Marcel Fratzscher, der Präsident des DIW, äusserte sich vor wenigen Wochen in der FAZ [ a ]zur Zufriedenheit der Deutschen und meinte, sie seien zwar zufrieden wie nie zuvor, aber gleichzeitig unzufrieden mit dem Zustand der Gesellschaft. Dieser Beitrag widerspricht den Thesen Fratzschers. Jahr für Jahr befragt das am DIW angesiedelte Sozio-oekonomische Panel (SOEP) die immer gleichen Personen nach ihren Lebensumständen und auch nach ihrer Lebenszufriedenheit.[ 1 ] Auf einer Skala von null (ganz und gar unzufrieden) bis zehn (ganz und gar zufrieden) können die Befragten ihre persönliche Lebenszufriedenheit einstufen. Im Jahr 2015 kreuzten die Deutschen im Schnitt einen Wert von 7,5 an. Zum Vergleich: 2004 betrug der Durchschnitt nur 6,9. Fratzschers Thesen zur Sorge der
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Marcel Fratzscher, der Präsident des DIW, äusserte sich vor wenigen Wochen in der FAZ [ a ]zur Zufriedenheit der Deutschen und meinte, sie seien zwar zufrieden wie nie zuvor, aber gleichzeitig unzufrieden mit dem Zustand der Gesellschaft. Dieser Beitrag widerspricht den Thesen Fratzschers.
Jahr für Jahr befragt das am DIW angesiedelte Sozio-oekonomische Panel (SOEP) die immer gleichen Personen nach ihren Lebensumständen und auch nach ihrer Lebenszufriedenheit.[ 1 ] Auf einer Skala von null (ganz und gar unzufrieden) bis zehn (ganz und gar zufrieden) können die Befragten ihre persönliche Lebenszufriedenheit einstufen. Im Jahr 2015 kreuzten die Deutschen im Schnitt einen Wert von 7,5 an. Zum Vergleich: 2004 betrug der Durchschnitt nur 6,9.
Fratzschers Thesen zur Sorge der Deutschen
Marcel Fratzscher, der Präsident des DIW, stellt sich in einem kürzlich erschienenen Beitrag die Frage, wie dies dazu passt, dass sich angeblich immer mehr Menschen in Deutschland abgehängt fühlen, sich um ihre Zukunft sorgen und die wachsende soziale Ungleichheit beklagen. Drei Gründe führt er an, die den Widerspruch auflösen sollen:
Als erstes führt er an, dass die Menschen im Durchschnitt zwar zufriedener geworden sind, dass dies aber nicht über die Polarisierung der Gesellschaft hinwegtäuschen dürfe. Mehr als vier Millionen Menschen haben seit 2005 wieder Arbeit gefunden, und für eine große Mehrheit sind die Einkommen seit dieser Zeit gestiegen. Aber, so Fratzscher, für 40 Prozent der Haushalte sei die Kaufkraft im Vergleich zu 1999 gesunken und immer mehr Menschen arbeiteten in prekären Verhältnissen.
Interessanterweise findet man diese Polarisierung nicht in den Lebenszufriedenheitsdaten. 2015 kreuzten mehr als 83 Prozent der vom SOEP Befragten bei der Lebenszufriedenheit mindestens eine Sechs an – mehr als je zuvor. Umgekehrt kreuzten nicht einmal sieben Prozent eine Vier oder einen schlechteren Wert an, anteilig sind dies rund 42 Prozent weniger als noch 2004. Immer mehr Menschen in Deutschland sind zufrieden. Außerdem ist auch die Schere zwischen Unzufriedenen und Zufriedenen nicht etwa aufgegangen – im Gegenteil. Dies belegt eine aktuelle Studie, die meine Mitarbeiter und ich jüngst abgeschlossen haben. Sie zeigt mit Hilfe von Befragungsdaten aus dem Panel „Arbeitsmarkt und soziale Sicherheit“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus Nürnberg (IAB): Wer arbeitslos gewesen war und dann wieder Arbeit im Niedriglohnsektor gefunden hatte, wurde durch den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt deutlich zufriedener, selbst wenn er nach wie vor auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen war.
Fratzscher führt weiter aus, dass die individuelle Lebenszufriedenheit etwas über das gegenwärtige Empfinden aussage, nichts aber über die Hoffnungen, Sorgen und Ängste der Menschen, die sich mit einer unsicheren Zukunft verbinden. Mit dieser Aussage widerspricht er aber allen Erkenntnissen der Zufriedenheitsforschung. Um nur ein Beispiel anzuführen: Die Magdeburger Ökonomen Andreas Knabe und Steffen Rätzel haben gezeigt, dass Beschäftigte nach einer Arbeitslosigkeit niedrigere Lebenszufriedenheitswerte angeben als vor der Arbeitslosigkeit. Dieser Effekt zeigt sich aber nur bei jenen, die um die Sicherheit ihres neuen Arbeitsplatzes bangen müssen – je größer die Sorgen um die Zukunft, desto geringer die gegenwärtige Zufriedenheit. Also müssten wachsende Zukunftsängste die Lebenszufriedenheit verringern.
Um das zu klären, lohnt ein Blick auf die konkreten Sorgen, die sich die Deutschen machen. Auch hiernach fragt das SOEP regelmäßig. Die Antworten zeigen, dass sich die Menschen im Jahr 2015 weniger Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz, die eigene wirtschaftliche Situation und die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung machen als noch 2004 und in den Jahren danach. Das hat wohl auch damit zu tun, wie Jürgen Schupp vom SOEP vermutet, dass Deutschland trotz der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen des vergangenen Jahrzehnts viele Krisen erfolgreich bewältigt hat. Nur die Sorgen um den Frieden haben zugenommen. Direkt befragt, sagen die Menschen also offenbar nicht, dass sie sich zunehmend um ihre Zukunft sorgen. Fratzschers These wird von den Antworten der Betroffenen widerlegt.
Schließlich sieht Fratzscher einen Widerspruch zwischen der Zufriedenheit mit den eigenen Lebensumständen und der Unzufriedenheit über die soziale Ungleichheit und den bröckelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das SOEP fragte erstmals 2015 nach der Zufriedenheit mit der allgemeinen Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in Deutschland. Hier zeigt sich tatsächlich eine höhere Unzufriedenheit als bei anderen Dimensionen des alltäglichen Lebens wie zum Beispiel dem eigenen Familieneinkommen. Allerdings korreliert auch diese Unzufriedenheit über die Ungleichheit in der Gesellschaft mit der persönlichen Lebenszufriedenheit. Wer unzufrieden ist mit der sozialen Situation in Deutschland, ist in der Tendenz auch weniger zufrieden mit seinem eigenen Leben.
Woher stammt diese Unzufriedenheit über soziale Ungleichheit? In den Lebenszufriedenheitsdaten findet man jedenfalls keine wachsende Ungleichheit. 2015 kreuzten knapp 70 Prozent der Befragten schon mindestens zum dritten Mal in Folge eine Sechs oder mehr auf der Skala an, das waren 15 Prozent mehr als 2004. Hingegen waren nicht einmal 2 Prozent drei Jahre lang durchweg unzufrieden mit ihrem Leben, 38 Prozent weniger als 2004. Wenn meine Mitmenschen offenbar anhaltend zufriedener werden und die Zahl der Ausnahmen immer kleiner wird, wie kann es da sein, dass wir uns immer größere Sorgen um die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit machen? Eine mögliche Antwort hierauf gibt Judith Niehues vom IW Köln. Sie hat untersucht, wie die Menschen die Einkommensverteilung in Deutschland einschätzen, und herausgefunden: Die Menschen glauben, dass die Einkommen in Deutschland wesentlich ungleicher verteilt sind, als dies tatsächlich der Fall ist.
Deutschland geht es gut
Wir sollten die gute Nachricht gute Nachricht sein lassen. Uns geht es gut, und wir sind alles in allem zufrieden mit unserem Leben. Das darf nicht dazu verführen, sich auszuruhen. Wir haben das Glück nicht gepachtet.
©KOF ETH Zürich, 1. Jun. 2017