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Brexit ist Brexit?

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Der "harte" Brexit klingt nach einer klaren Ansage. So einfach ist es aber nicht. Steigt wegen einsetzender Investitionsschwäche aufgrund sinkender Direktinvestitionen aus dem Ausland und Investitionszurückhaltung auch britischer Unternehmen die Arbeitslosigkeit, dann dürfte sich der Brexit-Blues allerdings rasch ausbreiten. Theresa May als neue Premierministerin von Großbritannien hat nach etwas mehr als 100 Tagen eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Nachdem das oberste Gericht entschieden hat[ a ], dass ein Antrag bei der EU auf den Austritt Großbritanniens der Zustimmung des Parlaments bedarf, kommt der erste Elan der Brexitiers ins Stocken. Nach dem für die Regierung überraschenden Votum für einen solchen Austritt im Juni 2016 ist damit eine neue Hürde entstanden. Am 24. Januar 2017 soll nun über den Revisionsantrag der Regierung die Entscheidung vom obersten Gericht verkündet werden. Inzwischen ist vielen Briten klargeworden, dass es einen Preis haben wird, wenn man diesen Schritt vollzieht. Derzeit bleibt offen, ob die Berufung der britischen Regierung an dem jetzigen Urteil noch eine Änderung herbeiführen kann. Große Teile der britischen Wirtschaft einschließlich der Londoner City stemmen sich dagegen, weil sie schwere wirtschaftliche Nachteile für sich befürchten müssen. There is no free lunch, pflegte Milton Friedman immer zu sagen.

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Georg Erber considers the following as important:

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Der "harte" Brexit klingt nach einer klaren Ansage. So einfach ist es aber nicht. Steigt wegen einsetzender Investitionsschwäche aufgrund sinkender Direktinvestitionen aus dem Ausland und Investitionszurückhaltung auch britischer Unternehmen die Arbeitslosigkeit, dann dürfte sich der Brexit-Blues allerdings rasch ausbreiten.

Theresa May als neue Premierministerin von Großbritannien hat nach etwas mehr als 100 Tagen eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Nachdem das oberste Gericht entschieden hat[ a ], dass ein Antrag bei der EU auf den Austritt Großbritanniens der Zustimmung des Parlaments bedarf, kommt der erste Elan der Brexitiers ins Stocken. Nach dem für die Regierung überraschenden Votum für einen solchen Austritt im Juni 2016 ist damit eine neue Hürde entstanden. Am 24. Januar 2017 soll nun über den Revisionsantrag der Regierung die Entscheidung vom obersten Gericht verkündet werden.

Inzwischen ist vielen Briten klargeworden, dass es einen Preis haben wird, wenn man diesen Schritt vollzieht. Derzeit bleibt offen, ob die Berufung der britischen Regierung an dem jetzigen Urteil noch eine Änderung herbeiführen kann.

Große Teile der britischen Wirtschaft einschließlich der Londoner City stemmen sich dagegen, weil sie schwere wirtschaftliche Nachteile für sich befürchten müssen. There is no free lunch, pflegte Milton Friedman immer zu sagen.

Vielen Briten wird erst jetzt allmählich klar was für sie auf dem Spiel steht. Aufgrund der Abwertung des britischen Pfundes steigt die Inflation deutlich an. Importe werden teurer ohne dass dies durch die Einkommensentwicklung ausgeglichen wird. Viele Briten haben daher weniger reale Kaufkraft als bisher. Auch dürften Urlaubsreisen ins Ausland tiefere Löcher in das Haushaltsbudget reißen. Da hört aber auch für den britischen Normalbürger der Spaß auf. Versucht die jetzige britische Regierung dies durch eine höhere Staatsverschuldung auszugleichen, dann ändert dies nur vorübergehend etwas an den Problemen. Ein Brexit auf Pump muss ja später trotzdem getilgt werden.

Wie darauf die Briten und die internationale Finanzwirtschaft reagiert, ist absehbar. Die Zinsen in Großbritannien werden rascher als zuvor steigen, die Ratingagenturen werden entsprechend reagieren und es entsteht so leicht ein Teufelskreis aus rasant wachsender Staatsverschuldung aufgrund der bereits hohen Staatsverschuldung von knapp 90% des BIP, der auch die britische Wirtschaft mittelbar von derzeit noch rund 1,4% für zehnjährige Staatschuldpapiere treffen wird, denn der Zinssatz für Staatsschuldverschreibungen gilt ja weiterhin auch in Britannien als Untergrenze für die Zinsstruktur der Privatwirtschaft.

Steigt wegen einsetzender Investitionsschwäche aufgrund sinkender Direktinvestitionen aus dem Ausland und Investitionszurückhaltung auch britischer Unternehmen die Arbeitslosigkeit, dann dürfte sich der Brexit-Blues rasch ausbreiten. Ob sich dies durch beggar-thy-neighbor-policy mittels Unternehmenssteuerdumping kompensieren lässt, wird sich erst in Zukunft zeigen.link1 Schließlich plant das ja auch bereits die US-Regierung unter Donald Trump. Es könnte leicht daraus ein race to the bottom entstehen.

Beiderseits des Atlantiks dürfte dies trotz aller Beteuerungen die Staatshaushalte in den USA und Großbritannien völlig aus dem Ruder laufen lassen. So haben sich viele Briten ihren Independence Day nicht vorgestellt, selbst wenn sie für Out gestimmt haben. Die Verkürzung der Volksabstimmung auf In or Out hat vielen Wählern in Großbritannien nicht die Konsequenzen einer solchen Entscheidung klarwerden lassen.

Wie bereits der Verhaltensökonomen Daniel Kahnemann[ 1 ] gezeigt haben, sind schnelle Entscheidungen nur in begrenztem Maße die angemessene Form der Entscheidung. Impulsentscheidungen sind nur in Fragen der höchsten Gefahr hilfreich, dagegen sollte man sich für strategische Entscheidungen durchaus mehr Zeit zum Nachdenken einräumen.

Zu anderen Ufern?

Der Welthandel ist in den letzten Jahren dramatisch eingebrochen.[ 2 ] Wenn die Briten jetzt im Zuge eines möglichen Brexit auch noch den bisherigen ungehinderten Zugang zur EU verlieren würden, dürfte dies ein schwerer Schlag für die britische Exportwirtschaft sein, denn neue attraktive Märkte anderswo sind derzeit Mangelware.

Wo weltweite Wachstumsschwäche und schwacher Welthandel regieren müsste man schon sehr attraktive Produkte zu sehr günstigen Preisen im Angebot haben. Aber hat Britannien die?

Das gewaltige Außenhandelsbilanz- und Leistungsbilanzdefizit gibt hier wenig Hoffnung. Man benötigte eben Produkte, die bei sinkendem Wechselkurs eine hohe Exportpreiselastizität besitzen. Daran herrscht jedoch derzeit Mangelware. Umgekehrt werden viele Vorleistungen aus dem Ausland deutlich teurer. Ob die Lohnstückkosten niedrig bleiben, ist auch nur schwer vorhersagbar, denn dort werden die Arbeitnehmer einschließlich der Gewerkschaften ein Wörtchen mitreden wollen. Streiks und Unsicherheit über die Lohnentwicklung sind auch kein Standortvorteil. Bisher war das Nordsee Öl noch ein sicherer Devisenbringer, aber die Ölpreiskrise seit dem Zusammenbruch des OPEC-Kartells hat auch hier die Einnahmen in Großbritannien schwinden lassen.

Eine herbeigesehnte Reindustrialisierung ist aufgrund der schwachen industriellen Basis insbesondere bei der mittelständischen Industrie schwer vorstellbar. Es fehlt bereits an den dafür nötigen Ingenieuren, Technikern, Fachkräften. Die Defizite sind seit langem bekannt, aber es ist wenig geschehen diese abzubauen. Fachkräfte aus dem Ausland sind zunehmend auch unerwünscht. Ob dies durch die jetzige Regierung mit ihrem Versprechen hier diskriminieren zu wollen, gelingt einen Exodus ausländischer Fachkräfte aufzuhalten bleibt zweifelhaft. Es droht so eher ein brain drain statt brain gain. Statt virtuos circle löst derzeit die jetzige Regierung mit ungeschickten Äußerungen eher das Gegenteil aus.

Boris Johnson könnte, wenn er ehrlich ist, ein Lied davon singen. Weder in den USA[ 3 ] noch in China[ 4 ] oder Indien[ 5 ] sowie der Türkei[ 6 ] stößt er auf Begeisterung eigene Freihandelsabkommen mit den Briten abzuschließen. Warum auch? Ob Donald Trump dies jetzt mit seinen Äußerungen schlagartig ändern kann, muss abgewartet werden.[ 7 ] Zwischen Wort und Tat besteht auch bei ihm bekanntlich ein Unterschied.

Man schätzt die Briten als Absatzmarkt und bisheriger Gateway to Europe, aber mehr britische Produkte importieren wollen die wenigsten. Fällt letzteres weg, dann sinkt auch die Standortattraktivität. Weil Englisch als lingua franca der Weltwirtschaft den Briten hier einen wesentlichen Standortvorteil gibt, reicht dies aber allein nicht aus, wenn es um Industriestandorte geht.

Die Flucht nach vorn

Nun treten die Brexitiers unter der Führung von Theresa May die Flucht nach vorn an. In einer Rede am letzten Dienstag kündigte sie einen Brexit – koste es was es wolle – an. Ein harter Brexit, d.h. ein Verlassen der EU einschließlich des Europäischen Wirtschaftsraums ohne vorher die Modalitäten eines solchen Schrittes mit der EU ausgehandelt zu haben, soll jetzt die Reihen der eigenen Parteimitglieder schließen.[ 8 ] Ein Vabanquespiel. Selbstüberschätzung ist schon immer der Keim für Niederlagen gewesen, weil man Alternativen der Handlungsoptionen der anderen einfach ex definitione ausschließt.

Sollte – wie derzeit jedoch zu erwarten ist – das oberste Verfassungsgericht in Britannien auch weiterhin eine solche Entscheidung von einer Mehrheit im britischen Parlament abhängig machen[ 9 ] , dann könnte dies schwierig werden. Die Regierung müsste sich de facto über die britische Verfassung hinwegsetzen, wenn sie ohne parlamentarische Legitimation den Brexit gegenüber der EU verkündet. Dies führt zwangsläufig zu einer Verfassungskrise.

Verliert die jetzige britische Regierung jedoch eine Abstimmung im britischen Parlament, dann bleibt ihr eigentlich nur der Weg zu vorzeitigen Neuwahlen offen, in der Hoffnung danach eine Mehrheit für den harten Brexit im Parlament zu finden. Klappt auch das nicht, dann wären sie und die Brexitiers gescheitert und es gäbe eine neue britische Regierung. Der Exit vom Brexit wäre da.

In ihrer Not werden jetzt erneut Emotionen geschürt und Drohungen gegenüber der EU und insbesondere Frankreich ausgesprochen. Von Handelskrieg und Strafzöllen ist dabei die Rede.[ 10 ] Nun mag man ja einseitig Strafzölle auf Waren aus der EU verhängen, aber damit verstieße man selbst gegen die dann weiterhin gültigen WTO-Regeln.

Großbritannien als die älteste parlamentarische Demokratie würde sich damit nicht nur gegen die EU in eine rechtlich prekäre Lage bringen, sondern das gesamte internationale Handelssystem vertreten durch die WTO in Frage stellen.

Anarchy in the UK?

Die Sex Pistols haben ja einmal einen Song mit dem schönen Titel Anarchy in the UK[ b ] kreiert. Offenbar könnte sich eine solche Entwicklung jetzt in der Realität materialisieren. Bis hin zur Spaltung des Vereinigten Königreichs – die Schotten drohen ja bereits mit dem Ende ihrer Zugehörigkeitlink12 – ist dann nichts mehr auszuschließen.

Würde May sich mit ihren Vorstellung jedoch durchsetzen, d.h. auch gegebenenfalls mit einer parlamentarischen Mehrheit, dann wäre man dem Wohl und Wehe der EU und anderen Ländern im Rahmen bilateraler Handelsabkommen weiterhin ausgeliefert. Ob die Drohkulisse der britischen Regierung gegenüber den Handelspartnern hier hilfreich ist?

Es gehört eine gehörige Portion Optimismus dazu, dass diese die dann missliche Lage der Briten nicht zu ihrem Vorteil ausnutzen würden. Gerade in Zeiten einer schwierigen weltwirtschaftlichen Lage werden erfahrungsgemäß keine Geschenke verteilt. Großbritannien geht daher so oder so vermutlich turbulenten Zeiten entgegen.


©KOF ETH Zürich, 20. Jan. 2017

Georg Erber
Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Berlin war Georg Erber dort wissenschaftlicher Assistent am Institut für Versicherungsmathematik und Statistik mit dem Schwerpunkt Ökonometrie und Statistik.

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