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Entsteht strukturelle Arbeitslosigkeit durch Hysterese?

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Ist der Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit durch einen sich stetig verschlechternden Trend erklärbar oder handelt es sich dabei um vorerst zyklische Arbeitslosigkeit, die sich verfestigt? Dieser Beitrag untersucht anhand der Arbeitslosenquoten in Deutschland und den USA, welcher dieser zwei Erklärungsmuster die Entwicklung der Arbeitslosigkeit besser erklärt. Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Arbeitslosenquoten in den USA und Deutschland. Seit den 1970er Jahren steigt die deutsche Arbeitslosigkeit treppenförmig an, bevor im Jahr 2005 der erste nachhaltige Rückgang einsetzte. Der jahrzehntelange Anstieg könnte auf zwei Arten gedeutet werden: Einerseits könnte ein sich stetig verschlechternder Trend gewirkt haben, und die Treppenstufen kämen durch zyklische Schwankungen um diesen Trend herum zustande. Ein solcher Trend könnte beispielsweise durch ungünstiger werdende institutionelle Rahmenbedingungen und Anreize oder Friktionen im strukturellen Wandel getrieben sein (z. B. Blanchard/Wolfers 2000, Nickell et al. 2005). Andererseits wäre es möglich, dass Verschlechterungen der Arbeitsmarktlage zunächst zyklischer Natur waren, die zyklische Arbeitslosigkeit sich dann aber verfestigte.

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Ist der Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit durch einen sich stetig verschlechternden Trend erklärbar oder handelt es sich dabei um vorerst zyklische Arbeitslosigkeit, die sich verfestigt? Dieser Beitrag untersucht anhand der Arbeitslosenquoten in Deutschland und den USA, welcher dieser zwei Erklärungsmuster die Entwicklung der Arbeitslosigkeit besser erklärt.

Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Arbeitslosenquoten in den USA und Deutschland. Seit den 1970er Jahren steigt die deutsche Arbeitslosigkeit treppenförmig an, bevor im Jahr 2005 der erste nachhaltige Rückgang einsetzte. Der jahrzehntelange Anstieg könnte auf zwei Arten gedeutet werden: Einerseits könnte ein sich stetig verschlechternder Trend gewirkt haben, und die Treppenstufen kämen durch zyklische Schwankungen um diesen Trend herum zustande. Ein solcher Trend könnte beispielsweise durch ungünstiger werdende institutionelle Rahmenbedingungen und Anreize oder Friktionen im strukturellen Wandel getrieben sein (z. B. Blanchard/Wolfers 2000, Nickell et al. 2005).

Andererseits wäre es möglich, dass Verschlechterungen der Arbeitsmarktlage zunächst zyklischer Natur waren, die zyklische Arbeitslosigkeit sich dann aber verfestigte. Zu derartigen Hysterese-Effekten (Blanchard/Summers 1986, Blanchard/Diamond 1994) kann es kommen, wenn Fähigkeiten oder Motivation während der Arbeitslosigkeit verloren gehen, Arbeitslosigkeit stigmatisierend wirkt oder Insider-Lohnverhandlungen die Eintrittsbarrieren zu hoch setzen.

Abbildung 1: Arbeitslosenquoten in Deutschland und den USA

Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Bureau of Labor Statistics
Wegen unterschiedlicher Definition und Erfassung sind die Niveaus nicht vergleichbar.

Um der Natur der Arbeitslosigkeitsentwicklung auf den Grund zu gehen, konstruieren wir (Klinger/Weber 2016) ein neues Modell mit unbeobachteten Komponenten (Trend und Zyklus) und Markov-Switching (also verschiedenen Effekten in Aufschwung und Rezession). Dieses Modell erfüllt drei entscheidende Anforderungen: Es generiert eine Trend-Zyklus-Zerlegung, es identifiziert kausale Effekte zwischen diesen Komponenten (vgl. Weber 2011), und es bildet asymmetrische Reaktionen über den Konjunkturzyklus ab. Strukturelle Arbeitslosigkeit kann sich hier flexibel als stochastischer Trend mit Drift entwickeln. Das bedeutet, sie kann einem linearen deterministischen Trend folgen, aber auch stochastischen (also variablen) permanenten Bewegungen.

Der Trend kann in einem von zwei endogenen Regimen – dem Rezessionsregime – auch von Schocks auf die zyklische Arbeitslosigkeit und dem verzögerten Zyklus selbst abhängen. In diesem Falle würde die zyklische Komponente in den Trend übergehen und sich damit verfestigen. Das Modell überlässt es den Daten, welche Bedeutung diese Verfestigung zyklischer Arbeitslosigkeit für den Trend hat, inwieweit dieser dagegen initial schon strukturell – und nicht zyklisch – getrieben ist, und welche Rolle strukturelle Arbeitslosigkeit insgesamt  spielen soll. So kann der Anteil von Hysterese-Effekten am Ansteigen der Arbeitslosigkeit bestimmt werden.

Tatsächlich zeigt sich, dass der jahrzehntelange Aufwärtstrend der Arbeitslosigkeit in Deutschland vollständig durch Hysterese erklärt werden kann. Gemäß Modellschätzung werden im Rezessionsregime Schocks auf die zyklische Arbeitslosigkeit zu fast 70 Prozent auf den stochastischen Trend übertragen und knapp ein Zehntel des verzögerten Zyklus geht pro Monat in den Trend über. Dagegen spielt der Driftparameter keine Rolle. Hysterese-Effekte beschreiben die Daten also deutlich besser als ein stochastischer Aufwärtstrend allein – der an sich ja auch schon viel Flexibilität bietet. So determiniert Hysterese auch keineswegs den Verlauf der gesamten strukturellen Arbeitslosigkeit, die auch noch von einem eigenen Trendschock abhängt. Hysterese erklärt aber, dass die Grundtendenz über Jahrzehnte nach oben gerichtet war.

Abbildung 2 zeigt Trend und Zyklus der deutschen Arbeitslosenquote, wie sie aus der Modellschätzung generiert wurden. Der Zyklus variiert um mehrere Prozentpunkte. Im Rezessionsregime übersetzen sich die positiven Ausschläge in die typische Treppenform des Trends und werden damit persistent.

Abbildung 2: Trend und Zyklus der Arbeitslosigkeit in Deutschland

Quelle: eigene Berechnungen, Statistik der Bundesagentur für Arbeit

Um speziell den deutschen Arbeitsmarktaufschwung der letzten zehn Jahre zu untersuchen, erlauben wir (nach endogener Bruchpunktsuche) für einen Strukturbruch im Jahr 2005. Wie erwartet, wird der Driftparameter im stochastischen Trend der Arbeitslosigkeit hier negativ. Strukturelle Arbeitslosigkeit reduzierte sich also direkt, beispielsweise durch institutionelle Reformen (vgl. Klinger/Weber 2016). Ebenso gehen die zuvor gemessenen Hysterese-Effekte deutlich zurück; auch hier sind also strukturelle Wirkungen feststellbar. Entsprechend überstand Deutschland die große Rezession 2008 / 2009 sehr gut, da zyklische Effekte durch einen verbesserten strukturellen Arbeitsmarkttrend ausgeglichen wurden (vgl. Weber 2015) und sich Arbeitslosigkeit zudem nicht verfestigte.

Dagegen nahm die Arbeitslosigkeit in den USA in dieser Zeit dramatisch und mit langwierigen Folgen zu. Allerdings ließ sich für die USA kein Hysterese-Muster feststellen. Die entsprechenden Koeffizienten im Modell sind hier völlig insignifikant. Dies ist in dem Sinne plausibel, dass der US-Arbeitsmarkt im Hinblick auf Regulierungen, Dynamik, Mobilität und Arbeitslosigkeitsdauern als flexibler angesehen werden kann. Abbildung 3 zeigt, dass der Großteil der Arbeitslosigkeitsschwankungen über die Zeit in den USA als zyklisch anzusehen ist.

Abbildung 3: Trend und Zyklus der Arbeitslosigkeit in den USA

Quelle: eigene Berechnungen, Bureau of Labor Statistics

Selbst in der großen Rezession, für die ein möglicher Strukturbruch spezifiziert wurde, finden sich keine Hysterese-Effekte. Gemäß Abbildung 3 stieg die Arbeitslosigkeit hier aus zyklischen und strukturellen Gründen zugleich. Während zyklische Anstiege in einer schweren Rezession zu erwarten sind, stellt sich die Frage nach der Natur der Trendbewegung. Der Anstieg des Trends führte zu höherer Persistenz der Arbeitsmarkteffekte im Vergleich zu rein zyklischen Rezessionen. Er ist aber nicht im Sinne von Hysterese als sich verfestigende zyklische Arbeitslosigkeit zu interpretieren. Mögliche Erklärungen liegen in geringerer Mobilität in der Immobilienmarktkrise (Farber 2012), Mismatch-Arbeitslosigkeit (Sahin et al. 2014) und Eintritt von Individuen mit ggf. schlechten Arbeitsmarktchancen ins Erwerbspersonenpotential (Elsby et al. 2015). Das Sinken des Trends nach der Rezession ist sodann vor allem mit dem Rückzug vieler Arbeitsloser aus dem Arbeitsmarkt verbunden.

Insgesamt hat die Identifikation der Natur der Arbeitslosigkeitsentwicklung wichtige Implikationen für die Politik. Wird Hysterese als wesentliche treibende Kraft festgestellt, gewinnt antizyklische Stabilisierung an Bedeutung. Zugleich sollte die Arbeitsmarktpolitik auf Punkte wie Aktivierung und den Erhalt von Fähigkeiten ausgerichtet sein.

Literatur

Blanchard, O. / Summers, L. (1986): Hysteresis and the European unemployment problem. NBER Macroeconomics Annual, 1986, 15-90.

Blanchard, O. / Diamond, P. (1994): Ranking, unemployment duration and wages. Review of Economics Studies, 61, 417-434.

Blanchard, O. / Wolfers, J. (2000): The role of shocks and institutions in the rise of European unemployment: the aggregate evidence. The Economic Journal, 110, 1-33.

Elsby, M.W.L. / Hobijn, B. / Sahin, A. (2015): On the importance of the participipation margin for labour market fluctuations. Journal of Monetary Economics, 72, 64-82.

Farber, H.S. (2012): Unemployment in the Great Recession: Did the housing market crisis prevent the unemployed from moving to take new jobs? American Economic Review, 102, 520-525.

Klinger, S. / Weber, E. (2016): Detecting unemployment hysteresis: a simultaneous unobserved components model with Markov switching. Economic Letters, 144, 115-118.

Klinger, S. / Weber, E. (2016): Decomposing Beveridge curve dynamics by correlated unobserved components. Oxford Bulletin of Economics and Statistics, doi: 10.1111/obes.12135.

Nickell, S.J. / Nunziata, L. / Ochel, W. (2005): Unemployment in the OECD since 1960: What do we know? Economic Journal, 115, 1-27.

Sahin, A. / Song, J. / Topa, G. / Violante, G.L. (2014): Mismatch unemployment. American Economic Review, 104, 3529–3564.

Weber, E. (2011): Analyzing U.S. output and the Great Moderation by simultaneous unobserved components. Journal of Money, Credit and Banking, 43, 1579-1597.

Weber, E. (2015): The Labour Market in Germany: Reforms, Recession and Robustness. De Economist, 163, 461-472.

©KOF ETH Zürich, 25. Jul. 2016

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