Wie lässt sich in der europäischen Flüchtlingsfrage das Samariter-Dilemma lösen, d.h. wie findet man einen Zwischenweg, dass man gleichzeitig grosszügig, aber nicht zu grosszügig in der Willkommenskultur ist? Dieser Beitrag schlägt ein Genossenschaftsmodell vor. Die bisher praktizierte Sicherung der Außengrenzen zur Abwehr von Flüchtlingen ist nicht nur beschämend, sondern auch unwirksam. Die bisherige Strategie, den Weg zu uns so schwer wie möglich zu machen, versagt völlig. Andererseits gibt es ein Samariter-Dilemma (Fuest 2015): Je mehr wir eine großzügige Willkommenskultur praktizieren, desto höher sind die Anreize für Migranten, zu uns zu kommen. Das Samariter-Dilemma gilt gleichermaßen für Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und Armuts-Migranten, deren Abgrenzung ohnehin fließend ist. Wir schlagen vor, das Modell der Genossenschaften (etwa Wohnbau-Genossenschaften) analog für eine menschenwürdige Zuwanderung nutzbar zu machen. Im Fall der Schweizerischen Eid-Genossenschaft kommt dies schon im Namen zum Ausdruck. Wer Mitglied einer Genossenschaft werden will muss einen Anteilschein erwerben. Das neue Mitglied kann dafür an den Gemeinschafts-Gütern partizipieren, die von den bisherigen Genossen geschaffen wurden. Migranten können so gefahrlos einreisen und bei uns arbeiten. Sie würden als souveräne Akteure behandelt, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen.
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Bruno S. Frey, Margit Osterloh considers the following as important:
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Wie lässt sich in der europäischen Flüchtlingsfrage das Samariter-Dilemma lösen, d.h. wie findet man einen Zwischenweg, dass man gleichzeitig grosszügig, aber nicht zu grosszügig in der Willkommenskultur ist? Dieser Beitrag schlägt ein Genossenschaftsmodell vor.
Die bisher praktizierte Sicherung der Außengrenzen zur Abwehr von Flüchtlingen ist nicht nur beschämend, sondern auch unwirksam. Die bisherige Strategie, den Weg zu uns so schwer wie möglich zu machen, versagt völlig.
Andererseits gibt es ein Samariter-Dilemma (Fuest 2015): Je mehr wir eine großzügige Willkommenskultur praktizieren, desto höher sind die Anreize für Migranten, zu uns zu kommen. Das Samariter-Dilemma gilt gleichermaßen für Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge und Armuts-Migranten, deren Abgrenzung ohnehin fließend ist.
Wir schlagen vor, das Modell der Genossenschaften (etwa Wohnbau-Genossenschaften) analog für eine menschenwürdige Zuwanderung nutzbar zu machen. Im Fall der Schweizerischen Eid-Genossenschaft kommt dies schon im Namen zum Ausdruck. Wer Mitglied einer Genossenschaft werden will muss einen Anteilschein erwerben. Das neue Mitglied kann dafür an den Gemeinschafts-Gütern partizipieren, die von den bisherigen Genossen geschaffen wurden. Migranten können so gefahrlos einreisen und bei uns arbeiten. Sie würden als souveräne Akteure behandelt, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Entsprechende Registrierungs- und Einzahlungs-Stellen könnten an jedem Flughafen und in größeren Flüchtlingslagern errichtet werden. Der Preis für den Anteilsschein müsste höher liegen als die Preise, die derzeit für Schlepper bezahlt werden. Er könnte aber wesentlich niedriger ausfallen als die monetären Vorteile, welche die Migranten bei uns erwarten. Wer nach der Einreise als Asylant oder Kriegsflüchtling anerkannt wird, erhält das Geld zurück. Mit der Höhe der Abgabe wird die Migration reguliert und eine stacheldrahtbewehrte "Festung Europa" vermieden.
Dem Vorschlag liegen folgende Überlegungen zugrunde: Eine freie Migration hätte das Potential, die Welt doppelt so reich zu machen wie heute (Clemens 2011). Völlige Freizügigkeit ist aber mit den bei uns bezahlten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen auf Dauer nicht vereinbar. Länder mit hohen Sozialleistungen wie Deutschland ziehen vor allem niedrig qualifizierte Migranten an. Damit geraten nicht nur heimische Niedrigverdiener unter Lohndruck, sondern es wächst auch die Konkurrenz um preiswerte Wohnungen. Hinzu kommt, dass arme Länder deshalb arm sind, weil sie ein defizitäres Sozialmodell, d.h. ungeeignete politische und ökonomische Institutionen haben (Collier 2014). Vor diesen fliehen die Migranten. Werden sie nicht ausreichend bei uns integriert, importieren sie ihr defizitäres Sozialmodell und unterminieren unseres. Gleichzeitig zersetzen sie die Basis, aufgrund derer sie zu uns kommen.
Das von uns vorgeschlagene Genossenschaftsmodell hat erhebliche Vorteile für Aufnahmeländer, Migranten und Herkunftsländer. Die Aufnahmeländer profitieren mehrfach:
- Sie erhalten Mittel zur Finanzierung des Aufenthalts und der Integration der Migranten.
- Die Eingliederung in den Arbeitsprozess und die Entlastung unserer Sozialsysteme erfolgt schnell und nicht erst nach langen bürokratischen Prozessen.
- Die riesigen Kosten der Grenzsicherung werden eingespart. Die Kosten für die Ausschaffung nicht anerkannter Flüchtlinge entfallen ebenso wie die sozialen Kosten, die durch abgetauchte abgewiesene Flüchtlinge entstehen.
- Die Zuwanderer leisten von Anfang an einen Beitrag zum Gemeingut des Aufnahmelandes - Schulen, Gesundheitswesen, Infrastruktur, funktionierende Verwaltung – an dem sie partizipieren, ohne es mitgeschaffen zu haben.
- Die Produktivität der einheimischen Bevölkerung steigt. Viele gut qualifizierte einheimische Frauen sehen sind heute wegen Betreuungspflichten zu Teilzeit-Arbeit veranlasst. Sie könnten erheblich durch personenbezogene Dienstleistungen entlastet werden.
Wichtiger sind aber die nicht-monetären Vorteile.
- Deutschland ist nicht mehr auf einen EU-weiten Verteilungsschlüssel für Migranten angewiesen. Die Aufnahmeländer können die Zuwanderung mittels Variation der Abgabe steuern, ohne dabei humanitäre Anliegen zu vernachlässigen.
- Die Gefahr der Unterminierung unseres Sozialsystems durch importierte defizitäre Sozialsysteme wird verringert. Höhere Anforderungen an die Migranten fördern die Arbeitsmarktintegration und den schnelleren Erwerb von Sprachkenntnissen.
- Die unerwünschte Konzentration von Migranten in einzelnen Ballungsgebieten lässt sich verhindern, indem die Abgabe für diejenigen reduziert wird, die sich während der vorläufigen Aufnahmezeit außerhalb der Ballungsgebiete niederlassen.
- Schnelle Integration der Migranten und ihrer Kinder schliesst die Facharbeiter-Lücke und trägt zur Finanzierung unsers Rentensystems bei. All dies erhöht die Akzeptanz der Zuwanderer durch die einheimische Bevölkerung.
Für Migranten besteht der wichtigste Vorteil darin, dass sie ohne Lebensgefahr und traumatisierende Erlebnisse einreisen können. Sie partizipieren an unserem Sozialsystem wie Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Gleichzeitig steigt bei gleicher Qualifikation und bei gleicher Tätigkeit ihr Einkommen deutlich: Wer die gleiche Tätigkeit verrichtet wie in seinem Heimatland ist wesentlich produktiver, weil er sich nun in einem funktionierenden Umfeld befindet, in dem Telefon, Bahn oder die Materialzulieferung ordnungsgemäß arbeiten. Die Migranten werden von der quälenden Unsicherheit befreit, ob sie aufgenommen werden oder nicht. Ihre Angst, angesichts drohender Grenzschließung so schnell wie möglich nach Europa zu kommen, wird vermindert. Aus diesem Grund bleiben auch viele Zuwanderer unfreiwillig bei uns, sind sie einmal angelangt. Etwa die Hälfte der Migranten würde nach einiger Zeit wieder in ihr Heimatland zurückkehren, sofern die Grenzen offen sind (Achermann 2015).
In den Herkunftsländern entlastet Emigration den dortigen Arbeitsmarkt. In erster Linie wandert allerdings die einigermaßen gebildete Mittelschicht aus. Ein "brain drain" entsteht. Wird aber bei offenen Grenzen die Rückkehr-Willigkeit erhalten, entsteht "brain circulation", eine der effizientesten Formen der Entwicklungshilfe. Darüber hinaus bewirkt die kalkulierbare Perspektive einer Auswanderung, dass sich potentielle Emigranten im Heimatland anstrengen, um die Aufnahmegebühr bezahlen zu können. Ein Weg dazu ist bessere Ausbildung. Dies aber kann bewirken, dass man dann gar nicht mehr auswandern muss, weil man zuhause eine hohe soziale und ökonomische Rendite einfahren kann. Weiterhin profitieren die Herkunftsländer von den Zahlungen der Migranten an ihr Heimatland, den sogenannten Rimessen. Diese machen mehr als doppelt so viel aus wie die weltweite Entwicklungshilfe und sind vermutlich mehr als doppelt so effektiv. Sie sind bei Rückkehrwilligen um etwa 25 bis 50 Prozent höher als bei Migranten, die in den Aufnahmeländern bleiben wollen (Dustmann & Mestres 2007). Auch dies unterstreicht die Vorteile offener Grenzen. Schließlich profitieren die Herkunftsländer von den Netzwerken der Migranten, welche den Tourismus sowie den Austauschs von Gütern, Kapital und Information stärken.
Einwände gegen das Genossenschafts-Modell
Es liesse sich argumentieren, dass nur Personen einwandern könnten, welche die Kosten für den Anteilschein aufbringen können. Aber auch heute können sich nur diejenigen die Flucht leisten, die genügend Geld für die Schlepper bezahlen. Zuwanderer könnten darüber hinaus einen Kredit aufnehmen, den sie aus dem wesentlich höheren Einkommen verglichen zu ihrem Heimatland zurückzahlen können. Ein entsprechender Kreditmarkt dürfte leicht entstehen. Er könnte sich am Markt für Mikrokredite orientieren. Private Spender und humanitäre Organisationen könnten die Anteilsscheine für Bedürftige bezahlen, ebenso wie Firmen, die Mitarbeitende suchen. Damit würde zugleich ein direkter Bezug zu den Zuwanderern hergestellt, welcher die Integration begünstigt.
Als weiterer Einwand wird genannt, die Abgabe müsse sehr hoch sein, um eine wirksame Steuerungsfunktion zu erreichen. Dann aber würden die illegale Migration und das Schlepper-Unwesen fortbestehen. Das besagt aber nur, dass die Höhe der Integrationsabgabe mit Augenmass festgelegt werden muss. Sie sollte berücksichtigen, dass Preise auch eine expressive Wirkung entfalten: Sie signalisieren eine Norm, nämlich dass Eigenleistung erwartet wird, wenn man in eine Gemeinschaft aufgenommen werden will. Solche Normen sind erstaunlich wirksam, auch wenn sie nicht sanktioniert werden.
Viele Details sind noch zu klären. Aber wir sind überzeugt, dass mit unserem Modell für Migranten alle gewinnen würden: Die Aufnahmeländer, die Migranten und die Herkunftsländer.
Fuest, C. (2015): Standpunkt: Die Tücke des Samariter Dilemmas. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.Okt. 2015: 20.
©KOF ETH Zürich, 5. Apr. 2016