mio. Euro bei seiner Hausbank auf. Dazu muss er entsprechende Sicherheiten hinterlegen, zum Beispiel eine Hypothek auf eine seiner Immobilien aufnehmen. Wir bezeichnen diese Sorte Sicherheiten mit S1. Die italienische Geschäftsbank erweitert ihren Kreditrahmen bei der Banka d’Italia, indem sie ebenfalls dort Sicherheiten hinterlegt, zum Beispiel italienische Staatspapiere oder Aktien (im Weiteren: S2). Nachdem die fünf PKW eingetroffen sind, überweist der Importeur die 1 Mio. Euro an den deutschen Automobilhersteller. Bankenintern wird dabei sein Konto bei der italienischen Geschäftsbank belastet, wenn diese der Banka d’Italia die Anweisung zur länderübergreifenden Überweisung gibt. Die Banka d’Italia belastet das Konto der italienischen Geschäftsbank, wenn sie der Deutschen Bundesbank den Auftrag erteilt, der Hausbank des deutschen Automobilherstellers den Betrag gutzuschreiben. Für die italienische Zentralbank waren die 1 Mio. Euro eine Verbindlichkeit gegenüber der italienischen Geschäftsbank. Nun hat sie eine Verbindlichkeit gegenüber der Deutschen Bundesbank, die man Target2-Schuld nennt. Die Deutsche Bundesbank verbucht die 1 Mio. Euro auf dem Konto der Hausbank des deutschen Automobilherstellers und diese schreibt der Firma den Betrag gut. Die Gegenbuchung zur Geldschöpfung der deutschen Bundesbank ist eine Target2-Forderung gegenüber der Banka d’Italia. Die Gegenbuchung zur Verbindlichkeit der deutschen Geschäftsbank gegenüber dem deutschen Automobilhersteller ist ihr um 1 Mio. Euro erweitertes Guthaben bei der Deutschen Bundesbank. Sobald der deutsche Automobilhersteller die 1 Mio. Euro auf seinem Konto sieht, wird er sagen: Die Schuld des italienischen Importeurs ist beglichen.
Die volkswirtschaftliche Sicht
Die Leistungsbilanz einer Volkswirtschaft (hier aus der Sicht Deutschlands) setzt sich im Allgemeinen aus den Nettoexporten NEx, dem Auslandssaldo der laufenden Transfers LTAS und dem Auslandssaldo der Primäreinkommen YPAS zusammen:
Angewandt auf das Beispiel reduziert sich die Formel zu:
Die Zahlungsbilanz setzt die Leistungsbilanz LB mit der Kapitalbilanz KB in Beziehung:
Vom Saldo der Vermögensübertragungen VÜB und dem Statistischen Fehler SD wird oftmals abgesehen, so dass einfach notiert wird:
Alternativ:
Der oben als Beispiel dargestellte Geschäftsvorgang würde also volkswirtschaftlich bedeuten, dass Deutschland infolge des Exports einen Nettokapitalexport NKEx von 1 Mio. Euro zu verzeichnen hat. Das ist auch dann der Fall, wenn keine Investitionsgüter, sondern Konsumgüter nach Italien exportiert worden sind. Das aus Italien stammende Geld in Händen des deutschen Automobilherstellers gilt in der Kapitalbilanzrechnung als zinsloser Kredit an die italienische Wirtschaft. Womöglich ist das Geld inzwischen weitergereicht worden, indem damit die Forderungen der Arbeiter, Angestellten, Zulieferer und Eigentümer des Automobilherstellers beglichen worden sind. Wo genau die 1 Mio. Euro letztlich verblieben sind, lässt sich statistisch nicht feststellen. Und obwohl die Schulden des italienischen Importeuers bezahlt worden sind, besteht auf volkswirtschaftlicher Ebene durch den Leistungsbilanzüberschuss eine Art sofort vollstreckbare Schuld Italiens gegenüber der deutschen Volkswirtschaft. Diese Schuld kann nur dadurch abgetragen werden, dass irgendwelche deutschen Besitzer von Euro Waren oder Wertpapiere im Werte von 1 Mio. Euro in Italien einkaufen. Wenn das nicht geschieht, bleibt das Leistungsbilanzdefizit Italiens gegenüber der deutschen Volkswirtschaft bestehen.
Draghis Bluff
Für die Diskussion des sogenannten Target2-Problems ist nun festzuhalten, dass durch die Finanzierung des Leistungsbilanzdefizites eine ganze Kette von Kreditverhältnissen geschaffen wird, wobei der Kredit an den italienischen Importeur am Anfang steht und irgendeine diffuse Gruppe von deutschen Geldbesitzern am Ende der Kette. Des Weiteren ist festzustellen, dass die Bilanz jedes Akteurs in der Kreditkette ausgeglichen ist: Stets stehen sich Aktiva und Passiva in gleicher Höhe gegenüber (von eventuellen Zinsforderungen einmal abgesehen).
Im Januar 2017 wurde bekannt, dass Draghi in einem Brief an zwei italienische Abgeordnete des Europaparlaments darauf hingewiesen haben soll, dass Italien „zuvor seine Target2-Verbindlichkeiten restlos bezahlen [muss]: ‚If a country were to leave the Eurosystem, its national central bank’s claims on or liabilities to the ECB would need to be settled in full.‘“ (Finanzmarktwelt 2017) „Bezahlen“ könnte die Banka d‘ Italia nur mit den Assets, die Gegenbuchungen zu ihren Targetverbindlichkeiten darstellen, und das sind die Sicherheiten der Sorte S2 (siehe oben), die von italienischen Geschäftsbanken bei der eigenen Nationalbank hinterlegt worden sind. Zum Leidwesen der Deutschen Bundesbank befinden sich nach Lockerung der Anforderungen an die zu hinterlegenden Sicherheiten inzwischen darunter auch solche der Sorte S1. Zwar wäre es technisch möglich, auf diese Weise in die Kreditkette einzugreifen und eine solche Übertragung vorzunehmen, mit dem Resultat, dass sich die Europäische Zentralbank und die Deutsche Bundesbank mit Tausenden italienischen Geschäftsbanken und Unternehmen herumschlagen müsste, die sich plötzlich als bei einer ausländischen Bank mit Sitz in Frankfurt verschuldet sehen würden. Wie sie nach einem eventuellen Austritt aus dem Euro und nach Umstellung auf die italienische Lira ihren Schuldendienst bezahlen können sollen, wird wohl Draghis Geheimnis bleiben.
Aber geldpolitischen Laien, auch denen an der Spitze einer Regierung, kann man so einiges erzählen, ohne auf sachlichen Widerspruch zu stossen, in der Hoffnung auf eine abschreckende Wirkung gegenüber Austrittsplänen. Dass Draghis Idee bei der Deutschen Bundesbank nicht auf besondere Gegenliebe stösst, belegt folgende Aussage des Bundesbank-Präsidenten Jens Weidmann, die er einen Monat später gemacht hat: „Die Target2-Forderungen sind eine Forderung gegenüber der EZB. Die EZB ist ein verlässlicher Schuldner. Ob sich die Situation verbessert, wenn man diese Forderungen beispielsweise gegen Wertpapiere eines Euro-Raum-Staates tauscht, darüber kann man diskutieren. Würde es Sie beruhigen, wenn wir statt dieser Forderung beispielsweise italienische, spanische oder portugiesische Staatsanleihen in unserer Bilanz hielten? Ich habe lieber eine Forderung gegenüber der EZB.“ (DBB 2017)
Die Diebstahls-These
Der Austritt eines Landes aus der Währungsunion würde eine Menge Probleme erzeugen, aber sicherlich keines, das mit den Target2-Salden zusammenhängt. Dem Laien in Fragen der Geldpolitik und des Aussenhandels, aber auch manchem Volkswirt, erscheint es so, als ob die Überschussländer bestohlen worden sind: „Da die Banca d’Italia das Geld ja praktisch nur im Auftrag der EZB in Umlauf gebracht hat, gehören ihr die dafür erworbenen Aktiva eigentlich nur zu 12%. Der Targetsaldo zeigt nun nichts Anderes an, als dass sie bei einem Ausscheiden die zu viel in ihrer Bilanz stehenden Aktiva an den Rest der Eurozone zurückgeben müsste!“ Und: „Scheidet Italien aber aus, könnte die Banca d’Italia auf die Idee kommen, diese einfach zu behalten und auf die Rückübertragung (d.h. ihre Target-Verpflichtung) zu pfeifen. Entsprechende Andeutungen wurden aus der neuen Regierung dort auch schon gemacht. Nicht nur Deutschland, die gesamte Eurozone wäre dann bestohlen worden. Soweit sollte es natürlich nicht kommen.“ (van Suntum 2018) Was würde wirklich passieren – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, versteht sich?
Das Austrittsszenario am Beispiel Italiens
Der volkswirtschaftliche Aspekt: Wenn Italien austritt und seine neue/alte Währung Lira wieder einführt, so doch aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Ziel, die Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten zurückzuerlangen, indem sie nun ihre eigene Währung abwerten lassen kann. Eine Abwertung der Lira gegenüber dem Dollar und dem verbliebenen Euro bedeutet, dass die Geldbesitzer aus dem obigen Beispiel sehr viel mehr an Waren und wahrscheinlich auch an Wertpapieren in Italien kaufen können, als das momentan der Fall ist. Ihre Kaufkraft hätte sich in dem Masse erhöht, wie die Lira abwertet. Nun meine Frage an den o.g. Volkswirt: Wer ist unter dieser Bedingung (Austritt Italiens!) „bestohlen“ worden?
Die Wirkung eines Austritts auf die verbleibenden Länder erfordert eine umfassendere Analyse. Bleibt es bei einem einzigen grossen Land, dürfte sie vor allem in einer höheren Inflationsrate liegen, die von der EZB zwar seit Jahren angestrebt wird, deren Dämpfung aber dann nur unter Inkaufnahme höherer volkswirtschaftlicher Verluste möglich sein wird.
Der geldpolitische Aspekt: Unterstellen wir einmal, die Bankschuldverschreibungen und Staatspapiere, die in der Banka d’Italia lagern, entsprechen den Anforderungen der EZB, haben also mindestens den Wert, für den Geld geschöpft/Kredite vergeben worden ist/sind. Die Schuldner, die Zinsen darauf zahlen müssen, sind überwiegend italienische Geschäftsbanken und Unternehmen. Nun tritt nach unserer Annahme Italien aus dem Euro aus und führt die Lira wieder ein. Würde die Banka d’Italia darauf bestehen, dass die Schulden ihrer Landsleute in Euro bezahlt werden – ebenso die Zinsen –, so wäre die italienische Geschäftswelt dazu nicht mehr in der Lage, da die neue Währung gegenüber dem Euro stark abgewertet haben würde. Die italienische Volkswirtschaft läge in wenigen Wochen am Boden. Die Banka d’Italia würde also aus politischen und volkswirtschaftlichen (!) Gründen, aber rechtlich nicht ganz sauber, ihren Kunden zugestehen müssen, dass die Schulden 1:1 in Lira (oder in einem anderen festen Verhältnis) beglichen werden können. Nur so könnte der Übergang zur neuen/alten Währung funktionieren.
Hätte die Banka d’Italia ihre Assets zur Bundesbank transferiert, um dort die positiven Targetforderungen zu begleichen, sollte sie gleich noch die italienischen Geschäftsbanken und Unternehmen mit nach Deutschland transferieren. Denn nur so können diese ihren Schuldendienst in Euro zahlen. Das ist natürlich absurd. Genauso absurd ist die Idee, jene Sicherheiten S2 (noch absurder: S1) der EZB oder der Bundesbank zu übereignen. Es wäre kein Diebstahl, sondern eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit, die italienischen Kredite und alles, was dazu gehört, in Italien zu belassen, auch wenn diese seit zwei Jahrzehnten in Euro notiert werden.
Schluss
Die Crème de la Crème der deutschen Volkswirtschaftslehre jagt seit fast einem Jahrzehnt einem Scheinproblem nach. Wen wundert es da, wenn ganz ungeniert und unwidersprochen erklärt wird, dass eine „gültige Aussage zum Funktionieren der Wirtschaft kaum möglich ist“? (Müller 2019) Immerhin ist es ein Fortschritt, dass zwei (?) weitere Volkswirte zu der Auffassung gekommen sind: Die Asymmetrie in den Target2-Salden sind nur ein Symptom tiefer liegender Probleme, stellen aber normalerweise nicht selber ein Problem dar. Ulrich van Suntum (2018) ist zu dem Schluss gekommen, dass „die Targetsalden … tatsächlich reine Buchungsvorgänge“ sind, „um die man sich eigentlich nicht weiter kümmern müsste.“ Jedoch: „Wenn ein Land aus dem Euro ausscheidet oder die ganze Währungsunion zerbricht, werden die Targetsalden sofort zu einem riesigen Problem.“ Man fragt sich: Wie können blosse Buchungen zu einem riesigen Problem werden? Buchungen sind ein Ordnungsmittel, das in diesem Fall die Beziehungen der nationalen Zentralbanken zueinander regelt, indem es ihnen hilft, die Übersicht über aus- und eingehende Zahlungen zu behalten und den Gewinn- und Verlustanteil zu verteilen. Der Glaube, sie könnten zu einem realen volkswirtschaftlichen Problem werden, grenzt an Magie.
©KOF ETH Zürich, 20. Feb. 2019