Saturday , April 27 2024
Home / Ökonomenstimme / Nachruf auf Reinhard Selten – The last beautiful mind

Nachruf auf Reinhard Selten – The last beautiful mind

Summary:
Am 23. August ist Reinhard Selten in Posen, heute Poznan, verstorben. Er war damit der letzte der drei Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften – die beiden anderen waren John Nash und John Harsanyi – die 1994 den Preis von der Schwedischen Reichsbank für ihre Leistungen bei der Entwicklung der Spieltheorie verliehen bekommen hatte.[ 1 ] Wie die beiden anderen Nobelpreisträger hatte Selten – der am 5. Oktober 1930 in Breslau, heute Wroclaw, geboren wurde, eine harte Jugend. Er hatte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter dem Antisemitismus in Deutschland zu leiden, weil sein Vater Jude war. Mit 14 Jahren, d.h. im Jahr 1944, war er gezwungen das dortige Gymnasium zu verlassen, da man ihn als Halbjuden dort nicht mehr weiter duldete. Er flüchtete 1945 mit seiner Mutter – sein Vater war bereits 1942 nach schwerer Krankheit verstorben – vor der anrückenden Roten Armee über Sachsen und Österreich nach Hessen. Dort konnte er dann sein Abitur in Melsungen nach 1946 im Jahr 1951 abschließen. Er war ein unmittelbar persönlich Betroffener der Politik des Naziregimes, aber wurde zugleich zum Flüchtling und Vertriebenen im Zuge der politischen Verhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Trotz dieser frühen dramatischen Lebensumstände hat er diese Zeit letztendlich wohl ohne größere Traumatisierungen überstanden.

Topics:
Georg Erber considers the following as important:

This could be interesting, too:

Cash - "Aktuell" | News writes Kann SGS die neuen Mittelfristziele mit den Quartalszahlen bestätigen?

Cash - "Aktuell" | News writes Käufer und Verkäufer finden sich beim Wohneigentum in der Schweiz oft nicht

Cash - "Aktuell" | News writes AMS Osram: Weniger Umsatz und Gewinn im ersten Quartal erwartet

finews.ch writes Basler Privatbankiers schreiben alte Börsenweisheit neu

Am 23. August ist Reinhard Selten in Posen, heute Poznan, verstorben. Er war damit der letzte der drei Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften – die beiden anderen waren John Nash und John Harsanyi – die 1994 den Preis von der Schwedischen Reichsbank für ihre Leistungen bei der Entwicklung der Spieltheorie verliehen bekommen hatte.[ 1 ]

indexWie die beiden anderen Nobelpreisträger hatte Selten – der am 5. Oktober 1930 in Breslau, heute Wroclaw, geboren wurde, eine harte Jugend. Er hatte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter dem Antisemitismus in Deutschland zu leiden, weil sein Vater Jude war. Mit 14 Jahren, d.h. im Jahr 1944, war er gezwungen das dortige Gymnasium zu verlassen, da man ihn als Halbjuden dort nicht mehr weiter duldete. Er flüchtete 1945 mit seiner Mutter – sein Vater war bereits 1942 nach schwerer Krankheit verstorben – vor der anrückenden Roten Armee über Sachsen und Österreich nach Hessen. Dort konnte er dann sein Abitur in Melsungen nach 1946 im Jahr 1951 abschließen.

Er war ein unmittelbar persönlich Betroffener der Politik des Naziregimes, aber wurde zugleich zum Flüchtling und Vertriebenen im Zuge der politischen Verhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Trotz dieser frühen dramatischen Lebensumstände hat er diese Zeit letztendlich wohl ohne größere Traumatisierungen überstanden. Wer die Biographien von John Nash und John Harsanyi betrachtet, findet gewisse Parallelen eines vielfach gebrochenen Lebenslaufs. John Nash ist mit seiner Biographie, A Beautiful Mind, und dem Film gleichen Titels – mit Russel Crowe in der Hauptrolle – ein Denkmal gesetzt worden. Selten ist der letzte dieses Trios, der jetzt verstorben ist. John Nash verstarb bereits im letzten Jahr und John Harsanyi schon im Jahr 2000. Wenn man allen dreien den Titel von Beautiful Minds zuerkennt, dann war Selten der letzte dieses speziellen Trios.

Spieltheorie als neuer Forschungsansatz in den Wirtschaftswissenschaften

Die von John von Neumann und Oskar Morgenstern aus der Taufe gehobene Spieltheorie als Erklärungsansatz für das menschliche Verhalten brach mit der zuvor herrschenden Tradition der mikroökonomischen Fundierung in Form von Angebots- und Nachfragefunktionen, die dazu dienten, um Marktgleichgewichte als Gleichgewichtspunkt von Angebot und Nachfrage zu bestimmen. Ob nun als Marshallsches partielles Marktgleichgewicht eines einzelnen Marktes oder im Sinne von Walras als allgemeines Gleichgewicht sämtlicher Güter- und Faktormärkte dem jeweils unabhängig voneinander nutzenmaximierende Wirtschaftssubjekte unterstellt wurden, interagierten im Rahmen der Spieltheorie die verschiedenen Akteure mit- bzw. gegeneinander. Anstelle der individuellen Nutzenmaximierung sollten – so der Grundgedanke der Spieltheorie – das Verhalten der Mit- bzw. Gegenspieler explizit bei der Entscheidungsfindung hinsichtlich der Nutzenmaximierung berücksichtigt werden. Deren Verhalten ist ein essentielles Element für die Bestimmung von Gleichgewichtszuständen als Referenzpunkte eines Entscheidungsproblems bei ökonomischen Fragestellungen.

John Nash formulierte auf dieser Grundlage seine Theorie der nicht-kooperativen und, entsprechend darauf folgend, kooperativen Gleichgewichte. Bei ersterer verzichten die Spieler, gemeint sind die Marktakteure, auf eine Koordination ihres Verhaltens, beim zweiten nutzen sie diese Möglichkeiten. Nash erkannte, dass nicht-kooperative Lösungen dabei die logische Untergrenze für Gleichgewichte hinsichtlich der Gewinnverteilung darstellen. Kooperative Lösungen sind nur dann realistisch, wenn es für alle Teilnehmer einen relativen Vorteil bietet. Im Rahmen eines Spiels zur Bestimmung solcher kooperativen Lösungen spielt die Kenntnis der nicht-kooperativen Lösung die Grundlage für eine kooperative Verhandlungslösung als Drohpunkt, die heute im Rahmen der Bargaining Theorie in vielfältiger Form analysiert wird.

Wenn aber Entscheidungen über das eigene Verhalten erst das Ergebnis von Verhandlungen sind, dann ergibt sich zwangsläufig ein Übergang von einer statischen Entscheidungstheorie hin zu einer dynamischen, denn im Verhandlungsprozess werden ja sequentiell Informationen zwischen den Verhandlungspartnern ausgetauscht, die zu einer Korrektur der ursprünglichen Haltung der jeweiligen Akteure führen können. Selten leistete dazu seinen Beitrag, in dem er als weiteren Referenzpunkt das teilspielperfekte Gleichgewicht als Referenzpunkt im Jahr 1965, dem Jahr der Veröffentlichung des Beitrags, hinzufügte, um komplexe spieltheoretische Entscheidungsprobleme analytisch in voneinander unabhängige Teile zerlegen zu können. Ein weiterer wichtiger Beitrag, der für die Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises an Reinhard Selten maßgeblich war, war die Einführung eines Trembling-Hand-perfekten-Gleichgewichts aus dem Jahr 1975. Hier geht es um die Frage, wie man potentielle Fehler der Mitspieler bei der Wahl der eigenen Strategie mit berücksichtigen kann, so dass man immer noch eine beste strategische Spielentscheidung treffen kann.

Anstelle der mathematisch betrachteten Vollkommenheit der Akteure im Verhandlungsprozess tritt nun die Möglichkeit des Fehlverhaltens einzelner Akteure. Nobody is perfect, gewissermaßen.

Reinhard Selten hat zunächst Mathematik an der Universität Frankfurt studiert und dort auch über die Bewertung von n-Personenspielen im Jahr 1961 bei Heinz Sauermann promoviert. Dort erwarb er sich das Rüstzeug für die oben genannten Erweiterungen der Spieltheorie. Nach einem kurzen Intermezzo in Berkeley in den USA kehrte er wieder nach Deutschland zurück und habilitierte sich an der Universität in Frankfurt. Seinen ersten Ruf als Professor erhielt er dann 1969 an die Freie Universität Berlin (FUB). Im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften lehrte er dort bis 1972.

Dort kreuzten sich unsere Wege zum ersten Mal. Ich hatte mit meinem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der dortigen Fakultät begonnen. Es war die Hochzeit der Studentenbewegung und die FUB war neben der Frankfurter Universität ein Zentrum davon. Oftmals wurde damals an den Universitäten gestreikt, d.h. das Semester endete kaum, dass es begonnen hatte. Trotzdem trafen sich interessierte und begabte Studenten, um an Lehrveranstaltungen und Seminaren teilzunehmen.

Spieltheorie galt dabei auch bei linken Studenten als interessanter Forschungsansatz, der die damals weitgehend vorherrschende neoklassische Theorie mit seinen andersartigen Denkansätzen in Frage stellte.

Was mich an Reinhard Selten bereits damals beeindruckte war seine Unvoreingenommenheit. Es gab bei ihm keine unsinnigen Fragen und er versuchte auch gar nicht den Teilnehmern zu suggerieren, dass er als Professor alle Antworten auf Fragen der Studenten parat hatte. Wenn er eine Fragestellung interessant fand, dann war er grundsätzlich bereit sich mit dieser auch intensiv auseinanderzusetzen.

Dies unterschied ihn deutlich vom eher dogmatischen Lehrverständnis anderer Hochschullehrer, die nur die damals herrschende Lehre vertraten und alle Fragen und Diskussionen, die diese in Frage stellten, als Störung ihrer Veranstaltung ansah. Seltens Charakterzug der wissenschaftlichen Neugier, Neues auszuprobieren und Bestehendes in Frage zu stellen, stach hier positiv heraus. Das trug ihm auch Sympathie der eher kritischen Studenten seiner Veranstaltungen ein.

Im Unterschied zu vielen Mathematikern und auch Physikern, die nach ihrem Mathematik- oder Physikstudium an die Fakultäten der Wirtschaftswissenschaften wegen der oftmals besseren Karrierechancen für sie dorthin wechselten, war Selten mehr auch an den inhaltlichen Fragestellungen der Ökonomen interessiert und weniger nur an einer rein formalen mathematischen Gleichgewichtsbetrachtung, wie sie im Zuge der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an Gérard Debreu im Jahr 1983 seit Mitte der 1970er Jahre en vogue wurde.

Von der reinen Spieltheorie zur experimentellen Ökonomie

Er holte sich seine Ideen und Inspirationen durch die Betrachtung von realen Entscheidungssituationen und entwickelte daraus neue theoretische Denkansätze zu menschlichem Entscheidungsverhalten. Mithin ging bei ihm der konkrete Anwendungsbezug nicht verloren. Schnell begriff er daher auch, dass die Annahme der vollkommenen Information der homo oeconomici, die diese gegebenenfalls auch entsprechend verarbeiten konnten, mit der Realität unvereinbar war. Menschen sind nicht perfekte Roboter, die selbst bei Vorhandensein vollständiger Informationen diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Zeitbeschränkungen auch nutzen können. Der Schritt zur Bounded Rationality[ 2 ] , d.h. der eingeschränkten Rationalität war daher zwangsläufig vorgezeichnet. Selten war sich der Grenzen menschlicher Rationalität bewusst, nobody is perfect, war daher seine grundlegende Haltung, die ihn in eine neue Richtung führte.[ 3 ]

Im Unterschied zu den Naturwissenschaften herrschte eine gewisse Selbstgenügsamkeit unter zahlreichen Mathematikern und Physikern, die in die Wirtschaftswissenschaften gewechselt waren, sich weiterhin nur mit rein mathematisch-analytischen Fragestellungen innerhalb der Ökonomie zu beschäftigen. Empirische Forschung blieb ihnen fremd. Aus ihrer Sicht waren sie Teil einer Arbeitsteilung zwischen Theoretikern und Praktikern der Wirtschaftswissenschaften. Als mathematische Wirtschaftstheoretiker brauchte man sich nicht um die praktische Anwendung ihrer Gleichgewichtstheorien zu kümmern. Das war nicht ihre Aufgabe.

Selten sah das offensichtlich anders. Er wollte die Hypothesen der mathematischen Wirtschaftstheorie auch einem praktischen empirischen Test unterziehen und so die Spreu vom Weizen trennen. Als Vehikel dazu dienten ihm für die Spieltheorie Laborexperimente, die er mit Studenten zunächst im Rahmen seiner Lehrveranstaltungen und Seminare durchführte. Hier nutzte er seine Erfahrungen, die er in Frankfurt als Mitarbeiter bei Heinz Sauermann gesammelt hatte.[ 4 ] Nur wollte er – wie die Experimentalphysik – die einzelnen Entscheidungsspiele unter kontrollierten Laborbedingungen auf ihre empirische Validität testen. Eine solche Forschung ist eindeutig kostspieliger als die Forschung in der reinen mathematischen Wirtschaftsforschung. Hier genügt in der Regel ja Papier und Bleistift.

Eine Chance, diese Pläne umzusetzen, bot sich, als in Bielefeld eine Reformuniversität neu gegründet wurde und dort ab dem Jahr 1970 ein Center for Mathematical Economics eingerichtet wurde. Gründungsdirektor war Carl-Christian von Weizsäcker. Reinhard Selten wechselte daher 1973 von Berlin nach Bielefeld, um dessen Position nach Weizsäckers Rücktritt einzunehmen. Pläne, das Zentrum gemeinsam mit Weizsäcker und Krelle zu einem international führenden Zentrum der mathematischen Wirtschaftsforschung auszubauen, scheiterten jedoch. So auch der Versuch, John Harsanyi nach Bielefeld zu berufen. Dieser hatte bereits die Altersgrenze zur Verbeamtung überschritten und wurde deshalb als beamteter Hochschullehrer nicht von der Universitätsverwaltung akzeptiert. Hinzu kam ein Machtkampf zwischen Soziologen unter der Führung Helmut Schelskys und den Mathematikern mit den Ökonomen um die finanzieller Ausstattung und die Zahl der Hochschullehrerstellen. Dabei unterlagen die Ökonomen nicht zuletzt auch wegen des Startvorteils der beiden anderen Forschungsbereiche. Darüber hinaus hatte Reinhard Selten nicht das Talent, sich in diesen internen Machtkämpfen der Universität Bielefeld erfolgreich durchzusetzen. Er war vom Naturell eher ein akademischer Forscher und kein in Machtkämpfen erprobter Wissenschaftsmanager. Nachdem klar wurde, dass sich seine Pläne in Bielefeld nicht verwirklichen ließen, nahm er dann einen Ruf an die Universität Bonn im Jahr 1984 an.

An der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms-Universität konnte er nun endlich seine Pläne der Errichtung eines Experimentallabors (BonnEconLab) für experimentelle Wirtschaftsforschung verwirklichen. Seit seiner Gründung wurden dort unter seiner Leitung bis zu seiner Emeritierung Laborexperimente durchgeführt, an denen bis zum Jahr 2013 rund 30 Tsd. Menschen teilgenommen haben. Im Vordergrund stehen Untersuchungen und Experimente zu Auktionen und Märkten, Verhandlungen, Arbeits- und Gesundheitsökonomik, Fairness, Reziprozität, Gruppenentscheidungen sowie später auch interkulturelle Untersuchungen und Neuroökonomik. Damit hat er einen maßgeblichen Beitrag dazu geleistet, dass die von Kritikern als Glasperlenspiele in einem Elfenbeinturm bezeichneten rein mathematischen Mikroökonomie in der Tradition von Gérard Debreu in Deutschland den Rückzug antreten musste. Empirische praktische Relevanz geht seither vor mathematisch abstrakter Eleganz auch in den Wirtschaftswissenschaften. Neben der Ökonometrie hat so die experimentelle Wirtschaftsforschung das Grundverständnis der Wirtschaftswissenschaften hin zu einer Verhaltenstheorie auf Grundlage empirischer Tests vollzogen. Auch nach seiner Emeritierung blieb er weiterhin wissenschaftlich aktiv, wie nicht zuletzt sein Tod in Poznan auf einer wissenschaftlichen Vortragsreise dorthin belegt.

Er hat mit seinen Arbeiten auch den Durchbruch für Forschungen im Bereich der Verknüpfung von Verhaltensökonomie mit der Psychologie, wie sie von Daniel Kahneman zusammen mit Vernon Smith, der durch Laborexperimente die Wirkung von Institutionen auf das Entscheidungsverhalten von Personen analysierte, die im Jahr 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis gewürdigt wurden, in Deutschland maßgeblich mit vorangetrieben. Ziel dieser Bemühungen ist es, im Sinne einer unifying theory, der gesamten Sozialwissenschaften die zuvor verlorengegangene Interdisziplinarität der verschiedenen Disziplinen wieder herzustellen.

Es lässt sich ein Bogen spannen, der zunächst durch das Eindringen von Mathematikern und Physikern in die Wirtschaftswissenschaften zuerst dort eine rigorose mathematische Analyse vorangetrieben wurde, die aber aufgrund des Mangels an empirischer Validierung der Grundannahmen der mathematischen Wirtschaftstheorie einer komplementären empirischen Analyse bedurfte, um aus den Falsifikationen von Ausgangshypothesen das theoretische Denkgebäude grundlegend zu reformieren und so letztendlich realitätstauglicher zu machen.  Dieser Prozess ist weiterhin im Gange und keineswegs abgeschlossen.

Bescheiden im Auftreten, aber radikal in der Sache

Selten nahm dabei immer die Rolle eines radikalen Vordenkers ein, der sich wenig um tradierte Lehrmeinungen scherte. Ich hatte einmal die Gelegenheit diese Grundhaltung von ihm bei einer Fortbildungsveranstaltung zur Extended Bounded Rationality an der Humboldt Universität Berlin (HUB) kennen zu lernen, die gemeinsam mit Werner Güth durchgeführt wurde. Damals ergab sich ein Disput zwischen Selten und Güth.

Güth wollte die Denkansätze, die Selten vorschlug, in das bestehende Lehrgebäude der Spieltheorie als inkrementelle Erweiterung integrieren. Selten war dies völlig fremd und egal. Als radikaler Denker scherte er sich nicht um Lehrgebäude. Für ihn war maßgeblich, ob seine Lösung eines Problems funktionierte, wenn damit das bestehende Lehrgebäude Schaden nahm, umso schlimmer für dieses. Was der empirischen Überprüfung nicht standhält – musste aus Seltens Perspektive – weichen. Lehrgebäude hin oder her. Ich fand diese Haltung sehr sympathisch, weil sie verdeutlich wie sehr sich Selten nicht an bestehenden Konventionen ausrichtete.

Als Unternehmensberater

Als eine weitere Anekdote, die ich zu Reinhard Selten beisteuern kann, fällt mir seine Rolle als Berater der Deutschen Telekom für die Auktion der UMTS-Lizenzen ein. Als Innovation war von der damaligen Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RegTP), die heute als Bundesnetzagentur weitere Netzwerkindustrien regulatorisch überwacht, ein Auktionsverfahren für die UMTS-Lizenzen ausgeschrieben worden.

Im Prinzip bestand aufgrund des Auktionsdesigns die Möglichkeit, dass zwischen vier und sechs Lizenznehmer eine UMTS-Lizenz erwerben konnten. Mithin war die Anzahl der Lizenznehmer endogen im Zuge der Auktionsverlaufs bestimmt. Die Auktion erbrachte einen unerwartet hohen Erlös von 50,8 Mrd. Euro. Ich selbst hatte damals in einem DIW Wochenbericht[ 5 ] vor zu hohen Geboten im Zuge des Auktionsprozesses gewarnt, da bereits aus anderen Auktionen bekannt war, dass es zu einem Problem eines Auktionsergebnisses führen könnte, der in der Literatur als winner’s curse bekannt ist.[ 6 ] Die UMTS-Auktion endete damit, dass nur vier Lizenzen vergeben wurden.

Mithin stellte sich die Frage warum? Einen Hinweis, warum dieses Ergebnis zustande gekommen war, lieferte mir ein Artikel von Reinhard Selten aus dem Jahr 1973.[ 7 ] Die Deutsche Telekom hatte systematisch die Lizenzgebote nach oben getrieben. Warum? Nun, Selten wusste aus seinen früheren Studien zu unvollkommenem Wettbewerb auf oligopolistischen Märkten, dass die Anzahl der Marktteilnehmer die entscheidende strategische Variable im Auktionsverfahren ist. Die Deutsche Telekom als bereits vorher marktbeherrschendes Unternehmen war also aus seiner Interessenlage gut beraten alles zu unternehmen, um die Zahl der potentiellen Wettbewerber im Mobilfunkmarkt klein zu halten, d.h. vier waren deutlich vorteilhafter als sechs. Im Nachgang hat sich dies dann auch am Mobilfunkmarkt bestätigt. Nachdem nur vier Lizenznehmer eine Lizenz zu den vergleichsweise hohen Lizenzgebühren erwarben, nahm die Marktmacht der Deutschen Telekom deutlich zu. Nach der Fusion von O2 und ePlus ist deren Zahl bereits weiter auf drei Marktteilnehmer im Mobilfunkmarkt in Deutschland geschrumpft.

Selten hatte wohl anders als andere Beobachter oder Berater frühzeitig erkannt, dass die optimale Auktionsstrategie für die Deutsche Telekom darin bestand, die Zahl der Lizenznehmer auf vier zu begrenzen. Im Sinne Seltens war dieses Ziel strategisch dominant und teilspielperfekt gegenüber den einzelnen Auktionsrundengeboten.  Diese Strategie bedurfte auch keiner Kooperation, die sowieso letztendlich verboten war. Wenn dabei dies zunächst wirtschaftlich unsinnig erscheinen musste (winner’s curse), die Börsenkurse der Lizenzerwerbe fielen alle dramatisch, so hat sich langfristig die Strategie für die Deutsche Telekom trotzdem bezahlt gemacht. Da sie danach ihre Marktstellung in Deutschland weiter ausbauen konnte, wurden die anfänglich hohen Verluste durch die überhöhten Lizenzzahlungen langfristig durch die aufgrund bestehender und sogar wachsender Marktmacht und daraus resultierenden höheren Erlösemittels höherer mark-ups letztendlich später wieder wettgemacht. Andere Lizenznehmer waren wirtschaftlich stärker geschwächt und haben sich davon nicht mehr vollständig erholt. Selten hatte als Berater sowohl den Konkurrenten der Deutschen Telekom als auch der RegTP ein Schnippchen geschlagen. Er hatte ein tieferes Verständnis der Situation als die anderen Berater der Konkurrenz an den Tag gelegt. Eine Auktion mit der endogenen Bestimmung der Anzahl der Lizenznehmer hat es seither auch nicht wieder gegeben.

Seltens Grundüberzeugungen und politisches Engagement

Was zeigt uns diese Episode über Reinhard Selten? Nun, er stand mit beiden Beinen in der Wirklichkeit und war keineswegs ein weltfremder Wissenschaftler, der nur in seinen Theoriewelten lebte.

Abschließend ist noch festzuhalten, dass er trotz der eingangs bereits erwähnten Verfolgung als Halbjude im Dritten Reich keineswegs – soweit mir bekannt – dies den Deutschen dauerhaft nachgetragen hat, in dem er ständig auf diese Ungerechtigkeiten bis hin zum Holocaust hinwies. Stattdessen hatte er im Sinne der set-point Theorie eine positive Lebenseinstellung, die ihn dazu befähigte auch solche massiven negativen Erfahrungen für sich persönlich zu verarbeiten.

Er verstand sich sowohl als Deutscher, aber auch als Weltbürger. Für ersteres steht, dass er Deutschland nicht den Rücken gekehrt hat. Er hätte aufgrund seines Erfolges als Wissenschaftler ohne weiteres anderswo eine attraktive Anstellung gefunden. Sein Engagement für Esperanto als Weltsprache seit seiner Jugend ist für letzteres ein Beweis. Er kandidierte sogar im Jahr 2009 als Spitzenkandidat bei der Wahl für das Europäische Parlament auf der Liste Europa – Demokratie -Esperanto (EDE).

In einer Zeit, wo im Zuge der Flüchtlingskrise die Ausgrenzung und Abgrenzung von fremden Kulturen rasant  zunimmt, war er ein Vertreter einer offenen Gesellschaft. Das muss nicht heißen, dass er eine laissez faire Haltung in dieser Frage eingenommen hätte oder hat, aber er hatte die Grundüberzeugungen, um eine menschenwürdige Lösung für alle Beteiligten für erstrebenswert zu halten.

Resümee dieser kleinen Laudatio

Am 5. Oktober wäre jetzt Reinhard Selten 86 Jahre alt geworden. Vielleicht ist dieser Beitrag ja auch ein kleines nachträgliches Geburtstagsgeschenk für ihn, a beautiful mind. Im Rahmen seiner Möglichkeiten hat er sowohl der Wissenschaft als auch den Menschheit insgesamt einen Dienst erwiesen, in dem er durch wissenschaftliche Neugier, Toleranz und Tatendrang die Welt in aller Bescheidenheit ein bisschen besser gemacht hat.


  • 1  Eigentlich könnte man neben Reinhard Selten auch Wassily Leontief zu den deutschen Nobelpreisträgern in Wirtschaftswissenschaften zählen, der bereits 1973 mit dem Preis geehrt worden war. Über das Geburtsdatum und den Geburtsort Leontiefs herrschte lange Zeit Unklarheit, da sein Vater ein Wirtschaftsprofessor in St Petersburg – seine Mutter war Deutsche – sein Geburtsjahr vom Jahr 1905 auf das Jahr 1906 umdatierte, damit sein Sohn die russische Staatsbürgerschaft erhielt. Geboren wurde Leontief aber am 5. August 1905 in München. Leontief sprach seine Muttersprache fließend bis ins hohe Alter, wie ich bei einigen Treffen mit ihm in New York persönlich feststellen konnte. Seine wissenschaftliche Karriere begann ebenfalls in Berlin und Kiel bevor er nach Amerika emigrierte. Auch Leontief hat eine Biographie der Flucht und Vertreibung wie viele Zeitgenossen der ersten Hälfte der 20. Jahrhunderts.
  • 2  Herbert Simon wurde für seine auf diesem Gebiet 1978 ebenfalls mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt.
  • 3  Sauermann hat bereits eine Anspruchsanpassungstheorie entwickelt, die später in der Literatur auch für seine Arbeiten als satisficing behaviour theory Herbert Simon den Wirtschaftsnobelpreis einbrachte.
  • 4  Heinz Sauermann hatte auch keine rein wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung, sondern war als Soziologe auch mit den Methoden der empirischen Sozialforschung vertraut. Diese übertrug Sauermann nun auch in die Wirtschaftswissenschaften und schuf damit erste Grundlagen einer empirischen Forschung zum empirisch fundierten Entscheidungsverhalten von Menschen im Bereich der Wirtschaftswissenschaften.
  • 5  Georg Erber (2000), Die UMTS-Lizenzvergabe in Deutschland: Auktionsverfahren unbefriedigend, in: DIW-Wochenbericht, 67(30),490-497.
  • 6  Weil Auktionsteilnehmer bei Unsicherheit über den Informationsstand der anderen Teilnehmer oftmals der Vermutung unterliegen, dass diejenigen die höhere Gebote abgeben bessere Informationen besitzen, um den Wert einer Lizenz adäquat einschätzen zu können. Da Informationsaustausch und Kooperation bei solchen Auktionen verboten sind, kommt es daher leicht zu einem wechselseitigen Überbieten, weil jeweils die anderen Teilnehmer glauben andere, die höhere Gebote geben, hätten einen Informationsvorsprung. Am Ende muss oftmals der Auktionsgewinner jedoch nachträglich feststellen, dass der effektive Wert einer Lizenz unter dem vermuteten Wert liegt.
  • 7  Reinhard Selten (1973), A Simple Model of Imperfect Competition, Where 4 are Few and 6 are Many, in: International Journal of Games Theory, 2(1), 141-201, Dezember 1973.

©KOF ETH Zürich, 27. Sep. 2016

Georg Erber
Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Berlin war Georg Erber dort wissenschaftlicher Assistent am Institut für Versicherungsmathematik und Statistik mit dem Schwerpunkt Ökonometrie und Statistik.