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Die Zukunft des Handwerks: Lehren aus der “Handwerksnovelle” von 2004

Summary:
Die Abschaffung der Zulassungspflicht für 53 Handwerksberufe im Jahr 2004 in Deutschland (die "Handwerksnovelle 2004") hatte einen starken, nachhaltigen Anstieg der Zahl der Betriebe und einen Rückgang der absolvierten Meisterprüfungen in den betroffenen Handwerken zur Folge, wie dieser Beitrag zeigt. Bezüglich der Ausbildungsleistung können die Autoren keine signifikanten Effekte feststellen. Eine individuelle Regulierung einzelner Berufe könnte das Handwerk für die Zukunft stärken. Zum Zeitpunkt der Handwerksnovelle 2004 waren etwa ein Sechstel aller Selbstständigen in Deutschland Handwerker, die eine Meisterprüfung bestehen und damit den Meisterbrief erwerben mussten, um ein Unternehmen gründen zu dürfen. Gleichzeitig berechtigte der Meisterbrief dazu, Lehrlinge auszubilden. Die Anfertigung eines Meisterstücks im fachlichen Teil der Prüfung signalisierte zudem hohe Produktqualität. Die Meisterprüfung ist in der Handwerksordnung verankert, die im Januar 2004 während einer schweren Krise im Handwerk umfassend reformiert wurde. Bis heute wird von Befürwortern und Gegnern des sogenannten Meisterzwangs leidenschaftlich diskutiert, ob diese Reform eine Vertiefung der Krise im Handwerk abwenden konnte und welche Auswirkungen die Deregulierung auf ökonomische Kennzahlen wie die Zahl der Betriebe, der Auszubildenden und der Beschäftigten oder auf Umsätze und Löhne hatte.

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Die Abschaffung der Zulassungspflicht für 53 Handwerksberufe im Jahr 2004 in Deutschland (die “Handwerksnovelle 2004”) hatte einen starken, nachhaltigen Anstieg der Zahl der Betriebe und einen Rückgang der absolvierten Meisterprüfungen in den betroffenen Handwerken zur Folge, wie dieser Beitrag zeigt. Bezüglich der Ausbildungsleistung können die Autoren keine signifikanten Effekte feststellen. Eine individuelle Regulierung einzelner Berufe könnte das Handwerk für die Zukunft stärken.

Zum Zeitpunkt der Handwerksnovelle 2004 waren etwa ein Sechstel aller Selbstständigen in Deutschland Handwerker, die eine Meisterprüfung bestehen und damit den Meisterbrief erwerben mussten, um ein Unternehmen gründen zu dürfen. Gleichzeitig berechtigte der Meisterbrief dazu, Lehrlinge auszubilden. Die Anfertigung eines Meisterstücks im fachlichen Teil der Prüfung signalisierte zudem hohe Produktqualität. Die Meisterprüfung ist in der Handwerksordnung verankert, die im Januar 2004 während einer schweren Krise im Handwerk umfassend reformiert wurde. Bis heute wird von Befürwortern und Gegnern des sogenannten Meisterzwangs leidenschaftlich diskutiert, ob diese Reform eine Vertiefung der Krise im Handwerk abwenden konnte und welche Auswirkungen die Deregulierung auf ökonomische Kennzahlen wie die Zahl der Betriebe, der Auszubildenden und der Beschäftigten oder auf Umsätze und Löhne hatte.

Dieser Beitrag fasst vorhandene wissenschaftliche Belege zusammen, um eine evidenzbasierte Debatte über die Zukunft des Handwerks zu ermöglichen. Denn die Diskussion um eine Wiedereinführung der von Andreas Freytag, Professor für Wirtschaftspolitik, als “Zunftordnung” bezeichneten Wirtschaftsordnung statt einer marktwirtschaftlichen Organisation des Handwerks wird immer lebhafter. Beispielsweise forderte kürzlich Sven Wilhelm, Kreischef der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU: “Der Meisterbrief [als Zulassungsvoraussetzung] ist ein Qualitätsmerkmal unseres Handwerks und muss wieder eingeführt werden“.

Regulierung der Handwerksberufe in Deutschland

Die Handwerksberufe werden in Deutschland durch die Handwerksordnung (HwO) reguliert. Wesentliche Komponenten sind die Handwerksrolle, die Handwerkskammern und der Befähigungsnachweis. Die Handwerksrolle ist das Verzeichnis aller Inhaber von Betrieben zulassungspflichtiger Handwerke mit dem von ihnen betriebenen Handwerk (§ 6 ff HwO). Die Handwerksrolle wird von den Handwerkskammern geführt, die im Jahr 1897 als regionale Institutionen eingeführt wurden. Die Handwerkskammern sind außerdem für die Durchführung von Meisterprüfungen zuständig, durch deren Bestehen man die höchste Qualifikation im Handwerk, den Meisterbrief, erlangt.

Dieser Nachweis der Qualifikation und Eignung zum Führen eines Handwerksbetriebs wurde als kleiner Befähigungsnachweis im Jahr 1908 nach einer Periode der Gewerbefreiheit (seit 1871) im Deutschen Reich eingeführt. Der kleine Befähigungsnachweis beschränkte die Ausbildungsberechtigung auf Handwerker, die eine Meisterprüfung erfolgreich absolviert hatten. Er beschränkte jedoch nicht den Markteintritt. Der große Befähigungsnachweis, der 1935 eingeführt, in der amerikanischen Besatzungszone 1948 abgeschafft und 1953 für die gesamte Bundesrepublik Deutschland wiedereingeführt wurde, machte hingegen einen Meisterbrief zur Voraussetzung, um auszubilden und um einen selbstständigen Betrieb in die Handwerksrolle eintragen zu lassen. Seit 1965 unterschied die Gesetzgebung Vollhandwerke (A-Berufe), die dem großen Befähigungsnachweis unterlagen, und zulassungsfreie handwerksähnliche Gewerbe (B2-Berufe). Im Jahr 1990 wurde die Gesetzgebung von den neuen Bundesländern übernommen.

Um einen Meisterbrief zu erlangen, muss nach einer zwei- bis dreijährigen Ausbildung und Bestehen einer Gesellenprüfung die Meisterprüfung erfolgreich abgelegt werden. Vorbereitungskurse dauern ein bis drei Jahre und kosten je nach Beruf zwischen 4.000 und 10.000 Euro. Die Meisterprüfung examiniert die zu erwartende Produktqualität, unternehmerische Fähigkeiten und Ausbildungseignung gemeinsam. Daher greift eine Regulierung mittels des Meisterbriefs gleichzeitig in den Produkt-, Arbeits- und den Ausbildungsmarkt ein. Im Gegensatz zu üblichen Qualitätsmanagementsystemen auf Produktmärkten muss die Meisterprüfung nicht aufgrund von technologischen Neuerungen oder gesetzlichen Änderungen erneuert werden.

Novellierung der Handwerksordnung von 2004 als natürliches Experiment

Am 1. Januar 2004 trat eine bedeutende Reform des Handwerksrechts (oft als “Handwerksnovelle 2004” bezeichnet) im Kontext einer Reihe von Reformen der Sozialgesetzgebung und des Arbeitsmarktes (Agenda 2010) in Kraft. Das Reformvorhaben wurde erstmals im März 2003 angekündigt (vgl. Müller 2006), so dass den Handwerksbetrieben und den Handwerkern nur relativ wenig Zeit blieb, bereits im Vorfeld auf die Reform zu reagieren – etwa durch einen Berufswechsel. Dies wurde durch den Umstand erschwert, dass bis kurz vor der Reform kontrovers diskutiert wurde, welche Berufe liberalisiert werden sollten. Diese Situation eignet sich deshalb besonders gut zur Analyse im Rahmen eines sogenannten natürlichen Experiments. Diese Methodik liegt den hier zusammengefassten wissenschaftlichen Untersuchungen dieser Reform (Koch und Nielen, 2016, Rostam-Afschar, 2014) zugrunde, da sie unter bestimmten Annahmen Aussagen zu kausalen Effekten der Reform erlaubt.

Die Novellierung definierte nach intensiven Diskussionen schließlich 53 der 94 früheren A-Berufe als zulassungsfrei (B1-Berufe). Das bedeutete insbesondere, dass Gesellen sich fortan ohne Meisterbrief selbstständig machen konnten, ein Meisterbrief oder das Bestehen einer Ausbildereignungsprüfung jedoch Voraussetzung blieb, um Ausbildungstätigkeiten durchzuführen. Vor der Novellierung der Handwerksordnung von 2004 konnten Handwerker nur in Ausnahmefällen ohne Meisterbrief in der Handwerksrolle eingetragen werden und damit einen eigenen Betrieb gründen und führen.

Auch in den meisten der zulassungspflichtig gebliebenen 41 Handwerksberufe wurde mit der sogenannten “Altgesellenregelung” insofern eine Lockerung der Berufszugangsbeschränkung eingeführt, dass sich neben Meistern auch Gesellen nach sechsjähriger Tätigkeit mit einem eigenen Betrieb selbständig machen konnten. Eine “strenge” Meisterpflicht blieb nur in den Gesundheitshandwerken und im Schornsteinfegerhandwerk bestehen (vgl. Koch und Nielen 2016 oder Rostam-Afschar 2015, 2014 für detaillierte Erläuterungen). Keine Änderungen gab es für handwerksähnliche Gewerbe (B2), die nach wie vor zulassungsfrei waren. Tabelle 1 zeigt diese Gruppen von Handwerksberufen und die jeweilige Zulassungsvoraussetzung vor und nach der Reform im Überblick.

 

tabelle-1

Auswirkungen der Novellierung der Handwerksordnung von 2004

Der deutlichste Effekt der Handwerksnovelle ist bezüglich der Zahl der Betriebe festzustellen. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Zahl der Betriebe im Handwerk insgesamt, sowohl für zulassungspflichtige A-Handwerke als auch für die mit der Reform von 2004 zulassungsfrei gestellten B1-Handwerke (nicht dargestellt sind hier die handwerksähnlichen Gewerbe, da diese weder vor noch nach der Reform spezifischen Zulassungsbeschränkungen unterlagen).

Abbildung 1: Entwicklung der Zahl der Betriebe vor und nach der Handwerksnovelle 2004

abbildung-1

Quelle: Koch und Nielen, 2016

Insgesamt ist in den Jahren nach der Reform der Handwerksordnung ein recht deutlicher Anstieg der Zahl der Betriebe zu beobachten. Dies zeigen sowohl die Daten des Zentralverbandes des Deutschen Handwerkes (ZDH) (Koch und Nielen, 2016) als auch des Mikrozensus (Rostam-Afschar, 2014). Dieser Anstieg geht jedoch nahezu ausschließlich auf einen Anstieg der Zahl der durch die Novelle von der Zulassungspflicht befreiten Handwerksbetriebe zurück. Als Folge der abgeschafften Markteintrittsbarriere stieg die Zahl der zulassungsfreien Handwerksbetriebe bis 2012 auf nahezu die dreifache Zahl im Vergleich zum Zeitpunkt direkt vor der Reform. Die Handwerksnovelle hatte folglich einen deutlich positiven Effekt auf die Zahl der Betriebe in den von der Reform betroffenen Handwerken.

Abbildung 2: Indikatoren der  Ausbildungsleistung im Handwerk vor und nach der Handwerksnovelle 2004

abbildung-2

Quelle: Koch und Nielen, 2016

Weniger deutlich fielen die Effekte auf die Ausbildungszahlen aus (siehe die verschiedenen Darstellungen in Abbildung 2). Die Gegner der Handwerksnovelle hatten als Folge der Reform eine Verringerung der Ausbildungsleistung in den betroffenen Gewerken befürchtet. Die Wirkungsanalysen von Koch und Nielen (2016) können dies jedoch nicht grundsätzlich bestätigen. So hat zwar die Zahl der Ausbildungsplätze im Handwerk im betrachteten Zeitraum insgesamt deutlich abgenommen. Dieser negative Trend ist jedoch unabhängig von der Handwerksnovelle im Jahr 2004 in den betroffenen und nichtbetroffenen Gewerken zu beobachten und kann somit nicht ursächlich auf die Reform zurückgeführt werden.

Ganz ähnliche Entwicklungen lassen sich auch hinsichtlich der Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge und der Gesellenabschlussprüfungen beobachten. Auf die Zahl der abgelegten Meisterprüfungen hatte die Handwerksnovelle des Jahres 2004 hingegen den erwarteten negativen Effekt. So ging die Zahl der Meisterprüfungen in den zulassungsfrei gewordenen Handwerken innerhalb der ersten drei Jahre nach der Novelle um fast 60% zurück und stabilisierte sich dann auf diesem Niveau. In den weiterhin zulassungspflichtigen Handwerken ging die Zahl der Meisterprüfungen nicht in vergleichbarem Maße zurück.

Außer dem deutlichen Anstieg der Zahl der Betriebe in den von der Reform betroffenen Handwerken sind auf Ebene der Betriebe, die von Koch und Nielen (2016) auf Basis der Daten des IAB-Betriebspanels untersucht wurden, nahezu keine weiteren Auswirkungen der Handwerksnovelle festzustellen: Weder die durchschnittliche Beschäftigung pro Betrieb noch die betrieblichen Umsätze zeigten irgendeine Reaktion auf die Reform. Gleiches gilt für die Ausbildungsleistung pro Betrieb sowie für die Qualifikationsstruktur der betroffenen Handwerksbetriebe und für die Löhne. Auch bezüglich der Nutzung atypischer Beschäftigung und der Tarifbindung sind weder negative noch positive Auswirkungen der Handwerksnovelle festzustellen. Schließlich blieben auch das Investitions- und Innovationsverhalten der betroffenen Handwerksbetriebe von der Handwerksnovelle unbeeinflusst.

Lehren aus der Reform und Diskussion

Die Abschaffung der Zulassungspflicht für 53 Handwerksberufe im Jahr 2004 hat zu einem starken und nachhaltigen Anstieg der Zahl der Betriebe geführt, der durch mehr Eintritte in den zulassungsfrei gewordenen Handwerken verursacht wurde. Auch wenn die Austritte gestiegen sein könnten, überwiegt der Anstieg der Betriebsgründungen deutlich, da die Zahl der Betriebe mehrere Jahre nach der Reform immer noch auf einem höheren Niveau liegt. War das Ziel der Reform, die Zahl der Selbstständigen nachhaltig zu erhöhen, so kann die Deregulierung als erfolgreich angesehen werden. Die Befürchtungen eines Einbruchs der Ausbildungstätigkeit sind nicht eingetroffen. Lediglich die Zahl der Meisterprüfungen ist signifikant zurückgegangen, da Handwerker diese in den zulassungsfreien Berufen nur noch ablegen, wenn dies aus betrieblicher Sicht sinnvoll erscheint. Bezüglich der Zahl der Auszubildenden deuten die bisherigen Ergebnisse auf keine negativen Auswirkungen der Handwerksnovelle.

Im Handwerk insgesamt ist den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Zahl der Auszubildenden zu beobachten. Dieser betrifft jedoch die nach der Reform zulassungsfreien und zulassungsbeschränkten Gewerke gleichermaßen. Somit ist es eine zentrale Herausforderung für die Zukunft des Handwerks, die Attraktivität einer Ausbildung im Handwerk allgemein zu erhöhen.

Darüber hinaus sollte in der Diskussion um die Zulassungsbeschränkung berücksichtigt werden, ob aufgrund der großen Heterogenität der Handwerksberufe eine einheitliche Ordnung für das gesamte Handwerk sinnvoll ist. Auch nach der Reform gilt für unterschiedlichste Berufe, wie zum Beispiel Büchsenmacher und Friseure, mit der Zulassungspflicht eine identische Regelung zur Sicherung der Produktqualität, die nicht unbedingt dem jeweiligen Bedarf entspricht.

Literatur

Koch, A. und Nielen, S. (2016). Ökonomische Effekte der Liberalisierung der Handwerksordnung von 2004. WISO-Diskurs 05/2016. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.

Müller, K. (2006). “Erste Auswirkungen der Novellierung der Handwerksordnung von 2004,”. (Göttinger Handwerkswirtschaftliche Studien 74). Deutsches Handwerksinstitut, Göttingen.

Rostam-Afschar, D. (2014). “Entry Regulation and Entrepreneurship: A Natural Experiment in German Craftsmanship,”. Empirical Economics, Band 47, Ausgabe 3, S. 1067–1101.

Rostam?Afschar, D. (2015). “Regulatory Effects of the Amendment to the HwO in 2004 in German Craftsmanship,”. European Commission, Research Report, Directorate General Internal Market and Services.


  • 1  Das “Gesetz über das Berufsrecht und die Versorgung im Schornsteinfegerhandwerk” ersetzte das “Gesetz über das Schornsteinfegerwesen”. Mit Inkrafttreten zu Beginn des Jahres 2013 stehen alle Schornsteinfeger-Fachbetriebe Deutschlands im Wettbewerb mit anderen Schornsteinfeger-Fachbetrieben.
  • 2  Die eigenständigen Berufsbezeichnungen Sticker und Weber wurden im Jahr 2001 mit den Berufsbezeichnungen Klöppler, Posamentierer und Stricker als Textilgestalter zusammengefasst.

©KOF ETH Zürich, 5. Okt. 2016

 

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