Sunday , November 24 2024
Home / Ökonomenstimme / Die Reform des Sozialstaates zu Ende gedacht: Kindergartenpflicht

Die Reform des Sozialstaates zu Ende gedacht: Kindergartenpflicht

Summary:
Die Hartz-Reformen haben Arbeitslosigkeit reduziert, aber auch Armut und Existenzängste hervorgebracht. Um diese Armut zu reduzieren ohne Arbeitslosigkeit zu erzeugen bedarf es Massnahmen jenseits der klassischen Instrumente der Arbeits- und Sozialpolitik. Und: Chancengleichheit bei den Allerkleinsten. Über 10 Jahre nach den Hartz-Reformen wird über alle politischen Lager hinweg die Reform der Reformen diskutiert. Die Angst vor sozialem Abstieg, niedrige Hartz IV Sätze und der damit verbundene Druck auf die etablierten Parteien verschaffen einer Vielzahl neuer und alter Ideen neue Aufmerksamkeit: Wohngeld und Kindergrundsicherung sollen erhöht werden, ebenfalls der Mindestlohn, Steuergutschriften für Erwerbstätige sind im Gespräch, wie auch ein Bürgergeld, auch bekannt, in

Topics:
Steffi Hahn, Klaus Wälde considers the following as important:

This could be interesting, too:

Cash - "Aktuell" | News writes Länder einigen sich bei Weltklima-Konferenz auf globalen Emissionshandel

Cash - "Aktuell" | News writes Selenskyj glaubt an mögliches Kriegsende 2025

Cash - "Aktuell" | News writes Was Schweizer Bäuerinnen und Bauern verdienen

Cash - "Aktuell" | News writes Schweizer Efta/EU-Delegation will Abkommen mit China optimieren

Die Hartz-Reformen haben Arbeitslosigkeit reduziert, aber auch Armut und Existenzängste hervorgebracht. Um diese Armut zu reduzieren ohne Arbeitslosigkeit zu erzeugen bedarf es Massnahmen jenseits der klassischen Instrumente der Arbeits- und Sozialpolitik. Und: Chancengleichheit bei den Allerkleinsten.

Über 10 Jahre nach den Hartz-Reformen wird über alle politischen Lager hinweg die Reform der Reformen diskutiert. Die Angst vor sozialem Abstieg, niedrige Hartz IV Sätze und der damit verbundene Druck auf die etablierten Parteien verschaffen einer Vielzahl neuer und alter Ideen neue Aufmerksamkeit: Wohngeld und Kindergrundsicherung sollen erhöht werden, ebenfalls der Mindestlohn, Steuergutschriften für Erwerbstätige sind im Gespräch, wie auch ein Bürgergeld, auch bekannt, in unterschiedlichen Varianten, als bedingungsloses Grundeinkommen.

Ob es nun aber um Befürworter oder Gegner einer Reform der Reformen geht, die Diskussionen drehen sich in erster Linie um die Verwendung klassischer Instrumente der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Sollen die Hartz IV Sätze angehoben oder beibehalten werden? Soll der Mindestlohn erhöht oder gesenkt werden? Soll es ein Grundeinkommen geben, für das dann aber doch die Bedürftigkeit nachgewiesen werden soll? Diesen Überlegungen ist gemein, dass sie sich um Instrumente drehen, die ein Problem vielleicht mildern könnten, aber andere Probleme mit sich bringen. Hartz-Reformen haben die Arbeitslosigkeit reduziert, aber auch Armut und Existenzängste erzeugt. Der Mindestlohn soll Armut reduzieren, birgt aber die Gefahr in sich, Arbeitslosigkeit zu erzeugen. Ein Grundeinkommen, für das Bedürftigkeit nachgewiesen werden muss ist nur ein anderes Wort für Hartz IV Sätze. Werden letztere erhöht, könnten materielle Verlustängste reduziert werden, aber das Risiko der Arbeitslosigkeit steigt.

Will man Arbeitslosigkeit reduzieren, ohne Armut zu erzeugen, oder möchte man Armut reduzieren, ohne Arbeitslosigkeit zu erzeugen, dann muss über andere Instrumente nachgedacht werden. Mehr Netto vom Brutto muss im unteren Einkommensbereich übrigbleiben. Dies kann über eine negative Einkommensteuer im unteren Lohnbereich, über Zuschüsse zu Sozialversicherungsabgaben oder über ein bedingungsloses Grundeinkommen (verbunden mit entsprechenden Anpassungen der Grenzsteuersätze im oberen Einkommensbereich) erreicht werden. Dadurch würden Anreize, einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachzugehen, erhöht werden. Die Motivation zu arbeiten würde steigen – aber nicht dadurch, dass Menschen, denen es schlecht geht, noch schlechter gestellt werden. Mehr Motivation durch „Zuckerbrot“, statt durch die „Peitsche“.

Ein solches Vorgehen ist aber nur die halbe Miete. Ein gesellschaftlicher Zusammenhalt kann dauerhaft nur erreicht werden, wenn nicht nur kurzfristig Feuer gelöscht werden. Es muss auch sichergestellt werden, dass langfristig keine neuen Brände ausbrechen. Umverteilung ist sicher eine gute Idee, doch müssen zukünftige Generationen befähigt werden, selbständig der Armut zu entkommen. Armut ist bekanntermaßen ein sehr persistentes und sich über die Generationen scheinbar fast vererbendes Phänomen. Somit sollte man beim Denken und Reden über den Sozialstaat auch die Ausbildung in Kindergärten und Grundschulen mitdenken.

Wie die OECD kürzlich betonte, könne die Lernumgebung benachteiligter Kinder zuhause wie auch außer Haus oft als unzureichend beschrieben werden. Dies beraube sie der Möglichkeit, ihre Fähigkeiten ausreichend zu entwickeln (OECD, 2017, S.30). Bereits in sehr frühen Jahren entstehen „Bildungslücken“ (OECD, 2017, S.63, Cunha et al., 2006, S.711). Häufig wird argumentiert, die Schulpflicht trage dazu bei, diese Lücken zu schließen. Tatsächlich vergrößert sich die Bildungslücke im Verlauf des Schulbesuchs (Cunha et al., 2006, S.711). Kinder aus benachteiligten Familien erreichen daher häufiger einen geringeren Schulabschluss als ihre Altersgenossen aus einkommensstärkeren Familien. Ihre Chancen auf einen gut bezahlten Arbeitsplatz sind geringer und ihr Armutsrisiko größer. Armut ist ein Teufelskreis (OECD, 2017, S.32). Daher darf Armut nicht nur für eine bestimmte Person oder einen bestimmten Zeitpunkt betrachtet und bekämpft werden, Armut muss auch mittelfristig gedacht werden. Frühkindliche Bildung lautet hier das Stichwort.

Erst kürzlich wurde der Erfolg frühkindlicher Förderprogramme für benachteiligte Kinder erneut gezeigt. Eine Auswertung des Perry-Preschool-Programmes, welches bereits in den 70er Jahren in den USA durchgeführt wurde, zeigt den positiven Effekt einer gezielten Förderung von benachteiligten Kindern vor allem in ihren ersten Lebensjahren (Heckman et al., 2010). Die positiven Effekte auf die spätere Schulausbildung und dadurch auch auf den späteren ökonomischen Erfolg sind beeindruckend. Hoffnung auf eine bessere frühkindliche Betreuung wurde in Deutschland mit dem Ausbau der Kita-Betreuungsplätze seit 2005 verbunden. Nicht zuletzt mit dem Rechtsanspruch in 2013 glaubte man, dass sowohl einkommensstarke, als auch einkommensschwache Familien das breite Betreuungsangebot nutzen würden. Wie eine aktuelle DIW Studie jedoch zeigt, war dem nicht so. Wie bereits vor 2005 nutzen auch nach der Einführung des Rechtsanspruchs vornehmlich einkommens- und bildungsstarke Eltern das erhöhte Betreuungsangebot in Kindertagesstätten (Jessen et al., 2018).

Denkt man Armutsbekämpfung mittelfristig und die Reform des Sozialstaates zu Ende, dann folgt eine Kindergartenpflicht spätestens ab dem 3. Lebensjahr. Frühkindliche Bildung darf nicht nur den Kindern aus der Mittel- und Oberschicht zugutekommen, sondern auch den Kindern, die am meisten davon profitieren würden. Gleichzeitig muss dem Trend entgegengewirkt werden, dass Kindertagesstätten sich in qualitativer Hinsicht insbesondere zwischen Stadtteilen unterscheiden. Würde über Stadtteilzugehörigkeit die Segregation nach Bildungs- und Einkommensgruppen in Kindergärten übertragen werden, hätte auch Kindergartenpflicht keine Aussicht auf Erfolg. Eine gleiche, oder in sozial schwächeren Gebieten stärkere Ausstattung von Kindertagesstätten ist ein weiterer Grund, das aktuell auf Verabschiedung im Bundestag und Bundesrat wartende „Gute-Kita-Gesetz“ voranzubringen.

Wenn sich die Bundesrepublik nun auf den Weg macht, ihr Sozialsystem zu erneuern, dann sollten dabei zwei Dinge beachtet werden. Wir brauchen einerseits neue Instrumente, welche Armut reduzieren, aber nicht Arbeitslosigkeit erzeugen. Andererseits brauchen wir Instrumente, welche Armut auch mittelfristig denken. Armut muss sofort und unmittelbar reduziert werden, gleichzeitig muss aber sichergestellt werden, dass Kinder und Jugendliche durch bessere Betreuung in Ausbildungsstätten ihren eigenständigen Weg aus der Armut finden. Kindergartenpflicht ab dem 2. oder 3. Lebensjahr scheint die logische Konsequenz.

Cunha, F., Heckman, J., Lochner, L. Masterov, D., 2006. Interpreting the Evidence on Life Cycle Skill Formation. In E.A. Hanushek and F.Welsch: Handbook of the Economics of Education. Amsterdam: North-Holland
DOI: http://dx.doi.org/10.1016/S1574-0692(06)01012-9[ a ]

Heckman, J., Moon, S., Pinto, R., Savelyev, P., Yavitz, A., 2010. Analyzing social experiments as implemented: A reexamination of the evidence from the HighScope Perry Preschool Program. Quantitative Economics, 1 (1), pp. 1-46.
DOI: http://dx.doi.org/10.3982/QE8[ b ]

Jessen, J., Schmitz, S., Spieß, K., S. Waights, 2018. Kita-Besuch hängt trotz ausgeweitetem Rechtsanspruch noch immer vom Familienhintergrund ab. DIW-Wochenbericht 38, S. 826-835.
DOI: https://doi.org/10.18723/diw_wb:2018-38-1[ c ]

OECD, 2017. Educational Opportunity for All: Overcoming Inequality throughout the Life Course. OECD Publishing, Paris.
DOI: http://dx.doi.org/10.1787/9789264287457-en[ d ]

©KOF ETH Zürich, 17. Dez. 2018

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *