Was braucht es für ein finanziell nachhaltiges Gesundheitswesen? Dieser Beitrag listet elf Punkte auf, die bei einer nachhaltigen Finanzierung von Gesundheitsleistungen eine Rolle spielen und leitet daraus Empfehlungen ab. 1. Fragen einer nachhaltigen Finanzierung im Gesundheitswesen beziehen sich in aller Regel auf die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, die Pflegeversicherung und die Rentenversicherung mit ihren Rehabilitationsleistungen. Die Unfallversicherung, der öffentliche Gesundheitsdienst, die Lohnfortzahlung und die Forschung und Entwicklung am Wirtschaftsstandort Deutschland stehen eher am Rande dieser Diskussion. Die Politik kommender Legislaturperioden wird sich weiterhin und dauerhaft damit befassen müssen, wie Gesundheitsausgaben in den genannten und anderen Bereichen des Gesundheitswesens dauerhaft finanziert werden sollen. 2. Der institutionellen Vielfalt in Form der genannten Ausgabenträger und Bereiche steht eine ebensolche Komplexität in der „äußeren Finanzierung“ bzw. Mittelaufbringung und in der „inneren Finanzierung“ bzw. Mittelverwendung oder Bezahlung von Gesundheitsleistungen gegenüber. 3.
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Was braucht es für ein finanziell nachhaltiges Gesundheitswesen? Dieser Beitrag listet elf Punkte auf, die bei einer nachhaltigen Finanzierung von Gesundheitsleistungen eine Rolle spielen und leitet daraus Empfehlungen ab.
1. Fragen einer nachhaltigen Finanzierung im Gesundheitswesen beziehen sich in aller Regel auf die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, die Pflegeversicherung und die Rentenversicherung mit ihren Rehabilitationsleistungen. Die Unfallversicherung, der öffentliche Gesundheitsdienst, die Lohnfortzahlung und die Forschung und Entwicklung am Wirtschaftsstandort Deutschland stehen eher am Rande dieser Diskussion. Die Politik kommender Legislaturperioden wird sich weiterhin und dauerhaft damit befassen müssen, wie Gesundheitsausgaben in den genannten und anderen Bereichen des Gesundheitswesens dauerhaft finanziert werden sollen.
2. Der institutionellen Vielfalt in Form der genannten Ausgabenträger und Bereiche steht eine ebensolche Komplexität in der „äußeren Finanzierung“ bzw. Mittelaufbringung und in der „inneren Finanzierung“ bzw. Mittelverwendung oder Bezahlung von Gesundheitsleistungen gegenüber.
3. Politisch muss immer wieder entschieden werden, ob dem Bismarck-Modell mit seinen Sozialversicherungsbeiträgen und den dazu gehörigen Institutionen die Zukunft der Mittelaufbringung gehören oder ob das Beveridge-Modell mit seiner Finanzierung über Steuern oder genauer über allgemeine Deckungsmittel deutschlandweit und auch europaweit an Bedeutung gewinnen soll. Hier besteht ein Wettbewerb der Systeme in der Mittelaufbringung.
Dazu gehört auch eine Entscheidung über die Rolle des Umlageverfahrens und das Ausmaß einer kapitelbildenden Finanzierung. Dem seit Bismarck existierenden Sozialversicherungssystem könnte man Nachhaltigkeit allein damit belegen, dass es Weltkriege, Inflationen und Bankenkrisen überdauert hat sowie die Niedrigzinsphase gut zu bewältigen scheint. Auch darin, dass allein die Krankenversicherung der Arbeiter aus dem Jahre 1883 stammt (damals Beiträge 2/3 der Arbeitnehmer und 1/3 der Arbeitgeber mit maximal 6% auf Löhne und Gehälter mit Versicherungspflicht bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze) liegt eine gewisse Nachhaltigkeit in der Finanzierung bzw. Mittelaufbringung.
4. Bei der Finanzierung über Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge steht die Erweiterung der bisherigen Bestandteile der Bemessungsgrundlage (Löhne, Gehälter und Renten) um Mieten, Kapitalerträge oder Wertschöpfung seit langem zur Diskussion.
In diesem Finanzierungskontext steht auch die aktuelle Frage nach der Wiedereinführung der kompletten paritätischen Finanzierung der GKV-Ausgaben auf der Agenda. Eine Auszahlung oder auch nur Festschreibung der Arbeitgeberbeiträge ist zur Senkung der Lohnnebenkosten angebracht und aus ökonomischer Perspektive unter dem Aspekt des Wettbewerbs über die Höhe der Beitragssätze der über 100 GKVen auch zu rechtfertigen. Wahl- und Wechselmöglichkeiten bekämen einen viel stärkeren Anreiz, wenn der Arbeitgeberbeitrag entfiele.
Diese Auffassung der Ökonomen scheitert aber möglicherweise an den politischen Gegebenheiten in der bestehenden Selbstverwaltung mit ihren weitgehend paritätisch besetzten Verwaltungsräten. Dort wäre die Beteiligung der Arbeitgeber bei dauerhafter Aufgabe der paritätischen Finanzierung nur noch eingeschränkt sinnvoll, wenn nicht sogar hinfällig. Der gewünschte Einfluss der Arbeitgeber auf die Gesundheitspolitik entfiele auf dieser Ebene der Selbstverwaltung.
Im Mittelpunkt der Mittelaufbringung steht in der GKV auch die Finanzierung von Art und Umfang erstattungsfähiger Leistungen bzw. des sog. Leistungskatalogs. Dazu gehört auch die Sicherstellung ambulanter und stationärer Leistungen durch die KVen und die Bundesländer. Sowohl die dynamische Entwicklung erstattungsfähiger Leistungen (z.B. Brillen, Hörgeräte) als auch der Umfang der Sicherstellung stehen dauerhaft zur Diskussion. Und es kann gefragt werden:
- Welche Formen der Leistungssteuerung und Leistungsbegrenzung erhalten die Auszeichnung Nachhaltigkeit und ermöglichen eine tragfähige Finanzierung?
- Gibt es sozial adäquate Zuzahlungsmodelle und Leistungsausgrenzungen oder unterschiedliche Tarifmodelle, die sich als tragbar erweisen ohne die Versorgung auf eine zu niedrige Basisversorgung zu reduzieren?
- Welche Formen einer ergebnisorientierten Vergütung sind bereits umsetzbar? Dabei geht es auch um weitere Aufgaben für den G-BA.
5. Zur Mittelaufbringung zählen letztlich auch alle Wege zu einer Mobilisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven bzw. der Rationalisierung, die es immer geben wird. Schließlich gehören höhere Anteile in der individuellen Einkommensverwendung für Gesundheitsleistungen, also Konsum- oder Investitionsausgaben, sowie Prämienzahlungen, Selbstbeteiligung und Zuzahlungen zur Mittelaufbringung. Auch die Bundeszuschüsse zum Gesundheitsfonds und die Forschungsausgaben im Gesundheitswesen durch das Bundesforschungsministerium stehen hier zur Diskussion.
6. Zur Mittelverwendung zählen die Bezahlung von erbrachten Gesundheitsleistungen im Krankenhaus, beim niedergelassenen Arzt, beim Zahnarzt, in der Apotheke, im Heil- und Hilfsmittelbereich etc. Bei der Art der inneren Finanzierung geht es dann um die Vergütung, Honorierung, Bezahlung von erbrachten Leistungen durch die KVen und Krankenkassen. Sie erfolgt noch immer überwiegend „gemeinsam und einheitlich“ bzw. durch Kollektiv- und weniger häufig durch Individualvereinbarungen (selektive Verträge).
7. Angesichts der erforderlichen Finanzierung der Zusatzbeiträge für die Versicherten wird an die aus konjunkturellen Gründen angesammelten Überschüsse aus den Reserven des Gesundheitsfonds und der Rücklagen der gesetzlichen Krankenkassen gedacht. Diese Mittel sind erforderlich, um die entstehenden Ausgabensteigerungen aufgrund der zahlreichen Gesetze (Krankenhausstrukturgesetz, Versorgungsstärkungsgesetz, e-health Gesetz, Hospiz- und Palliativgesetz, Gesetz der Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der GKV) aufzufangen. Da diese Finanzierungswege dauerhaft nicht ausreichen werden, ist mit Sicherheit mit steigenden Zusatzbeiträgen zu rechnen. Sie werden vom Spitzenverband der GKV bereits prognostiziert, allerdings ohne Hinweise darauf, wie sie möglicherweise durch wettbewerbliche Strukturen vermieden werden könnten.
Eine Besonderheit ergibt sich noch beim Gesundheitsfonds, der angesichts der Niedrigzinsphase bei seiner Rücklagenbildung Strafzinsen in Millionenhöhe zu zahlen hat.
8. Der Finanzierungsdruck kommt nach Ansicht von Experten weniger durch die absehbare demographische Entwicklung mit ihren Herausforderungen als vielmehr durch den durchaus wünschenswerten medizinisch-technischen Fortschritt. Medizintechnik und Arzneimittel bzw. die industrielle Gesundheitswirtschaft gehören zu den Ausgabentreibern, die sich aber in dem einer oder anderen Bereich angesichts ihres Beitrags zum BIP von 11% auch selbst finanzieren.
9. Bei der Selbstfinanzierung ist auch an den Zweiten Gesundheitsmarkt zu denken. Konsumnahe Anwendungsfelder (Sportmedizin, wellness, fitness), ästhetische Zahnheilkunde, Implantate, Prothetik, Selbst- und Fremd- Gesundheitsmonitoring, Online Erfassung von Vitalparametern, home care for the elderly etc. etc. weisen auf den Bereich von stark wachsenden Konsumausgaben hin, die im Jahre 2014/15 knapp 3 % des Bruttoinlandsprodukts ausmachen.
10. Eine Diskussion über den Innovationsfonds versus eines eigenen Anteils Forschungs- und Entwicklungsbudgets der Krankenkassen ist nach den politischen Entscheidungen für den Innovationsfonds auf absehbare Zeit wohl nicht aktuell. Grundlagenforschung, Wagniskapitel/Gründerfonds, collective risk taking (Anstoß-finanzierung), Netzbudgets, Teleportalkliniken als neue Wege einer äußeren und inneren Finanzierung sollten daher eine größere Rolle spielen.
11. Schließlich sei noch auf eine verhaltenslenkende Gesundheitspolitik hingewiesen. Wie können gezielt Anreize zu gesundheitsbewusstem Verhalten und die Übernahme von mehr Eigenverantwortung des Bürgers für seine eigene Gesundheit gesetzt werden, um die Stabilität des Gesamtsystems zu sichern? Hier werden gelegentlich vorgeschlagen, Mittel aus der Besteuerung von gesundheitsgefährdenden Genussmitteln wie Tabak, Alkohol, Zucker für gesellschaftliche Aufgaben (z.B. versicherungsfremde Leistungen) zu verwenden.
Empfehlungen
- Stärkung des (nachhaltigen) Bismarckschen Systems der Sozialversicherung
- Weiterentwicklung einer stärker ergebnisorientierten Vergütung von erbrachten Gesundheitsleistungen
- Zukünftiger gesundheitspolitischer Einfluss der Arbeitgeber angesichts der zukünftigen Rolle der Zusatzbeiträge?
- Leistungssteuerung und Leistungsbegrenzung verstärken, z.B. durch den G-BA?
- Höherer Anteile in der individuellen Einkommensverwendung für Gesundheit (Zweiter Gesundheitsmarkt)
- Selbstfinanzierungspotentiale innerhalb der Gesundheitswirtschaft, z.B. Diabetes-Prävention
- Gesundheitsgefährdende Genussmitteln stärker belasten mit einer Zweckbindung des Aufkommens, z.B. für versicherungsfremde Leistungen?
Bührlen, B. et al, Gesundheit neu denken, 2. Unveränderte Auflage, Fraunhofer Verlag, Stuttgart 2014.
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Gottret, P., Schieber, G., Health Financing Revisited – A Practioner´s Guide. The World Bank, Washington, D.C. 2006, 318 Seiten.
Bundesministerium der FInanzen, Vierter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, Berlin 2016.
Häußler, J, Breyer, F., Does diabetes prevention pay for itself? Evaluation of the M.O.B.I.L.I.S. program for obese persons, European J Health Econ, 2016, HEFT 7, S. 379-389.
©KOF ETH Zürich, 1. Nov. 2016