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Minderheitenregierungen ermöglichen Stabilität

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Minderheitenregierungen sind besser als ihr Ruf. Diese bilden die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger sogar besser ab als eine Mehrheitsregierung, wie dieser Beitrag zeigt – für die Regierungsbildung in Deutschland ein relevanter Hinweis. Die übliche Vorstellung In Deutschland (und auch anderswo) wird eine Minderheitenregierung weitgehend mit "Instabilität" gleichgesetzt. Die empirische Evidenz zeigt in der Tat, dass Regierungen, die sich aus Parteien zusammensetzen, die im Parlament keine Mehrheit auf sich vereinigen, weniger lang an der Macht bleiben (vgl. z.B. Mueller 2003, Kapitel 13; Warwick 1979). Darüber hinaus wird befürchtet, Minderheitenregierungen, die immer wieder neue Koalitionen schmieden müssen, würden allzu langsam arbeiten und wären in einer modernen

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Minderheitenregierungen sind besser als ihr Ruf. Diese bilden die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger sogar besser ab als eine Mehrheitsregierung, wie dieser Beitrag zeigt – für die Regierungsbildung in Deutschland ein relevanter Hinweis.

Die übliche Vorstellung

In Deutschland (und auch anderswo) wird eine Minderheitenregierung weitgehend mit "Instabilität" gleichgesetzt. Die empirische Evidenz zeigt in der Tat, dass Regierungen, die sich aus Parteien zusammensetzen, die im Parlament keine Mehrheit auf sich vereinigen, weniger lang an der Macht bleiben (vgl. z.B. Mueller 2003, Kapitel 13; Warwick 1979). Darüber hinaus wird befürchtet, Minderheitenregierungen, die immer wieder neue Koalitionen schmieden müssen, würden allzu langsam arbeiten und wären in einer modernen Gesellschaft zu wenig dynamisch.

Bei dieser Betrachtung wird jedoch zu stark darauf geschaut, wie lange Parteien an der Regierung beteiligt sind. Unterstellt wird dabei, dass Parteien die Präferenzen ihrer Wählerinnen und Wähler im Parlament getreu wiedergeben. Dies kann bezweifelt werden. Gerade die Parteispitzen, aber auch gewöhnliche Abgeordnete, haben durchaus Eigeninteressen, die sie in der Regierung durchsetzen wollen. Insbesondere haben Abgeordnete ein starkes Verlangen, sich an der Regierung zu beteiligen, damit Macht auszuüben und die Privilegien und Annehmlichkeiten einer Exekutivposition zu geniessen.

Die Grundidee einer Mehrheitenregierung besteht in einer vorher vereinbarten Einigung über die durchzuführenden Massnahmen in Form eines Koalitionsvertrags. Dabei wird oft wochenlang über dessen Inhalt gestritten – und häufig kommt keine Einigung zustande. Zudem ist oft zu beobachten, dass Koalitionsverhandlungen auf Basis von Parteiideologien ausgefochten werden. Inwieweit ein Koalitionsvertrag dann während der Legislaturperiode eingehalten wird, ist offen. Die in der Regierung sitzenden Politikerinnen und Politiker können sich den Vereinbarungen recht einfach entziehen, indem sie auf die sich ändernden Bedingungen berufen.

Eine andere Sicht politischer Stabilität

"Politische Stabilität" kann auch anders aufgefasst werden. Stabil ist eine Regierung, wenn sie die Präferenzen der Wählerinnen und Wähler bestmöglich und dauerhaft erfüllt. In dieser Sicht spielen die Bürger und Bürgerinnen die entscheidende Rolle; die Parteien nehmen nicht mehr eine dominante Rolle ein. Im Extrem werden sie nur noch als passive Repräsentanten der Wählerwünsche angesehen.

Aus dieser Sicht scheint eine Minderheitenregierung sogar stabiler. Die regierenden Minderheiten müssen bei jeder Sachfrage eine Mehrheit im Parlament zusammensuchen. Diese Mehrheit kann sich aus Abgeordneten unterschiedlicher Parteien zusammensetzen und sich immer wieder neu konfigurieren. Entscheidend für die Verhandlungen über Sachfragen ist nicht die Ideologie einer Partei und die damit oft einhergehenden abgehobene Phrasen, sondern die Einstellung zu konkreten Problemen, die politisch zu lösen sind. Um die erforderlichen Mehrheiten zusammen zu bringen, müssen die Politiker in der Regierung konkrete, sachbezogene Argumente vorbringen. Es genügt nicht, eine Mehrheit von Abgeordneten mittels Fraktionszwang zu einer Zustimmung zu einer Regierungsvorlage zu veranlassen.

Politik unter einer Minderheitenregierung verändert sich damit  grundlegend. Im Mittelpunkt stehen die Bürgerinnen und Bürger, deren Präferenzen zu Sachgeschäften von den Regierenden berücksichtigt werden muss. Die Diskussion über konkrete politische Massnahmen rückt in den Vordergrund. Dieser politische Diskurs (wie von Habermas 1981 gefordert) vollzieht sich in der Öffentlichkeit, den klassischen und sozialen Medien und im Parlament. Damit erhalten gerade auch Abgeordnete die Möglichkeit, sich relevant zu Sachfragen zu äussern und Stellung zu beziehen – im Gegensatz zu manchen Mehrheitsregierungen, in denen die Regierungspolitiker mittels Fraktionszwang zum vorne herein festlegen, wie die Abgeordneten zu stimmen haben und unter welchen die „Debatten" im Parlament häufig irrelevant sind. Deshalb ist auch zu beobachten, dass Parlamentarier häufig durch Abwesenheit im Saale glänzen.

Beispiel einer dauernden Minderheitenregierung

Es liesse sich argumentieren, Minderheitenregierungen, die in der angedeuteten Weise funktionieren, seien ein blosses Wunschbild. Neben manchen anderen Ländern, in denen Minderheitenregierungen häufig vorkommen (vgl. die empirische Evidenz bei Schofield 1995, Müller und Ström 2000), ist dies in der Schweiz der Fall.

Die Schweizerische Exekutive auf nationaler Ebene, der Bundesrat, setzt sich aus sieben Mitgliedern zusammen, die durch die beiden Kammern des Parlamentes gewählt werden. Sie beschliessen mit einfacher Mehrheit. Seit langem wird der Bundesrat nicht mehr aus einer einzigen Partei gebildet, sondern setzt sich aus nicht weniger als vier Parteien zusammen. Drei Parteien – zwei bürgerliche und eine sozialdemokratische – haben jeweils zwei Sitze inne, eine weitere Partei einen Sitz. Gemäss dem üblichen Machtindex übt diese letzte Partei mit nur einem Sitz keine Macht aus, weil sie nie einer Minderheit zu einer Mehrheit verhelfen kann. In der Wirklichkeit sieht es jedoch ganz anders aus. Die meisten Beschlüsse des Bundesrates können mittels direkter Volksabstimmung aufgehoben werden. Aus diesem Grund bemühen sich die Bundesrätinnen und Bundesräte Beschlüsse zu fassen, die sowohl in den beiden Kammern des Parlamentes, als auch von den Stimmbürgern und Stimmbürgerinnen unterstützt werden. Dazu wenden sie sich häufig an die Medien und direkt ans Volk und bemühen sich, die Vorteile der geplanten Beschlüsse hervorzuheben, ohne mögliche Nachteile zu unterdrücken.

Offensichtlich führt diese Form der Minderheitenregierung, bei der die Regierenden sich auf Sachfragen konzentrieren müssen, nicht zu einer Lähmung politischer Entscheidungen. Wer die Schweiz kennt, weiss aus eigener Erfahrung, dass der staatliche Bereich in diesem Land recht gut funktioniert und zum Beispiel über eine gute Infrastruktur hinsichtlich Verkehr, Umwelt oder Bildung verfügt.

Aus diesen Überlegungen wird deutlich: Minderheitenregierungen sollten nicht mit politischer Instabilität gleichgesetzt werden – besonders nicht in parlamentarischen Demokratien. Vielmehr sollten die genaue Repräsentation der Bürgerpräferenzen und der vertiefte öffentliche Diskurs als Vorteile gesehen werden. Eine Minderheitenregierung ist aus dieser Sicht stabil.

Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mueller, Dennis C. (2003). Public Choice III. Cambridge UK: Cambridge University Press.

Müller, Wolfgang C. und Kaare Ström, eds. (2000). Coalition Governance in Western Europe. Oxford: Oxford University Press.

Schofield, Norman (1995). Coalition Politics: A Formal Model und Empirical Analysis. Journal of Theoretical Politics 7: 245-81.

Warwick, Paul V. (1994). Government Survival in Parliamentary Democracy. Cambridge UK: Cambridge University Press.

©KOF ETH Zürich, 8. Dez. 2017

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