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Größere Kommunen durch Gebietsreformen: Mehr Risiken als Chancen

Summary:
Fusionen von Gemeinden und Kreisen zu größeren Einheiten galten lange als effizienzsteigernd und entsprechend sinnvoll. Dieser Beitrag legt nahe, die entstehenden Kosten und Nutzen umfassender und sorgfältiger als bisher zu bewerten, insbesondere was die Auswirkungen auf die politische Teilhabe betrifft. Seit Jahrzehnten verringern westliche Industrienationen die Anzahl ihrer kommunalen Gebietskörperschaften durch Gemeinde- oder Kreiszusammenschlüsse (Gebietsreformen). Abbildung 1 gibt einen Überblick über den Trend hin zu größeren Gebietskörperschaften durch Gebietsreformen in West- und Ostdeutschland. Die durchschnittliche Zahl der Gemeinden je Flächenland sank durch Gebietsreformen zwischen 1952 und 2012 von 3.472 auf 876 (-75 %). Die Zahl der Landkreise reduzierte sich von 79 auf 31 (-61 %). Gebietsreformen werden dabei sowohl in einmaligen, großangelegten Schritten durchgeführt (1970er-Jahre in Westdeutschland) oder finden stufenweise wie etwa in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung statt. Abbildung 1: Zahl der Gemeinden und Landkreise in den deutschen Bundesländern, 1952–2012 Auch viele andere OECD-Länder setzten in den vergangenen Jahrzehnten auf Gebietsreformen, wobei einige Länder die Anzahl ihrer Gemeinden teils massiv verringerten, z.B. Dänemark (Blom-Hansen et al., 2016), Israel (Reingewertz, 2012) oder Japan (Nakazawa, 2016).

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Fusionen von Gemeinden und Kreisen zu größeren Einheiten galten lange als effizienzsteigernd und entsprechend sinnvoll. Dieser Beitrag legt nahe, die entstehenden Kosten und Nutzen umfassender und sorgfältiger als bisher zu bewerten, insbesondere was die Auswirkungen auf die politische Teilhabe betrifft.

Seit Jahrzehnten verringern westliche Industrienationen die Anzahl ihrer kommunalen Gebietskörperschaften durch Gemeinde- oder Kreiszusammenschlüsse (Gebietsreformen). Abbildung 1 gibt einen Überblick über den Trend hin zu größeren Gebietskörperschaften durch Gebietsreformen in West- und Ostdeutschland. Die durchschnittliche Zahl der Gemeinden je Flächenland sank durch Gebietsreformen zwischen 1952 und 2012 von 3.472 auf 876 (-75 %). Die Zahl der Landkreise reduzierte sich von 79 auf 31 (-61 %). Gebietsreformen werden dabei sowohl in einmaligen, großangelegten Schritten durchgeführt (1970er-Jahre in Westdeutschland) oder finden stufenweise wie etwa in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung statt.

Abbildung 1: Zahl der Gemeinden und Landkreise in den deutschen Bundesländern, 1952–2012

Auch viele andere OECD-Länder setzten in den vergangenen Jahrzehnten auf Gebietsreformen, wobei einige Länder die Anzahl ihrer Gemeinden teils massiv verringerten, z.B. Dänemark (Blom-Hansen et al., 2016), Israel (Reingewertz, 2012) oder Japan (Nakazawa, 2016). Angesichts des weltweiten Trends zu größeren kommunalen Gebietskörperschaften stellt sich die Frage nach den ökonomischen und politischen Effekten dieser Reformen.

Hinter Gebietsreformen steht zumeist die Hoffnung auf Einsparungen durch Nutzung von Skaleneffekten sowie eine Stärkung der Leistungsfähigkeit der Verwaltungen, insbesondere für kleinere Kommunen. Kritiker verweisen dagegen auf das Risiko, dass in größeren Strukturen das ehrenamtliche Engagement bzw. die politische Partizipation leiden könnte. Ebenso kann eine geringere Anzahl an Gebietskörperschaften die Auswahl an verfügbaren Bündeln aus lokalen öffentlichen Gütern und Steuern für mobile Bürger reduzieren und damit zu potenziellen Effizienzverlusten führen (Tiebout, 1956). Zudem können heterogene Präferenzen der lokalen Bevölkerung in größeren Einheiten weniger passgenau durch lokale Entscheidungsträger bedient werden, was sowohl zu Ineffizienz in der örtlichen Daseinsvorsorge als auch zu Frust seitens der Bevölkerung führen kann (Oates, 1972).

Trotz einer hohen Schlagzahl von Gebietsreformen in der politischen Praxis stützten sich bisherige Reforminitiativen oft lediglich auf Ex-ante-Rechnungen für mögliche Kostenersparnisse, konnten jedoch bisher nicht auf Ursache-Wirkungsanalysen zurückgreifen. In den vergangenen Jahren ist jedoch eine Vielzahl von Studien auf Basis moderner ökonometrischer Evaluationen von tatsächlich durchgeführten Gebietsreformen entstanden, die bisher aber nicht umfassend ausgewertet wurden. In einem aktuellen Working Paper (Blesse und Rösel, 2017) schließen wir diese Lücke und geben einen Überblick über verschiedene Effekte kommunaler Gebietsreformen. Insgesamt werten wir 30 empirische Studien aus, die kausale Effekte von Gebietsreformen auf unterschiedliche ökonomische und politische Variablen messen, unter anderem auf öffentliche Ausgaben, Wachstum sowie politische Partizipation, Wahlverhalten und Zufriedenheit mit der Verwaltung. Wir beschränken uns dabei jedoch ausdrücklich auf Studien, die sich einer quasi-experimentellen Methodik (Kugler et al., 2014) bedienen und über reine Korrelationsanalysen oder narrative Untersuchungen hinausgehen. Wesentliches Element dieser Studien ist ein Vorher-Nachher-Vergleich der von den Zusammenschlüssen betroffenen Gemeinden unter Berücksichtigung einer validen Kontrollgruppe nicht betroffener Kommunen.

Eine Gesamtschau der von uns ausgewerteten Literatur zeigt, dass die erhofften fiskalischen Effizienzrenditen von Gebietsreformen in der Vergangenheit deutlich überschätzt wurden, während mögliche Auswirkungen auf die politische Teilhabe systematisch unterschätzt wurden (siehe Tabelle 1). Nur wenige Studien können bis dato mittelfristige Einspareffekte durch Gebietsreformen nachweisen. Eine zunehmende Zahl von Untersuchungen zeigt dagegen einen Rückgang der Demokratiezufriedenheit, eine sinkende Wahlbeteiligung oder eine Stärkung populistischer Strömungen durch Gebietsreformen. Eine eigene empirische Analyse der Kreisgebietsreform 2008 in Sachsen weist außerdem darauf hin, dass auch die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement in größeren Einheiten zurückgeht.

Tabelle 1: Effekte von Gebietsreformen

Quelle: Eigene Darstellung. a) Effekt auf das Bevölkerungswachstum. Für Referenzen siehe Blesse und Rösel (2017).

Weitere Studien können keine signifikanten Effekte von Gemeindezusammenschlüssen auf das Bevölkerungswachstum nachweisen. Die Ergebnisse deuten jedoch auf ein wachsendes Stadt-Umland-Gefälle durch ein stärkeres Wirtschaftswachstum städtischer Kerngebiete gegenüber eingemeindeter Umlandgemeinden hin. Zudem führt der Verlust des Kreisstadtstatus (Sitz der Kreisverwaltung) zu Bevölkerungsverlusten in den betroffenen Kommunen. Solche Umverteilungsaspekte von Gebietsreformen spielen in der öffentlichen Debatte bisher jedoch nur eine eher untergeordnete Rolle.

Unsere Befunde legen nahe, im Vorfeld von Gebietsreformen die entstehenden Kosten und Nutzen umfassender und sorgfältiger als bisher zu bewerten. Zugleich sollten z.B. interkommunale Zusammenarbeit, Funktionalreformen oder Instrumente der Verwaltungsmodernisierung wie interkommunale Benchmarks als “schonende” bzw. weniger eingriffsintensive Alternativen zu Gebietsreformen verstärkt in den Blick genommen werden. Das gilt dabei sowohl für politische Entscheider als auch für die akademische Forschung.

Sebastian Blesse
Sebastian Blesse studierte Internationale Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Finanzwissenschaften und Ökonometrie an den Universitäten Göttingen und Antwerpen. Seit Juni 2015 arbeitet Sebastian Blesse als wissenschaftlicher Mitarbeiter im ZEW-Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft". Seine Forschungsinteressen liegen in der Finanzwissenschaft, Politische Ökonomie und angewandte Ökonometrie. Zudem beschäftigt er sich im Rahmen des Sonderforschungsbereiches (SFB) 884 "Die politische Ökonomie von Reformen" mit dem Entscheidungsverhalten politischer Entscheidungsträger.