Gewinnt oder verliert das Vereinigte Königreich wirtschaftlich bei einem Brexit? Einzelne Studie sehen grosse Wohlfahrtseinbussen, andere hingegen -gewinne. Welcher Seite soll man Glauben schenken? Dieser Beitrag unternimmt eine Meta-Analyse der wichtigsten Studie und folgert, dass die BIP-Einbussen beträchtlich sein könnten. Unterschiedliche Studienergebnisse Eine Fülle von Studien versucht, die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit (oder einer EU-Mitgliedschaft) für das Vereinigte Königreich zu quantifizieren. Die Ergebnisse sind eher verwirrend und reichen von signifikanten Vorteilen zu deutlichen Verlusten. Die Studie mit der ungünstigsten Schätzung kommt zu dem Schluss, dass die EU-Mitgliedschaft Kosten für das Vereinigte Königreich in Höhe von rund 11,5 Prozent des BIP verursachen würde (Congdon, 2014, 25). Das andere Extrem ist durch Studien abgedeckt, die große Vorteile der EU-Mitgliedschaft in der Größenordnung von 20 Prozent und mehr des BIP pro Kopf ermitteln (Henrekson et al, 1997; Badinger 2005; Campos et al, 2015). Eine Spanne der Schätzungen von mehr als 30 Prozentpunkten lässt Verwunderung aufkommen und wirft kein gutes Licht auf die ökonomische Profession. Eine nüchterne vergleichende Analyse ist daher dringend gefordert, um mehr Licht in das verwirrende Dickicht zu bringen.
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Gewinnt oder verliert das Vereinigte Königreich wirtschaftlich bei einem Brexit? Einzelne Studie sehen grosse Wohlfahrtseinbussen, andere hingegen -gewinne. Welcher Seite soll man Glauben schenken? Dieser Beitrag unternimmt eine Meta-Analyse der wichtigsten Studie und folgert, dass die BIP-Einbussen beträchtlich sein könnten.
Unterschiedliche Studienergebnisse
Eine Fülle von Studien versucht, die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit (oder einer EU-Mitgliedschaft) für das Vereinigte Königreich zu quantifizieren. Die Ergebnisse sind eher verwirrend und reichen von signifikanten Vorteilen zu deutlichen Verlusten. Die Studie mit der ungünstigsten Schätzung kommt zu dem Schluss, dass die EU-Mitgliedschaft Kosten für das Vereinigte Königreich in Höhe von rund 11,5 Prozent des BIP verursachen würde (Congdon, 2014, 25). Das andere Extrem ist durch Studien abgedeckt, die große Vorteile der EU-Mitgliedschaft in der Größenordnung von 20 Prozent und mehr des BIP pro Kopf ermitteln (Henrekson et al, 1997; Badinger 2005; Campos et al, 2015). Eine Spanne der Schätzungen von mehr als 30 Prozentpunkten lässt Verwunderung aufkommen und wirft kein gutes Licht auf die ökonomische Profession. Eine nüchterne vergleichende Analyse ist daher dringend gefordert, um mehr Licht in das verwirrende Dickicht zu bringen.
Wir stellen uns dieser Herausforderung mit einer umfassenden Meta-Analyse (Busch / Matthes, 2016). Unsere Studie stellt die verschiedenen wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit qualitativ dar und bietet einen systematischen Überblick über die wichtigsten Studien (die bis Anfang April 2016 veröffentlicht wurden). Wir unterscheiden zwischen theoriebasierten vorausschauenden (ex ante) Studien (viele, aber nicht alle basieren auf eigenen Modelle) und rückblickenden (ex post) Studien. Unser Vergleich zeigt, dass die divergierenden Ergebnisse erklärt werden können durch deutlich unterschiedliche Methoden, Annahmen und abgedeckte Effekte.
Nur moderate Folgen eines Brexit!?
Nur aus Studien, die zugleich positive und negative Effekte eines Brexit umfassen, können solide Schlussfolgerungen abgeleitet werden. Auf der positiven Seite sind neben der (teilweisen) Beseitigung der Beiträge zum EU-Haushalt vor allem geringere ökonomische Verzerrungen zu nennen, da die EU-Handelsbarrieren gegenüber Drittstaaten abgebaut werden können und die Gemeinsame Agrarpolitik nicht länger weiterverfolgt werden muss. Auf der negativen Seite schlagen die Nachteile der reduzierten ökonomischen Integration zu Buche und werden verstärkt durch entgangene Vorteilen aus künftigen EU-Handelsabkommen und aus einen weiteren Abbau nichttarifärer Hemmnisse im Binnenmarkt in der Zukunft. Unsere Übersicht macht deutlich, welche Effekte von den jeweiligen Studien abgedeckt (oder nicht abgedeckt) werden. Es zeigt sich, dass keine der vorausschauenden Studie alle relevanten Aspekte zugleich ausreichend detailliert umfasst.
Auf der Grundlage derjenigen vorausschauenden modellbasierten Studien, die als relativ verlässlich und umfassend erachtet werden können, scheint sich ein gewisser Konsens herausgebildet zu haben. Zunächst scheinen die Nachteile eines Brexit, die aus der geringeren wirtschaftlichen Integration resultieren, die Vorteile zu überwiegen. Doch insgesamt kommen mehrere Bewertungen zur ähnlichen Schlussfolgerungen, dass die wirtschaftlichen Kosten eines Brexit per Saldo im unteren einstelligen Bereich zwischen 1 und meist deutlich unter 5 Prozent des BIP auf längere Sicht liegen dürften (z.B. CEBR 2015, S. 28; CBI 2013, S. 79). Somit erscheinen die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit überschaubar und die Entscheidung, die EU zu verlassen, scheint in erster Linie eine politische Überlegung über Souveränität und Selbstbestimmung zu sein.
Zweifel und Warnungen
Wir erheben ernsthafte Zweifel an diesen moderaten Schlussfolgerungen. So dürften erhebliche Mängel der Mainstream-Methoden wahrscheinlich deutlich höhere Risiken verschleiern. Denn auch die verlässlicheren vorausschauenden Studien sind nicht in der Lage, alle relevanten Kanäle zu decken, mit denen wirtschaftliche Integration die Wohlfahrt erhöht. Die Abbildungen 1 bis 3 geben einen Überblick über die Auswirkungen, die nur vereinzelt oder gar nicht abgedeckt sind: positive statische und dynamische Handelswirkungen auf Wohlstand und Wachstum sowie weitere nicht-handelsbezogene Effekte der wirtschaftlichen Integration. Dies gilt besonders für positive Effekte einer höheren Wettbewerbsintensität auf Innovation und auf Ressourcenallokation, die durch mehr Handel und Direktinvestitionen ermöglicht werden. Wir zeigen mit einer gründlichen Bestandsaufnahme auf, dass diese zusätzlichen positiven Effekte sowohl theoretisch gut begründet und für sich genommen zumeist auch durch solide empirische Studien belegt sind. Allerdings ist die verfügbare empirische Evidenz allgemeiner und weniger fokussiert auf die europäische Integration oder einen Brexit.
Ein Kernproblem für Ökonomen liegt darin, dass keine allgemein anerkannte theoriebasierte ex ante Schätzmethode existiert, um all diese spezifischen Wohlfahrtseffekte in umfassender Weise zu integrieren. Wenn man auf rückblickende Schätzmethoden auf Basis vergangenheitsbezogener Daten übergeht, betritt man unsicheres Territorium. Wir gehen diesen Schritt, um das verfügbare Wissen in umfassender Weise einzubeziehen. Die betreffenden Studien versuchen, Wohlfahrtseffekte der EU-Integration (oder eines Brexit) in umfassender Weise zu quantifizieren, können dies aber letztlich nur implizit tun. Alle diese Versuche sind zu einem gewissen Grad kritisierbar. Denn es ist notorisch schwierig, der EU-Integration Wohlfahrtseffekte zuzuschreiben, da viele andere Einflussfaktoren existieren, die zeitgleich auf die Wohlfahrt einwirken. Vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen ist es gleichwohl bemerkenswert und relevant, dass rückblickende Studien zumeist auf deutlich höhere Effekte der EU-Integration (oder eines Brexit) hindeuten als die moderaten Schlussfolgerungen der ex ante Studien.
Abbildung 1: Ausgewählte Handelseffekte auf das Wohlstandsniveau
Green arrow: effect covered in most ex ante CGE and NQTM trade models (not in non-trade CGE models for UK).
Dotted green arrow: effect covered in at least one, but only a few ex ante models; these models only cover selected effects.
Black arrow: effect not covered in ex ante models.
Quelle: eigene Darstellung
Abbildung 2: Ausgewählte dynamische Handelseffekte auf das Wirtschaftswachstum
Dotted green arrow: effect covered in at least one, but only a few ex ante models; these models only cover selected effects.
Black arrow: effect not covered in ex ante models.
Quelle: eigene Darstellung
Abbildung 3: Ausgewählte Effekte einer nicht handelsbezogenen Integration
Dotted green arrow: effect covered in at least one, but only a few ex ante models; these models only cover selected effects.
Black arrow: effect not covered in ex ante models.
Quelle: eigene Darstellung
Resultate rückblickender Studien
Solide Belege existieren, dass theoriebasierte vorausschauende Handelsmodelle die Auswirkungen stärkerer Handelsintegration tendenziell unterschätzen. So ermitteln rückblickende Studien in der Regel deutlich größere Handelseffekte von Handelsabkommen als ex-ante-Modelle (Rosa / Gilbert, 2005; Baier et al, 2008; Pelkmans et al, 2014). Neuere methodische Entwicklungen erhöhen diese Divergenz noch, da auch traditionelle Gravitationsmodelle, die eine wesentliche Methode der rückblickenden Schätzung der Wirkungen von Handelsabkommen darstellen, die induzierten Effekte ebenfalls eher unterschätzen (Baier / Bergstrand, 2007; Egger et al, 2011). Mit einem moderneren Ansatz schätzen Baier et al. (2008), dass die Mitgliedschaft in der EU und ihren institutionellen Vorgängern den Handel zwischen den Mitgliedern allein über einen Zeitraum von 15 Jahren um 100 bis 125 Prozent erhöht haben dürfte.
Auf dieser Basis stellen wir drei Literaturstränge von rückblickenden Studien vor, die in einer umfassenderen (aber notwendigerweise nur impliziten) Weise versuchen, Wohlfahrtseffekte der EU-Integration (oder eines Brexit) zu erfassen.
- Basierend auf jüngeren Prognosen für die negativen Auswirkungen eines Brexit auf den bilateralen Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU lassen sich die damit verbundenen Wohlfahrtseinbußen grob abschätzen. Dazu kann ein aus anderen Untersuchungen abgeleiteter grundsätzlicher Zusammenhang zwischen Handelsoffenheit und Wohlfahrt verwendet werden. Drei verschiedene Studien ermitteln mit diesem Ansatz, dass die britischen Einkommen in einem eher pessimistischen Szenario möglicherweise um etwa 10 Prozent oder mehr sinken könnten (Ottaviano et al, 2014; Aichele / Felbermayr, 2015; Crafts, 2015). Ein wichtiger Nachteil dieser Methode liegt allerdings in der Tatsache, dass der Handels-Einkommens-Zusammenhang nicht speziell auf das Vereinigte Königreich zugeschnitten werden kann.
- Mehrere Studien nutzen Regressionsanalysen (Henrekson et al, 1997; Badinger, 2005; Crespo Cuaresma et al, 2008). Auch wenn sich die Ergebnisse im Detail unterscheiden, identifizieren diese Studien zumeist beträchtliche langfristige Auswirkungen einer EU-Mitgliedschaft auf das BIP im Bereich von 20 Prozent oder mehr. Allerdings bleiben auch hier Unsicherheiten, da die Ergebnisse teilweise nicht vollständig robust sind, was bei Regressionen zur Ermittlung von Wachstumseffekten grundsätzlich schwierig ist.
- Campos et al. (2014, 2015) verwenden eine relativ neue so genannte Synthetische Counterfactual Methode (SCM), die von Abadie und Gardeazabal (2003) entwickelt wurde. Ähnlich wie klinische Studien zum Testen von Medikamenten nutzen die Autoren eine Kontrollgruppe. Sie konstruieren eine solche synthetische (gewichtete) Kontrollgruppe, indem sie Länder auswählen, die in einer längeren Phase vor dem EU-Beitritt des Vereinigten Königreichs im Jahr 1973 eine ähnliche Wirtschaftsentwicklung aufwiesen. Die Wirkung der EU-Mitgliedschaft kann (analog zur Medikamentenbehandlung) aus der Differenz zwischen dem wirtschaftlichen Ergebnis für das Vereinigte Königreich und jenem für die Kontrollgruppe abgeleitet werden. Campos et al. (2015) schätzen auf dieser Basis, dass auf lange Sicht (zwischen den EU-Beitritt des Vereinigten Königreichs bis 2008), das reale BIP pro Kopf im Vereinigten Königreich um fast 24 Prozent höher als das in der synthetischen Kontrollgruppe ist. Allerdings ist dieses Ergebnis nicht sehr robust. Besser belastbar scheinen die Ergebnisse von Robustheitstest auf die Produktivität über einen 10 Jahreshorizont. Sie liegen im höheren einstelligen Bereich (bis zu 10 Prozent) – und dürften auf längere Sicht noch etwas höher ausfallen.
Zusammenfassung
Abbildung 4 gibt einen Überblick über unser Vorgehen, das sich wie folgt zusammenfassen lässt:
- Die vorausschauenden theorie- und modellbasierten Studien sind aufgrund mangelnder Verfügbarkeit geeigneter Methoden nicht in der Lage, alle relevanten positiven Effekte der wirtschaftlichen Integration auf Wohlstand und Wachstum zu erfassen. Daher sind die Schlussfolgerungen, dass ein Brexit nur mäßigen wirtschaftlichen Schaden verursachen würde, mit Vorsicht zu behandeln.
- Höhere Risiken erscheinen möglich, wenn die spezifischen zusätzlichen Wohlfahrts- und Wachstumseffekte einbezogen werden. Darauf deutet auch hin, dass rückblickende Studien wesentlich größere Handelswirkungen ökonomischer Integration nachweisen als vorausschauende Methoden.
- Daher sollten rückblickende Studie nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn sie gewisse Schwächen aufweisen. Wohlfahrtsbezogene rückblickende Studien legen nahe, dass der ökonomische Schaden eines Brexit für das Vereinigte Königreich nennenswert größer sein könnte als im niedrigen einstelligen Bereich.
- Diese Schlussfolgerung würde besonders dann relevant, wenn sich das politische Streben nach regulatorischer Souveränität im Vereinigten Königreich durchsetzt und sich in der Folge das Ausmaß der wirtschaftlichen Integration mit der EU deutlich verringerte. Eine solche Entwicklung erscheint nicht unwahrscheinlich.
- Für den Fall eines solchen eher pessimistischen Szenarios warnen wir vor der Gefahr, dass bei einem Brexit langfristige BIP-Verluste in der Größenordnung von 10 Prozent oder mehr für das Vereinigte Königreich nicht ausgeschlossen sind.
Abbildung 4: Ansätze der Metastudie zu den bestehendne Studien zum Brexit
Quelle: Eigene Darstellung
Literatur
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©KOF ETH Zürich, 27. Apr. 2016