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Arbeit muss teuer sein – und sich rar machen

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Passen die Marktwirtschaft und Vollbeschäftigung zusammen? Eher nicht, wie dieser Beitrag argumentiert. Wer Marktwirtschaft will, müsse mit sinkender Beschäftigung umgehen können. Marktwirtschaft ist bekanntlich eine Veranstaltung, bei der es darum geht, mit möglichst wenig Aufwand, möglichst viel zu produzieren. Dieses Prinzip ist so erfolgreich, dass sich Deutschland schon bald nach dem 2. Weltkrieg über das "Wirtschaftswunder" (der 1960erjahre) freuen konnte, mit Ferien am Mittelmeer für fast alle. Auch im halben Jahrhundert danach hat der Markt so gut funktioniert, dass sich die Produktivität pro Arbeitsstunde noch einmal verdreifacht hat. Dass der Markt weiterhin so funktioniert, wie es im Lehrbuch steht, zeigt sich auch daran, dass die Wirtschaftspolitik immer mehr zu einer

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Passen die Marktwirtschaft und Vollbeschäftigung zusammen? Eher nicht, wie dieser Beitrag argumentiert. Wer Marktwirtschaft will, müsse mit sinkender Beschäftigung umgehen können.

Marktwirtschaft ist bekanntlich eine Veranstaltung, bei der es darum geht, mit möglichst wenig Aufwand, möglichst viel zu produzieren. Dieses Prinzip ist so erfolgreich, dass sich Deutschland schon bald nach dem 2. Weltkrieg über das "Wirtschaftswunder" (der 1960erjahre) freuen konnte, mit Ferien am Mittelmeer für fast alle. Auch im halben Jahrhundert danach hat der Markt so gut funktioniert, dass sich die Produktivität pro Arbeitsstunde noch einmal verdreifacht hat. Dass der Markt weiterhin so funktioniert, wie es im Lehrbuch steht, zeigt sich auch daran, dass die Wirtschaftspolitik immer mehr zu einer Veranstaltung wird, bei der es darum geht, mit möglichst wenig Geld, für möglichst viel Beschäftigung zu sorgen. Dabei ist die Frage, welche Bedürfnisse mit dieser Arbeit befriedigt werden, nicht erlaubt.

Billig-Arbeit

Deutschland gehört in dieser Disziplin zur Weltspitze und zu den Vorreitern. Das zeigt sich etwa daran, dass Zalando, Ebay oder Conrad Electronic ihren Kunden in Deutschland einen Service anbieten können, der bei Zalando "Same Day Delivery"[ a ] heisst. "Für 19 Euro pro Jahr "können Kunden ihre Bestellungen bereits am selben Tag erhalten und ihre Retouren bequem bei sich zu Hause abholen lassen".

Da wird mit sehr wenig Geld, enorm viel Arbeit generiert: Zuerst muss das Zentrallager die Bestellungen aufnehmen. Dann muss die bestellte Ware aus dem Lager geholt und eingepackt werden. Anschliessend müssen die Pakete für eine optimale Tour zusammengestellt werden. Szenenwechsel. Auftritt des Kuriers. Noch vor Morgengrauen klingelt der Wecker. Kurzer Kaffee, dann Fahrt zum ca. 10 Kilometer entfernten Zalando Verteilzentrum. Dort Pakete in der Reihenfolge der Auslieferung im Laderaum verstauen. Fahrt ins Zielgebiet. Bei 4 Verteilzentren in Deutschland sind das schnell mal 80 Kilometer oder mehr. Das GPS hat unter Berücksichtigung der aktuellen Verkehrspage schon ausbaldowert, in welcher Reihenfolge die Kunden anzufahren sind. Ist erst einmal ein Parkplatz gefunden, soll das System dem Fahrer demnächst auch sagen, für welche Kunden es Sinn macht, das Paket gleich mitzunehmen. Dann: Klingeln, warten, eventuell beim Nachbarn klingeln, Treppe hoch, Paket abliefern, Treppe runter. Nächster Kunde. Das ganze drei Mal pro Kunde, denn im Schnitt wird jedes zweite Paket retourniert und wird gratis wieder abgeholt, bevor es bei zweiten Versuch (bzw. beim dritten Transport) endlich klappt. Auch im Lager sorgen die Retouren dafür, dass viel Arbeit geschaffen wird. Paket öffnen, aussortieren, Ware zurück ins Lager. Dazu kommt die Arbeit der Leute, die den Wagenparkt unterhalten, die Software entwickeln und die Verkehrsopfer pflegen. Das alles für 19 Euro nicht etwa pro Lieferung, sondern pro Jahr.

Dass diese Wunder der Arbeitsbeschaffung überhaupt möglich sind, ist die Folge einer gezielten Arbeitsmarktpolitik. Sie sorgt dafür, dass die Unternehmen tiefe Löhne zahlen können. Die Differenz zum Existenzminimum inkl. Altersvorsorge wird teils vom Staat übernommen, teils von den billigen Arbeitskräften selbst. Die Währung, mit der sie zahlen, ist eine um etwa acht Jahre verkürzte Lebenswartung[ b ]. Eine solche Wirtschaftspolitik lässt sich mit der ökonomischen Theorie nur dann halbwegs vereinbaren, wenn man annimmt, dass es sich hier um einen vorübergehenden Rückschlag handelt, um eine Erstverschlechterung. Doch das Zeitfenster, in dem eine solche Rechtfertigung halbwegs glaubhaft klang, ist längst geschlossen. Vorbei ist offenbar leider auch die Zeit, als die Ökonomen noch dachten, der Markt diene der Mehrung des allgemeinen Wohlstands.

Jetzt ist das Erfolgskriterium aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen die Beschäftigung. Sozial ist, was Arbeit schafft. Nach diesem Kriterium lässt sich durchaus begründen, oder gar ökonometrisch belegen, dass Mindestlöhne "negative Beschäftigungseffekte" haben. Auch auf der Ökonomenstimme erscheinen regelmässig Beiträge, wonach Mindestlöhne per Saldo Jobs "vernichten" (etwa hier). Auch unser obiges Beispiel stützt diese These: Müsste Zalando Löhne zahlen, die wenigstens die Kosten der Lebenshaltung decken, würden wir unsere Klamotten wieder wie einst im Laden kaufen, oder wir würden mal nachsehen, was noch im Kleiderschrank hängt. Die Arbeit der Kuriere und Lagerarbeiter ist nach den Kriterien des Marktes keinen existenzsichernden Lohn wert, sonst würden die Kunden mehr dafür bezahlen als 19 Euro pro Jahr. Es ist also durchaus denkbar, dass ein höherer Mindestlohn die Hälfte der gut 450'000 Jobs in der deutschen Kurierbranche "vernichten" würde.

Hohe Löhne helfen

Nun gibt es aber auch Ökonomen, die zwar auch Arbeit schaffen oder die Beschäftigung zumindest erhalten wollen, aber der Meinung sind, dass hohe Löhne diesen Zweck nicht vereiteln.  Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt argumentieren in ihrem neuen Buch "Gescheiterte Globalisierung"[ c ] wie folgt: "Dadurch, dass die Menschen etwas klüger machen als vorher, wird niemand arbeitslos. Weil durch die Zunahme der Produktivität das Einkommen steigen kann, ist es für alle möglich, sich mehr Güter und Freizeit zu leisten. Im Falle der zusätzlichen Güternachfrage muss folglich dafür gesorgt werden, dass diejenigen die vorwiegend Nachfrage in einer Wirtschaft entfalten werden und entsprechenden Bedarf haben, die Einkommen in die Hand bekommen, die sie brauchen, um diese zusätzliche Produktion zu kaufen." Kurz zusammengefasst: Höhere Löhne gleich mehr Nachfrage, gleich mehr Jobs.

Diese neuen Jobs haben den grossen Vorzug, dass damit Güter und Dienstleistungen hergestellt werden, die dringend gebraucht werden. Wer früher für einen Hungerlohn als Kurier auf verstopften Strassen sinnlos Klamotten verschoben hat, backt jetzt das Brot,  baut jetzt die Wohnung, oder arbeitet in dem Fitnesscenter, das sich seinesgleichen damals nicht leisten konnte. Das allein wäre Rechtfertigung genug für Löhne, die nicht nur die Existenz- sondern auch einen angemessenen Wohlstand sichern.

Dennoch müssen wir auch auf die Frage eingehen, ob die von Flassbeck und anderen geforderten hohen Löhne auseichend Jobs schaffen und die Beschäftigung sichern können. Das lässt sich empirisch überprüfen. Seit 1988 sind die Löhne in Deutschland im Vergleich zum BIP um rund 8% gesunken. Hätten sie sich – wie von Flassbeck und anderen gefordert – parallel zum BIP entwickelt, wäre die Lohnsumme von heute rund 1700 Mrd. um rund 136 Milliarden oder etwa 4% des BIP höher. Bei einem unveränderten Verhältnis von BIP zu Jobs würde das rund 1,6 Millionen neue Jobs generieren.  Um einen ähnlichen Nachfrage- und Beschäftigungseffekt zu erzielen, müsste man – nur um eine Grössenordnung zu nennen – den rund 10 Millionen Beschäftigten, die unter der Niedriglohnschwelle von 10.50 Euro verdienen (hier[ d ]) (und schätzungsweise nur 900 Stunden arbeiten) den Stundenlohn um rund 15 auf 25 Euro pro Stunde erhöhen.

Könnten diese 1,6 Millionen bzw. rund 4% neuen Jobs den Ausfall der Billigjobs kompensieren? Schwer zu sagen. Denkbar wäre es, doch mehr als ein Netto-Effekt von 2% wäre kaum zu erwarten. Doch dann bleibt immer noch die Frage, ob diese paar Prozent reichen, um die Vollbeschäftigung aufrecht zu erhalten und die Erosion der Beschäftigung (Stichwort Digitalisierung) zu stoppen.

Zunächst ist unbestritten, dass eine steigende Produktivität mit sinkender Beschäftigung korreliert ist. In Deutschland etwa ist die Produktivität seit 1988 um 73% auf 56 Euro pro Arbeitsstunde gestiegen, während die durchschnittliche Arbeitszeit um rund 20% auf 1353 Jahresstunden gesunken ist. (In der Schweiz finden wir eine ähnliche Relation: 34% mehr Produktivität, 9% weniger Arbeit) Der technologische Fortschritt schafft per Saldo eben keine zusätzliche Arbeit. Der nervenaufreibende Sesseltanz um die schwindende bezahlte Arbeit ist längst im Gang.

Aktuell sieht das Zwischenergebnis in etwa so aus: Zunächst zieht Deutschland mit seinen chronischen Exportüberschüssen 7 bis 8% des BIP über den Daumen gepeilt 3 Millionen Arbeitskräften im Ausland den Sessel unter dem Hintern weg. In Deutschland selbst sind 32% der 55 bis 64jährigen – aus welchen Gründen auch immer – aus dem Arbeitsleben ausgeschieden.  Vom grossen Rest der Erwerbspersonen haben etwa 15% gar keine oder nur eine geringfügige Beschäftigung von etwa 9 Wochenstunden zum Mindestlohn. Rund 20% arbeiten im Schnitt während 33 Wochenstunden und kommt mit rund 2000 Euro brutto knapp über die Runden. Nur schwach zwei Drittel schliesslich (überwiegend Männer) haben einen Vollzeitjob mit durchschnittlich 37 Wochenstunden und einem Bruttoeinkommen von ca. 2800 Euro aufwärts.

Im Schnitt ergibt das pro Beschäftigten in etwa eine 31- und pro (arbeitswillige) Erwerbsperson etwa eine 29-Stundenwoche. Die tarifliche Arbeitszeit in der Industrie liegt aber immer noch bei 37.7 Stunden (gegenüber 40,2 Stunden anno 1988) gesunken. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) arbeiten Vollzeiter samt Überstunden im Schnitt sogar 43,5 Stunden. (hier[ e ])

Wieviel wir für was arbeiten

Das heisst: Weder haben die Verbilligung der Arbeit und der Sieg im Standortwettbewerb den Rückgang des Arbeitsvolumens aufgehalten, noch wären höhere Löhne in der Lage, für Vollbeschäftigung im Sinne der 40-Stundenwoche zu sorgen. So viele Produkte und Dienstleistungen brauchen wir nicht, und wir könnten diese Konsumleistung auch aus rein ökologischen Gründen nicht lange durchhalten. Marktwirtschaft und Vollbeschäftigung passen logisch nicht zusammen. Positiv formuliert: Wer Marktwirtschaft will, muss damit umgehen können, dass die bezahlte Arbeit schrumpft. In einem "Brief an seine Enkel[ f ]" hat Maynard  Keynes schon 1930 befürchtet, dass uns dies sehr schwer fallen wird. "Denn wir sind zu lange trainiert worden, zu streben statt zu genießen. Für den durchschnittlichen Menschen ohne besondere Begabungen ist es eine beängstigende Aufgabe, sich selbst zu beschäftigen, besonders, wenn er nicht mehr mit der Heimat (......) verwurzelt ist."

Diese Aufgabe zu lösen, heisst, eine neues Gleichgewicht von bezahlter und unbezahlter Arbeit finden. Bezahlte Arbeit braucht eine Firma, unbezahlte braucht eine Heimat, Nachbarschaft oder zumindest eine Familie. Da Gebot der Flexibilisierung hat aber genau diese "Heimat" zerstört. Zwischen 1992 und 2013 ist deshalb in Deutschland die bezahlte Arbeit um 3, die unbezahlte aber um 13 Milliarden Stunden geschrumpft.

Krippen statt Eltern, Zalando statt Shoppen, Pizza-Kurier statt selber kochen, Puff statt Liebe. Das wären aber genau die Tätigkeiten, mit denen wir Menschen ohne besondere Begabungen gerne unsere Zeit verbringen.

Doch wenn sich die unbezahlte Arbeit ihren Anteil am Zeitbudget zurückerobert, dann reden wir nicht mehr von einer 30- , sondern eher von einer 20-Stundenwoche. Keynes hat seinen Enkeln übrigens ein 15-Stundenwoche in Aussicht gestellt. Von der Technologie her gesehen wäre das möglich. Es fehlt bloss noch an der kollektiven sozialen Kompetenz.

©KOF ETH Zürich, 26. Okt. 2018

Werner Vontobel
Ökonom und Wirtschaftsjournalist

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