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Axiome in der Ökonomik?

Summary:
Schreitet die Neoklassik, die weiterhin vorherrschende Denkrichtung in der Ökonomik, durch Variation ihrer Axiome voran, wie es Leonhard Dobusch und Jakob Kapeller formuliert haben? Dieser Beitrag zweifelt an der Existenz von Axiomen in der Ökonomik und argumentiert, dass man letztere als Komplex aus paradigmatisch wirkenden Einzeltheorien bezeichnen kann. Dobusch und Kapeller (2009: 2[ a ]) haben über die vorherrschenden Denkgewohnheiten der modernen ökonomischen Theorie nachgedacht. Sie fragen, ob sich die Ökonomik als eine wissenschaftliche Disziplin überhaupt entwickelt. Und wenn ja, wie? Sie betrachten die Ökonomik unter einem paradigmatischen Aspekt, um die Pfadabhängigkeit und eventuelle Alternativen zur sogenannten Neoklassik herauszufinden. Als Beispiel für grundlegende Begriffe und Positionen des neoklassisch geprägten Mainstreams figurieren die Maximierung des Nutzens und die perfekte Konkurrenz (Dobusch und Kapeller 2009:3; im Folgenden wird bei einem Bezug auf diesen Artikel nur die Seitenzahl angegeben). Das Paradigmenkonzept An dieser Stelle würde es naheliegen, Ross und Reiter zu nennen, das heißt diejenigen Werke zu zitieren, die vermutlich zuerst und für die ökonomische Zunft beispielhaft jene Prinzipien in der ökonomischen Analyse angewandt haben. Das entspräche jedenfalls der ursprünglichen Intention des Erfinders des Paradigmenkonzepts.

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Georg Quaas considers the following as important:

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Schreitet die Neoklassik, die weiterhin vorherrschende Denkrichtung in der Ökonomik, durch Variation ihrer Axiome voran, wie es Leonhard Dobusch und Jakob Kapeller formuliert haben? Dieser Beitrag zweifelt an der Existenz von Axiomen in der Ökonomik und argumentiert, dass man letztere als Komplex aus paradigmatisch wirkenden Einzeltheorien bezeichnen kann.

Dobusch und Kapeller (2009: 2[ a ]) haben über die vorherrschenden Denkgewohnheiten der modernen ökonomischen Theorie nachgedacht. Sie fragen, ob sich die Ökonomik als eine wissenschaftliche Disziplin überhaupt entwickelt. Und wenn ja, wie? Sie betrachten die Ökonomik unter einem paradigmatischen Aspekt, um die Pfadabhängigkeit und eventuelle Alternativen zur sogenannten Neoklassik herauszufinden. Als Beispiel für grundlegende Begriffe und Positionen des neoklassisch geprägten Mainstreams figurieren die Maximierung des Nutzens und die perfekte Konkurrenz (Dobusch und Kapeller 2009:3; im Folgenden wird bei einem Bezug auf diesen Artikel nur die Seitenzahl angegeben).

Das Paradigmenkonzept

An dieser Stelle würde es naheliegen, Ross und Reiter zu nennen, das heißt diejenigen Werke zu zitieren, die vermutlich zuerst und für die ökonomische Zunft beispielhaft jene Prinzipien in der ökonomischen Analyse angewandt haben. Das entspräche jedenfalls der ursprünglichen Intention des Erfinders des Paradigmenkonzepts. Paradigmata sind für Thomas S. Kuhn "allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen  ..., die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern." (Kuhn 1967:11) Und um den Begriff der "wissenschaftlichen Leistung" anhand von Beispielen zu erläutern: "Die Physica von Aristoteles, der Almagest von Ptolemäus, Newtons Principia und Opticks, Franklins Electricity, Lavoisiers Chimie, Lyells Geology - diese und viele andere Werke dienten eine Zeitlang dazu, für nachfolgende Generationen von Fachleuten die anerkannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebiets zu bestimmen." (Kuhn 1967:28)

Stattdessen rekurrieren die Autoren auf den breiteren Begriff einer paradigmatischen Struktur einer Wissenschaftsdisziplin, die nach Roger Backhouse (2000) anhand folgender Kriterien identifiziert wird: (i) "Eigeneinschätzung der Ökonomen", (ii) "soziale und institutionelle Struktur" und ihre (iii)"Kernmetaphern". Unter Verzicht auf (i) konzentrieren sich Dobusch und Kapeller (4) vor allem auf (ii), eine Darstellung die übrigens von Friedrun Quaas (2015) in bestimmter Richtung fortgeführt und präzisiert wurde; hier soll allerdings nur interessieren, wie die Autoren (iii) den Kern ökonomischer Theorien beschreiben.

In der Tat gibt es wissenschaftstheoretische Ansätze, die im Kern von Theorien eine "Metaphorik" lokalisiert sehen möchten, und zwar im Gegensatz zu einer (tatsächlichen oder vermeintlichen) axiomatischen Struktur (Hesse 1966). In dieser Frage gibt es einen weiteren Bruch in der Referenzstruktur des Artikels von Dobusch und Kapeller, nämlich eine Abweichung nicht nur von der Paradigma-Auffassung des frühen Kuhn, sondern auch von den Backhouse-Kriterien, indem der "metaphorische Kern" ganz im Sinne der vorkuhnschen Wissenschaftsauffassung als "axiomatisch" angesehen wird. Genauer gesagt sollen die Theorien des Mainstreams im Kern wie folgt aufgebaut sein: "The central metaphors of neoclassical theory, like the machine …, the equilibrium …or rationality … are constitutive for its axiomatic foundations." (4)  Auf diesem Raster wird dann sogleich eine wesentliche These der Studie präsentiert, nämlich die (vermeintliche oder tatsächliche) Erkenntnis, dass die Neoklassik durch Variation ihrer Axiome fortschreitet: "If some of the axioms generated out of these metaphors are modified in order to produce new scientific puzzles by axiomatic variation this does not mean that they are abandoned." (4) Auf diese Weise, so die Autoren, sichert die Neoklassik nicht nur den Erkenntnisfortschritt, sondern auch ihre fortdauernde Identität, die grundlegend für ihre Dominanz im ökonomischen Mainstream ist.

Was sind Axiome?

Bis hierhin sollte deutlich geworden sein, dass Dobusch und Kapellers Wissenschaftskonzept eine Mischung aus mehreren (sich historisch zum Teil widersprechenden) wissenschaftstheoretischen Ansätzen ist, deren Komposition nur dann gerechtfertigt wäre, wenn die ökonomischen Theorien der Neoklassik tatsächlich so aufgebaut wären. Diesbezüglich erfolgt keinerlei Nachweis, dass dem so ist. Zwar findet man auf den folgenden 27 Seiten des Artikels mehrfach einen Bezug auf die behauptete axiomatische Struktur (5, 10, 16, 23), jedoch nicht ein einziges Mal auch nur den Ansatz eines Versuchs, die Existenz einer solchen Struktur nachzuweisen. Also frage ich: Was sind Axiome? Kann man Axiome aus Metaphern generieren? Gibt es Beispiele oder Gegenbeispiele zu der Annahme, dass ökonomische Theorien eine axiomatische Struktur haben? Wie erscheint die These der axiomatischen Variation im Lichte der tatsächlichen Struktur ökonomischer Theorien?

Ohne auf die umfängliche Diskussion über die axiomatische Struktur verschiedener Theorien (Geometrie, Newtons Mechanik, Logik) einzugehen, die besonders aus formal-logischer Sicht angestrengt wurde, möchte ich zwei wohl ziemlich allgemein akzeptierte Merkmale von Axiomen hervorheben: (i) Es handelt sich um Sätze (Aussagen, im Fall der Ethik auch um Werturteile oder moralische Regeln), die innerhalb einer speziellen Theorie nicht bewiesen werden können; (ii) des Weiteren um Sätze, die – wenn es innerhalb einer Theorie mehrere davon gibt – nicht auseinander abgeleitet werden können. Um festzustellen, ob ein Satz ein Axiom ist, setzt dies bereits eine umfassende Kenntnis der zugrunde liegenden Problematik voraus, also das Wissen um bereits anerkannte gesetzesartige Formulierungen, deren Analyse dann auf grundlegende Strukturen führt, die durch ein Axiomensystem explizit  formuliert werden (können).

Stellt man nun die Frage, ob Mainstream-Ökonomen die Neigung haben, solche axiomatischen Systeme aufzustellen, so genügt ein kurzer Vergleich des Aufbaus der bekannten makro- oder mikro-ökonomischen "Textbooks" mit der Euklidischen Geometrie, um dies zu verneinen. Und wo es keine Axiome gibt, da kann es auch keine axiomatische Variation geben. Wenn Dobusch und Kapeller behaupten, dass Axiome aus Metaphern erzeugt werden, die den ökonomischen Theorien zugrunde liegen (wahrscheinlich in Form von Begriffen wie "Homo oeconomicus", "Gleichgewicht" etc.) , so widerspricht das einer definitorischen Eigenschaft von Axiomen, nämlich ihrer Nicht-Ableitbarkeit.

Ein Beispiel für die Existenz einer "axiomatischen Variation" müsste die Transformation der "General Theory" in das IS-LM-Modell sein (28). In der Darstellung der ersten Formulierung dieses Modells findet man aber alles andere, nur keine Metaphern (Hicks 1937). Stattdessen operiert Hicks (i) aufgrund von Definitionen  (Geldmenge, Kassenhaltungskoeffizient, Volkseinkommen, Investitionen, Konsum etc.), (ii) mit Hintergrund-Modellen wie das Modell einer geschlossenen Volkswirtschaft und (iii) mit empirischen Hypothesen, z.B. über die Wirkung der Zinsrate auf die Ersparnis. Auf dieser Grundlage erläutert John Hicks die Unterschiede zwischen der klassischen Theorie und der von Keynes. Bestenfalls könnte man die Behauptung, dass die Ersparnis gleich der Investition ist, als "Axiom" bezeichnen, aber es ist keines, das variiert wird – des Weiteren ließe sich I=S leicht auf die Annahme einer geschlossenen Volkswirtschaft ("closed system") zurückführen, so dass es sich im strengen Sinn um gar kein Axiom handelt.

Axiome gleich Annahmen?

Möglicherweise meinen Dobusch und Kapeller mit dem Begriff der axiomatischen Struktur die simple Tatsache, dass Ökonomen – sei es nun solche von der hetero- oder der orthodoxen Seite – Annahmen machen. Axiome sind Annahmen, aber nicht alle Annahmen sind Axiome. Das ist ein wichtiger Punkt. Eine Annahme, die in einem Werk (einem Buch, einem Artikel, einem Vortrag) gemacht und deren Erklärungskraft für ein bestimmtes Gebiet demonstriert wird, übt eine paradigmatische Funktion für die weitere Forschung aus, so dass man die Hoffnung bzw. "begründete Erwartung" haben kann, dass die gleiche oder eine ähnliche (variierte) Annahme bei der Erklärung weiterer Phänomene fruchtbar wird.

Die Ökonomik enthält sowohl historisch als auch aktuell gesehen eine Vielzahl solcher Mini-Paradigmen. Die Vorstellung, dass es ein einziges ökonomisches Paradigma gäbe, das aus einer begrenzten Anzahl von Axiomen besteht, die dann auch noch variiert werden, geht völlig an der zutiefst eklektischen Natur der Ökonomik vorbei (Colander 2000:130, 133, 135, 140). Damit soll nicht bestritten werden, dass die meisten Ökonomen danach streben, eine gewisse Systematik in ihre Darstellungen zu bringen, eine Art Mini-Logik, die manchmal auch ein wenig an einen axiomatischen Aufbau erinnert. Aber schon die Tatsache, dass jeder seine eigene Systematik bevorzugt, belegt, dass die Ökonomik kein monolithisches Ganzes ist – wie es annähernd etwa Marx’ "Kapital" am Ende der klassischen Periode noch war oder wie wir es heute in den axiomatischen Systemen der Mathematik, der Informatik und der Logik vorfinden.

Um die hier vertretene Position positiv zu formulieren: Eine Anwendung der Kuhnschen Wissenschaftsauffassung auf die Ökonomik erfordert, diese Wissenschaftsdisziplin vor allem als einen Komplex von paradigmatisch wirkenden Einzeltheorien aufzufassen, die bei der Erklärung empirischer Phänomene in wechselnder Kombination und unter Weglassen des überwiegenden Teils gerade nicht relevanter Theorien zusammenwirken. Die Variation des jeweiligen Komplexes von Annahmen, der in einer je spezifischen Problemsituation als Erklärungsansatz dient, aber auch die Modifikation der Annahmen selber, ist Ausdruck der pluralistischen Struktur und der Flexibilität der Ökonomik, um die immer noch sehr fragmentarisch verstandene ökonomische Realität erklären und auf dieser Grundlage immer bessere Prognosen machen zu können. Logik und Mathematik sind dabei unverzichtbare Hilfsmittel, um komplexe Zusammenhänge, die ansonsten nur Genies überblicken, dem Normalwissenschaftler und dem interessierten Laien zugänglich zu machen. Dazu müssen die formalen Instrumente in ein begriffliches Umfeld eingebettet sein, die ihre ökonomisch sinnvolle Interpretation und vor allem empirische Tests der so formulierten Theorien ermöglicht. Da eine einzelne Theorie nur wenig erklärt, benötigen Ökonomen Modelle, die mehrere zusammenfassen, um volkswirtschaftliche Prozesse zu erklären (Quaas 2006).

Dieser Vorschlag erklärt, warum es schwer fällt, den Term "Neoklassik" (dasselbe gilt für "neoklassische Synthese" – falls nicht von vornherein mit beiden Begriffen dasselbe gemeint ist) eindeutig zu definieren, so dass es mancher Dogmenhistoriker vorziehen würde, diese Termini für "tot" zu erklären. Colanders New Millenium Economics als Bezeichnung für das, was der moderne Ökonom des Mainstreams tut, ist eine empirische Disziplin der komplexen Modelle, die aus ad hoc-Theorien bestehen. Die Beliebigkeit der Theorien, ihr eklektischer Charakter und der Verzicht auf eine Rechtfertigung der Annahmen ließe sich vielleicht besser als "post-modern" charakterisieren.

Auf der vorgeschlagenen wissenschaftstheoretischen Grundlage wäre die Spaltung der ökonomischen Zunft in Heterodoxe und Orthodoxe zu erklären. So wie Dobusch und Kapeller würde ich mich dazu vor allem auf soziologische Argumente stützen. Es liegt auf der Hand, dass ein lockerer Komplex von paradigmatisch wirkenden, aber nicht verbindlichen Theorien bzw. Theoriefragmenten in vielfältiger Weise durch Interessen, Vor-Urteile, Erfahrungen etc. beeinflusst werden kann, die außerhalb einer wie auch immer gearteten disziplinären Logik liegen. Das durchaus verständliche und vom individuellen Standpunkt rationale Interesse, einmal gelernte Theorien nicht aufgeben zu müssen, gehört sicherlich dazu. Klar dürfte auch sein, dass keine Wissenschaft in der Lage ist, alle Probleme des Lebens, ja nicht einmal die wichtigsten, zu lösen. Das macht nicht nur sozial Benachteiligte unzufrieden mit dem erreichten Stand der ökonomischen Erkenntnis, sondern auch die, die sich an den Eid des Volkswirtes von Hans Lenk und Matthias Maring (1992) erinnern. Doch ohne ein Anknüpfen an vorhandenen Theorien, gekoppelt mit ihrer Kritik und – wenn möglich – auch ihrer empirischen Überprüfung wird es keinen Erkenntnisfortschritt geben. Da hatte Karl Popper wohl recht.

Backhouse, Roger E. (2000): Progress in Heterodox Economics. Journal of the History of Economic Thought, 22, 2: 149-155.

Colander, David (2000): The Death of Neoclassical Economics. Journal of Economic Thought, 22, 2: 127-143.

Dobusch, Leonhard; Kapeller, Jakob (2009): "Why is Economics not an Evolutionary Science?" New Answers to Velen’s Old Question[ a ].

Hesse, Mary (1966): Models and Analogies in Science. Notre Dame, Indiana. S.157 ff.

Hicks, John R. (1937): Mr. Keynes and the Classics: a suggested interpretation. Econometrica, 5 (1937): 147-159.

Kuhn, Thomas S. (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M.

Lenk, Hans; Maring, Matthias (1992): Der Eid des Volkswirts. In: Wirtschaft und Ethik. Stuttgart.   

Quaas, Friedrun (2015): Die schleichende Dekonstruktion der Sozialen Marktwirtschaft zum neoliberalen Projekt. In: Markt! Welcher Markt? Der interdisziplinäre Diskurs um Märkte und Marktwirtschaft. Hrsg. von Walter Ötsch, Katrin Hirte, Stephan Pühringer, Lars Bräutigam, Marburg 2015. S. 157-179.

Quaas, Georg (2006): Zur Rolle der Theorie in makroökonometrischen Prognosemodellen. Wirtschaftswissenschaftliches Studium. 35, 9: 515-518.

©KOF ETH Zürich, 20. Apr. 2016

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