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Der Sachverständigenrat für Wirtschaft braucht mehr Pragmatismus und weniger Ideologie

Summary:
Die jüngste Kontroverse über die Rolle von Industriepolitik erweckt den Eindruck, dass sich der Sachverständigenrat für Wirtschaft vom Ziel wissenschaftsbasierter Politikberatung entfernt hat. Das schade auch dem Ansehen der deutschen VWL, meint dieser Beitrag. Die Volkswirtschaftslehre hat in Deutschland oft schlechte Presse. Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt von Studierenden ist, dass in den Hörsälen Marktgläubigkeit und Staatsferne gepredigt werde, und zwar ohne Beachtung alternativer Perspektiven. Diese Einschätzung lässt sich nur schwer mit dem Blick der meisten Ökonomen auf ihr Fach vereinbaren – wir empfinden es nämlich als vielseitig und offen, wie beispielsweise Rüdiger Bachmann an dieser Stelle argumentiert hat: "Wenn die VWL tatsächlich eine marktradikale,

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Die jüngste Kontroverse über die Rolle von Industriepolitik erweckt den Eindruck, dass sich der Sachverständigenrat für Wirtschaft vom Ziel wissenschaftsbasierter Politikberatung entfernt hat. Das schade auch dem Ansehen der deutschen VWL, meint dieser Beitrag.

Die Volkswirtschaftslehre hat in Deutschland oft schlechte Presse. Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt von Studierenden ist, dass in den Hörsälen Marktgläubigkeit und Staatsferne gepredigt werde, und zwar ohne Beachtung alternativer Perspektiven. Diese Einschätzung lässt sich nur schwer mit dem Blick der meisten Ökonomen auf ihr Fach vereinbaren – wir empfinden es nämlich als vielseitig und offen, wie beispielsweise Rüdiger Bachmann an dieser Stelle argumentiert hat: "Wenn die VWL tatsächlich eine marktradikale, hyperrationalistische Religion wäre (…), dann gehörten mindestens 95 Prozent der aktuellen Forschung in der VWL nicht zur VWL". Woher kommt also dieses Missverständnis, das womöglich gerade den gesellschaftlichen engagierten Nachwuchs vom Studium der Volkswirtschaftslehre abschreckt? Vier Mitglieder des Sachverständigenrats für Wirtschaft liefern in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 20. August ein unrühmliches Beispiel für die Art von Wortmeldung, die zum schlechten Ruf der VWL in Deutschland beiträgt.

Bofinger vs. Rest

Hintergrund ist ein vorangehender FAZ-Kommentar[ a ] des Ratskollegen Peter Bofinger, in dem dieser eine Diskussion über eine aktivere Industriepolitik in Deutschland fordert. Er begründet seine Forderung mit drei Beispielen, in denen der Markt seiner Ansicht nach in den vergangenen Jahren die falschen beziehungsweise keine ausreichenden Innovationen hervorgebracht hat: Die Finanzkrise, die schleppende Energiewende, sowie die zuletzt eher durch Betrügereien als durch Innovationen auffallende deutsche Automobilindustrie. In ihrer Replik unter dem Titel "Vertraut dem Markt!" greifen die übrigen "Wirtschaftsweisen" Lars P. Feld, Christoph M. Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland ihren Kollegen scharf an und entgegnen, Peter Bofinger hätte seine Beispiele kaum schlechter wählen können: Die Finanzkrise sei schließlich gerade wegen der impliziten Staatshaftung für Banken entstanden, die das marktwirtschaftliche Haftungsprinzip außer Kraft gesetzt hätte. Energiewirtschaft und Automobilindustrie wiederum seien teilweise in Besitz der Kommunen beziehungsweise Länder, und somit in ihren Entscheidungen stark durch staatliche Akteure geprägt. Außerdem schreiben sie mit Verweis auf die Beteiligung des Landes Niedersachsen an VW: "Laien verwechseln die Liebe von Ökonomen zum Markt mit einer Liebe zu einzelnen Marktakteuren. Einem Profi sollte das nicht passieren."

Die Replik erstaunt sowohl in der Sache als auch im Ton: Zunächst einmal verweisen die meisten Analysen der Finanzkrise auf die Rolle neuer Finanzprodukte bei der Verschleierung von Kreditrisiken (z.B. Mian und Sufi 2010). Bofingers These, dass ein unzureichend regulierter Markt im Zusammenspiel mit Informationsasymmetrien in diesem Fall unerwünschte "Innovationen" hervorgebracht hat, ist also keineswegs abwegig. Ferner liefern die vier Wirtschaftsweisen keinen Beleg dafür, dass sich die öffentlichen Beteiligungen an Energiekonzernen oder VW tatsächlich als Innovationsbremse ausgewirkt haben. So bleibt ihre Argumentation äußerst wacklig, da sich beide Fälle auch als Lehrbuch-Beispiele für altbekannte Marktversagenstatbestände eignen: Zum einen internalisieren Energiekonzerne die mit ihren Emissionen verbundenen sozialen Kosten vermutlich nur teilweise, weil der Preis für EU-Emissionszertifikate so gering ist. Deshalb fehlen ihnen Anreize, in den Ausbau regenerativer Energien zu investieren. Zum anderen war es für Automobilkonzerne in der Vergangenheit riskant, große Summen in Innovationen im Schlüsselbereich Elektromobilität zu investieren: Schließlich ist die Nachfrage nach Elektroautos bislang sehr überschaubar, wohl auch wegen der vielerorts fehlenden Elektrotankstellen. Und umgekehrt ist es wegen der geringen Anzahl an Elektroautos nicht verwunderlich, dass der Ausbau der Elektrotankstelleninfrastruktur, die aus der Perspektive eines einzelnen Automobilkonzerns Merkmale eines "öffentlichen Gutes" aufweist, lange Zeit nur schleppend voranging.

Es gibt bei allen drei von Bofinger genannten Beispielen also gute Gründe für die Annahme, dass sich selbst überlassene Märkte nicht die gewünschten Innovationen hervorbringen. Doch die vier Wirtschaftsweisen suggerieren, Industriepolitik sei in diesen Fällen von vornherein unvereinbar mit der "Liebe von Ökonomen zum Markt". Und anstatt sich auf die von Bofinger geforderte Diskussion einzulassen – die selbstverständlich beinhaltet, auf Risiken bestimmter Formen von Industriepolitik hinzuweisen –, kanzeln sie ihren Kollegen öffentlich ab, und stellen sogar seine Qualifikation als Volkswirtschafts-"Profi" in Frage. Dabei pflegen international führende Ökonomen vor dem Hintergrund der zahlreichen gut erforschten Marktunvollkommenheiten längst eine pragmatische Beziehung zum Markt, die sich gut mit einem von Harvard-Professor Dani Rodrik vorgeschlagenen Motto für Ökonomen beschreiben lässt: "Nenne mir Deine Annahmen, und ich sage Dir wie gut Märkte funktionieren werden" (Rodrik 2012).

Während die internationale VWL also tatsächlich viel bunter und offener ist als viele Kritiker ihr zubilligen, trägt die Mehrheit des Sachverständigenrates dazu bei, das Zerrbild der VWL als "marktradikaler Religion" zu festigen. Auch in den Jahresgutachten scheint sie sich immer mehr in Grabenkämpfe mit Peter Bofinger zu verstricken, anstatt einen Konsens auf Basis des wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu suchen: In den letzten drei Gutachten enthielten im Schnitt 53% der Kapitel ein Minderheitsvotum Bofingers, im Vergleich zu nur 4% im Zeitraum 2007-2013. Dass es bei wissenschaftsbasierter Politikberatung so häufig unmöglich zu sein scheint, sich zu einigen, steht in einer gewissen Spannung zum Selbstverständnis der VWL als empirische und ideologiefreie Disziplin: Schließlich sollte die Akkumulation von empirischer Evidenz die Anzahl plausibler Empfehlungen sukzessive verringern. Dies gilt umso mehr dann, wenn die Politikberatung von Ökonomen tatsächlich ideologiefrei ist: Dann beschränkt sich die Rolle von beratenden Ökonomen nämlich darauf, die Konsequenzen verschiedener Handlungsalternativen abzuschätzen. Und tatsächlich zeigen die regelmäßigen Befragungen des "IGM Economic Experts Panels[ b ]", dass international führende Ökonomen sich bei den meisten wirtschaftspolitischen Fragen in Bezug auf die USA und Europa erstaunlich einig sind.

Mehr Pragmatismus

Selbstverständlich wird es angesichts der Komplexität des Wirtschaftsgeschehens immer eine Vielzahl von bedenkenswerten Blickwinkeln geben. Minderheitsvoten mögen deshalb manchmal sinnvoll sein, um Politikern das Bestehen von unterschiedlichen Lesarten der Evidenz zu verdeutlichen. Die jüngste Kontroverse über Industriepolitik erweckt allerdings den Eindruck, dass die Mehrheit des Sachverständigenrats dem Anspruch ideologiefreier und wissenschaftsbasierter Politikberatung nicht gerecht wird: Denn moderne Ökonomen betrachten den Markt keineswegs durch eine rosarote Brille. Der durch den Meinungsbeitrag von Feld, Schmidt, Schnabel und Wieland entstehende gegenteilige Eindruck ist bedauerlich – denn die Wahrnehmung der VWL in Deutschland wird vermutlich stärker von ihrer Darstellung durch die "Wirtschaftsweisen" geprägt als durch ihr Erscheinungsbild in internationalen Fachzeitschriften. Der Sachverständigenrat täte deshalb gut daran, in wirtschaftspolitischen Debatten in Zukunft den Pragmatismus an den Tag zu legen, den eine genaue Betrachtung der Marktgegebenheiten erfordert. Denn in Zeiten von Klimawandel, zunehmender Migration und einer tiefgreifenden Veränderung der Arbeitswelt ist nüchterne, evidenzbasierte Politikberatung womöglich stärker gefragt als je zuvor.

Bachmann, R. (2012). Haben die Uni-Ökonomen versagt? Gastbeitrag auf Ökonomenstimme, 10. Januar 2012.

Badinger, H. und Cuaresma, J.P. und Oberhofer, H. (2017). Pseudowissenschaft in der Volkswirtschaftslehre. Gastbeitrag auf Ökonomenstimme, 24. Juli 2017.

Bofinger, P. (2017). Mehr Zentralismus wagen! Gastbeitrag auf faz.net vom 12.08.2017.

Feld, L.P. und Schmidt, C.M. und Schnabel, I. und Wieland, V. (2017). Vertraut dem Markt! Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 20.08.2017.

IGM Economic Experts Panel (2017), aufgerufen am 03.09.2017.

Mian, A. und Sufi, A. (2010). The Great Recession: Lessons from Microeconomic Data. American Economic Review Papers and Proceesings, pp. 51-56.

Rodrik, D. (2012). The Globalization Paradox: Democracy and the Future of the World Economy. W. W. Norton & Company.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2007/08 bis 2016/17. Aufgerufen am 03.09.2017.

©KOF ETH Zürich, 11. Sep. 2017

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