Wednesday , May 8 2024
Home / Ökonomenstimme / Die Nullzinsdebatte – wenn Tore nicht mehr zählen

Die Nullzinsdebatte – wenn Tore nicht mehr zählen

Summary:
Es ist legitim und wichtig, die Politik der EZB zu kritisieren. Doch, wie dieser Beitrag zeigt, zielt die EZB-Kritik in Deutschland meistens an der Kern-Aufgabe der EZB, der Preisstabilität, vorbei. Sie beschäftigt sich auf Nebenschauplätzen. Nach der EZB-Entscheidung, den Refinanzierungszins auf Null zu senken und das Anleihekaufprogramm auszuweiten, gab es wieder die bekannten Bilder von der Geldflut, die Warnungen vor Risiken und Experimenten, sowie die Charakterisierung der Geldpolitik als Irrfahrt sowie Mandatsverletzung.[ 1 ] Das Votum fiel – von wenigen Ausnahmen abgesehen – so negativ aus,[ 2 ] dass man sich fragt, wie man ernsthaft versuchen kann, die EZB-Politik noch für sachgerecht zu erklären. Geldpolitik ohne Preisstabilität – Fußball ohne Tore Vielleicht gelingt es, mit einem Vergleich, auch wenn bekanntlich jeder Vergleich hinkt. Man stelle sich vor es ist Samstagabend, Sportschauzeit. Ausführlich werden die Zuschauer darüber informiert, welche Trikots die Mannschaften trugen, wie viele gelbe Karten es gab, und welche Mannschaft wie oft in Ballbesitz war. Nur das, worauf es im Fußball ankommt, Tore und Ergebnisse, bleibt ausgespart. Seit die EZB am 10. März 2016 ihre Entscheidung bekannt gab, fiel die Kommentierung überwiegend genauso aus.

Topics:
Neueste Artikel in der Ökonomenstimme considers the following as important:

This could be interesting, too:

Swiss Statistics writes Die Lage auf dem Arbeitsmarkt im April 2024

Martin Hartmann writes Jetzt anmelden! 18. Juni 2024 🥳

Helena Schulthess writes Kongress der «Students for Liberty» in Tbilisi (Georgien)

Cash - "Aktuell" | News writes Hamas stimmt Vermittler-Vorschlag zur Waffenruhe im Gazastreifen zu

Es ist legitim und wichtig, die Politik der EZB zu kritisieren. Doch, wie dieser Beitrag zeigt, zielt die EZB-Kritik in Deutschland meistens an der Kern-Aufgabe der EZB, der Preisstabilität, vorbei. Sie beschäftigt sich auf Nebenschauplätzen.

Nach der EZB-Entscheidung, den Refinanzierungszins auf Null zu senken und das Anleihekaufprogramm auszuweiten, gab es wieder die bekannten Bilder von der Geldflut, die Warnungen vor Risiken und Experimenten, sowie die Charakterisierung der Geldpolitik als Irrfahrt sowie Mandatsverletzung.[ 1 ] Das Votum fiel – von wenigen Ausnahmen abgesehen – so negativ aus,[ 2 ] dass man sich fragt, wie man ernsthaft versuchen kann, die EZB-Politik noch für sachgerecht zu erklären.

Geldpolitik ohne Preisstabilität – Fußball ohne Tore

Vielleicht gelingt es, mit einem Vergleich, auch wenn bekanntlich jeder Vergleich hinkt. Man stelle sich vor es ist Samstagabend, Sportschauzeit. Ausführlich werden die Zuschauer darüber informiert, welche Trikots die Mannschaften trugen, wie viele gelbe Karten es gab, und welche Mannschaft wie oft in Ballbesitz war. Nur das, worauf es im Fußball ankommt, Tore und Ergebnisse, bleibt ausgespart.

Seit die EZB am 10. März 2016 ihre Entscheidung bekannt gab, fiel die Kommentierung überwiegend genauso aus. Alles wurde erwähnt: dass die Geldpolitik Überhitzungen am Immobilien- und Aktienmarkt fördert, den Sparer enteignet, eine fiskalische Umverteilungspolitik betreibt, überschuldete Staaten und Zombiebanken subventioniert und Wirtschaftsreformen verschleppt. Nur worauf es der Geldpolitik ankommt, Preisstabilität, wurde gar nicht[ 3 ] oder nur im Nebensatz erwähnt.

Preisstabilität – das primäre Ziel der Geldpolitik

Preisstabilität ist aber das primäre Ziel der Geldpolitik. Ist also eine Zinssenkung notwendig, um Preisstabilität zu sichern, muss die EZB diese durchführen, selbst wenn der Sparer darunter leidet, die Zombiebank davon profitiert, und ein Land deshalb Wirtschaftsreformen verschiebt. Diese Eindeutigkeit in der Zielfestlegung, verankert im Maastrichter Vertrag, ist der herrschenden Geldtheorie und dem geldpolitischen Konsens geschuldet. Danach kann die Geldpolitik mittel- und langfristig nur Preisstabilität und keine anderen Ziele erreichen. Entsprechend baut auch die vom ehemaligen EZB-Chefvolkswirten Otmar Issing maßgeblich beeinflusste Geldpolitik der EZB auf der Vorstellung auf, dass die mittel- und langfristigen Wirkungen der Geldpolitik sich nur auf das Preisniveau beziehen, während reale Größen unbeeinträchtigt bleiben.[ 4 ] Von der Geldpolitik zu verlangen, andere Ziele zu verfolgen, etwa einen positiven Realzins oder Anreize für Reformen, widerspricht folglich allem wofür deutsche Ökonomen und Politiker über Jahrzehnte gekämpft haben.

Bisher bestand Konsens, dass Preisstabilität als eine Inflationsrate knapp unter 2% in der mittleren Frist definiert ist. Es gab auch keine Zweifel darüber, dass die Geldpolitik bei entschlossenem Handeln Preisstabilität gewährleisten kann, indem sie bei Inflation den Zins erhöht, sowie den Zins senkt, im Notfall auch Anleihen kauft, wenn das Ziel von unten verfehlt wird. So sehr also Bundesbankpräsident Weidmann Recht hat, wenn er darauf hinweist, dass die Geldpolitik kein Allheilmittel ist, so sehr ist es falsch, in diese Aussage die Erreichung des Ziels “Sicherung von Preisstabilität” einzuschließen. Hier ist die Geldpolitik das Allheilmittel und laut der dem Maastrichter Vertrag zugrundeliegenden Wirtschaftstheorie das einzige Allheilmittel. Genau und nur zu diesem Zweck soll sie daher auch eingesetzt werden.

Auf dieser Grundlage haben wir eine unabhängige Notenbank geschaffen. Denn nur indem wir der Notenbank ein Ziel vorgeben, das a) zumindest mittel- und langfristig ohne Nebenwirkungen auf andere Variablen, die von wirtschaftspolitischem Interesse sind, erreicht werden kann, und b) von großer Bedeutung für das mittel- und langfristige Funktionieren unserer Wirtschaftsordnung ist, ist es sinnvoll, eine Institution zu kreieren, die jenseits aller politischer Erwägungen ihre Instrumente dafür einsetzt, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb sind auch Standardsätze, die in der gegenwärtigen geldpolitischen Diskussion immer wieder fallen, z.B. jener dass “die Risiken einer weiteren geldpolitischen Lockerung den Nutzen” übersteigen,[ 5 ] mit den theoretischen Grundlagen einer unabhängigen Notenbank unvereinbar. Denn das Abwägen von Nutzen und Risiken einer Zielerreichung ist inhärent politisch, d.h. kann nur von demokratisch legitimierten Verantwortlichen und nicht von Technokraten vorgenommen werden. Technokraten kann nur die Entscheidung darüber delegiert werden, wie man ein vorgegebenes Ziel am besten erreicht. Wenn also jetzt behauptet wird, dass das Bemühen der EZB, ihr Ziel Preisstabilität zu erreichen, zu große Risiken im Vergleich zum Nutzen aufweist, dann ist das das Ende einer unabhängigen Notenbank.[ 6 ]

Entsprechend wurde früher nach geldpolitischen Entscheidungen auch nicht über Nutzen und Risiken der Geldpolitik diskutiert, sondern darüber ob die Notenbank alles getan hat, um Preisstabilität zu sichern. Nebenwirkungen der Geldpolitik blieben dagegen außen vor, bzw. wurden vor allen von Beobachtern thematisiert, die der EZB, und vor 1999: der Bundesbank (woran sie sich anscheinend nicht mehr erinnern mag), nahelegten, es mit dem Ziel Preisstabilität nicht so genau zu nehmen. Mit anderen Worten: die Nebenwirkungen spielten für die Beurteilung der Geldpolitik ungefähr die gleiche Rolle, wie die Zahl der gelben Karten im Fußball: relevant, aber nicht entscheidend.

Das Ziel Preisstabilität wird verfehlt

Die Inflationsrate im Euroraum ist praktisch Null. Zum letzten Mal lag sie bei 2% um die Jahreswende 2012/2013. Das ist eine Zielverfehlung in der “mittleren Frist”. Kritiker sagen, dass das nicht stimmt, und verweisen auf den Ölpreis, der die Inflationsrate nach unten treibt. Die EZB jage dem Ölpreis nach, stellt zum Beispiel Volker Wieland, Mitglied des Sachverständigenrates, fest, um dann auszuführen: “Die Kerninflation ohne Energiepreise ist positiv und schwankt kaum. Aber weil der Ölpreis gefallen ist und der Gesamtindex der Konsumentenpreise dadurch wieder leicht negativ ist, schlägt sie Alarm (…). Als die Inflation vor einigen Jahren bei drei Prozent war, hielt sich die Notenbank, abgesehen von zwei kleinen Zinsschritten vornehm zurück. Damals war das Argument, man dürfe nicht überreagieren, denn es seien nur die Energiepreise.”

Die Argumentation lautet also: die EZB Politik ist verfehlt, weil ihr Ziel – gemessen an ihrem bisherigen Verhalten – gar nicht gefährdet ist. Dann ist es in der Tat sinnlos, Risiken einzugehen. Ist dies richtig? Definiert die EZB gerade ihr Ziel neu, um eine Politik zu gestalten, die andere Ziele als das der Wahrung von Preisstabilität verfolgt?

Abbildung: Inflationsrate und Kerninflationsrate im Euroraum, 1999 – Februar 2016

Quelle: Eurostat, eigene Zusammenstellung.

Die obige Abbildung informiert über die Entwicklung der Inflations- und Kerninflationsrate seit Januar 1999. Drei Punkte fallen auf:

  1. Die Kerninflationsrate ist wesentlich weniger volatil als die Inflationsrate und im langfristigen Durchschnitt niedriger als die Inflationsrate. Aber gemessen an beiden Inflationsraten war die Zielverfehlung war noch nie so eindeutig wie seit 2015. Hier geldpolitische Zurückhaltung zu fordern, impliziert, dass nahezu jeder Zinsschritt oder irgendeine andere geldpolitische Maßnahme seit 1999 überflüssig gewesen sind, weil das Ziel erheblich weniger gefährdet war als heute.[ 7 ]
  2. Bis auf die Jahre 2001 – 2005 und Mitte 2006 – Mitte 2007, gab es immer längere Phasen von deutlichen Abweichungen der Inflations- von der Kerninflationsrate (schraffierte Flächen). Bezieht man erneut die geldpolitischen Schritte der EZB in die Analyse ein, also Zinsänderungen oder – seit Januar 2015 – Anleihekäufe, ergibt sich ein klares Bild: die EZB jagt seit ihrer Gründung dem Ölpreis hinterher. Alle Phasen, in denen sich die Inflationsrate von der Kerninflationsrate nach oben bzw. nach unten bewegte, waren durch aktives geldpolitisches Eingreifen gekennzeichnet, also durch Zinserhöhungen (1999/2000: 2,5-4,75%, 2005/2006: 2-3,5%, 2008: auf 4,25%, 2010/2011: von 1 auf 1,5%) bzw. Zinssenkungen (Ende 2008-2009: 4,25-1%, seit 2013: von 0,25% auf 0%, einschließlich Anleihekäufe). Das mag ja falsch sein; aber die EZB verhält sich konsistent. Wie der ehemalige Chefvolkswirt Jürgen Stark ausgeführt haben soll: da die meisten Menschen essen und Auto fahren, bildet die Inflationsrate ab, ob und wie stark das Ziel Preisstabilität gefährdet ist.
  3. Sieht man von 2009, dem Jahr der globalen Finanzkrise, einmal ab, gibt es nur zwei Phasen, in denen sowohl Inflations- als auch Kerninflationsrate erheblich von der Zieldefinition der EZB abwichen: Von Mitte 2007 – Mitte 2008 nach oben, seit Anfang 2013 nach unten. In den letzten 12 Monate vor der Finanzkrise, als der Ölpreis explodierte und die Konjunktur boomte, kletterten Inflations- und Kerninflationsrate klar über zwei Prozent. Im Juli 2008 reagierte die EZB darauf mit einer Zinserhöhung. Vor dem Hintergrund der heutigen Diskussion ist es interessant zu lesen, wie die Bundesbank diesen Zinsschritt rechtfertigte:

Im Gefolge der starken Verteuerung von Rohöl und Agrarprodukten an den Weltmärkten sind die Verbraucherpreise im Euro-Währungsgebiet … um 4,0% gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Damit lag die Teuerungsrate weit oberhalb der vom Eurosystem definierten Stabilitätsnorm. Die vorrangige Aufgabe der Geldpolitik ist es, … dass auf mittlere Sicht das gesamtwirtschaftliche Preisniveau stabil bleibt. Im Zusammenhang mit den anhaltend kräftigen externen Preisschüben sind die Risiken für die Stabilität des Preisniveaus … auf mittlere Sicht weiter gestiegen. Das zeigen auch die makroökonomischen Projektionen der Experten des Eurosystems vom Juni. Die Tatsache, dass für das Wachstum .. in der näheren Zukunft eher schwächere Raten erwartet werden, bedeutet im Übrigen nicht, dass sich damit … bereits ein stabilitätspolitisch ausreichendes Gegengewicht abzeichnet und gleichsam automatisch für einen Ausgleich des Teuerungsdrucks sorgt. … So blieben trotz der allgemein zurückhalten­den Einschätzung der Wachstumsaussichten für das Euro-Gebiet jedenfalls auch die Inflationserwartungen der Marktteilnehmer, … , bis zuletzt höher als auf Dauer mit Preisstabilität vereinbar wäre.” (S. 7)

Bundesbankpräsident Weber führte in einer Rede im August 2008 folgendes aus:

In geldpolitischer Hinsicht gibt vor allem der steile Anstieg der Verbraucher­preisinflation seit letzten Herbst infolge massiv steigender Energie- und Nahrungsmittelpreise anhaltenden Anlass zu großer Sorge. Mit 4,0 % lag die Jahres-Inflationsrate (HVPI) des Euro-Raums im Juli auf Rekordniveau und die Aussichten für die Preisentwicklung haben sich weiter eingetrübt. …. Umso wichtiger ist es zu verhindern, dass sich die Menschen dauerhaft auf hohe Inflationsraten einstellen. … Und wir werden auch im aktuellen Umfeld die Inflationsrisiken sehr genau beobachten und sicherstellen, dass die mittelfristigen Inflationserwartungen auch zukünftig auf einem Niveau verankert bleiben, das mit unserer Zielmarke von knapp unter 2 % vereinbar ist.” (S. 14)

2016 vs. 2008: Die EZB in der Tradition der Bundesbank

Vergleicht man diese Argumentation mit der der EZB von heute[ 8 ] , kann man nur zu dem Schluss kommen, dass spiegelbildlich gesehen – damals Zielverfehlung von oben, heute Zielverfehlung von unten – Mario Draghi konsistent die damalige Linie der Bundesbank verfolgt. Es sind die Kritiker, die eine Kehrtwende vollzogen haben, und zwar sowohl in der Frage, ob und wie sehr das Ziel Preisstabilität verfehlt wird, als auch in Bezug auf eventuelle Nebenwirkungen, die eine konsequente Zielverfolgung haben könnte. Völlig haltlos ist daher der Vorwurf von Sinn, dass die EZB eine “Neusprech-Abteilung” aktiviert, “um schöne Vokabeln zu erfinden, die eine semantische Anmutung von Geldpolitik vermitteln.” Es ist genau umgekehrt: die Kritiker erfinden eine neue geldpolitische Sprache, um die EZB so scharf kritisieren zu können, wie sie es tun. Bleibt man dagegen der traditionellen Bundesbanklinie treu, wie sie in den obigen Zitaten zum Ausdruck kommt, ist klar: Eine kritische geldpolitische Diskussion müsste sich derzeit vor allem mit der Frage beschäftigen, wann und wie die EZB wieder ihr Ziel erreichen will.

Das ist aber nicht die Diskussion, die die EZB-Kritiker führen. Denn dann müssten sie ausführen, dass die Geldpolitik nicht locker genug ist, oder andere Politikbereiche, z.B. die Fiskalpolitik, auffordern, die Geldpolitik zu unterstützen.[ 9 ] Sie würden sich also selbst widersprechen. Deshalb wählen sie den Weg, das Ziel der Geldpolitik wahlweise auszublenden, zu relativieren, neu zu definieren oder als nicht mehr erreichbar anzusehen. Damit wird zweierlei erreicht: 1. Ihre falsche Analyse der Jahre 2012/2013, als sie vor den inflationären Gefahren einer lockeren Geldpolitik warnten, gerät in Vergessenheit.[ 10 ] 2. Sie können die negativen Nebenwirkungen der Geldpolitik ins Zentrum der Debatte rücken, ohne Auskunft darüber geben zu müssen, wie die EZB Preisstabilität unter den derzeit herrschenden Bedingungen erreichen soll. So wird über Nutzen und Risiken der EZB-Geldpolitik gesprochen, ohne das Ziel Preisstabilität und den Grad der Zielverfehlung zu erwähnen.[ 11 ] Es ist eine bequeme Position, weil diese Nebenwirkungen zur Zeit besonders den deutschen Sparer betreffen. Dass der deutsche Staat und Steuerzahler, von den niedrigen Zinsen profitieren, bleibt dagegen unerwähnt.

Wenn schon eine Zieldiskussion, dann bitte offen …

Damit keine Missverständnisse entstehen: es gibt gute Gründe, über Ziele der Geldpolitik zu diskutieren. Die Geldpolitik hat derzeit große Schwierigkeiten, Preisstabilität zu sichern, und es werden ungewöhnliche Maßnahmen getroffen, um das Ziel zu erreichen. Deshalb mag es durchaus sinnvoll sein, das Ziel zu ändern, neu zu definieren, die mittlere Frist auf über drei Jahre auszudehnen, und über die Neutralität des Geldes und der Geldpolitik zu sprechen. Das Beispiel der Federal Reserve – ausgestattet mit dem Doppelmandat Preisstabilität und Vollbeschäftigung – zeigt, dass es durchaus positiv sein kann, andere Ziele miteinzubeziehen. So konnte die US-Notenbank mit Blick auf das in hohem Maße verletzte Ziel der Vollbeschäftigung in den Jahren 2009 – 2011 eine wesentlich expansivere Geldpolitik betreiben als die EZB. Und aus dem gleichen, nur umgekehrten Grund, nämlich der erheblichen Verbesserung der Lage am US-Arbeitsmarkt, konnte die Federal Reserve im Dezember letzten Jahres den Zins anheben, obwohl sich die US-Inflationsrate von der im Euroraum kaum unterschied.

Allerdings sollte man die Zieldiskussion nicht klammheimlich, sondern offen führen. Denn dann würde sich auch zeigen, warum wir der Geldpolitik das Ziel Preisstabilität, und auch nur dieses Ziel, übertragen haben (vgl. z.B. Issing 2001).[ 12 ] Es würden auch erneut jene Argumente gehört werden müssen, die der konkreten Zieldefinition der EZB zugrunde liegen (Issing 2003) und zumindest für die mittlere Frist für die Annahme der Neutralität des Geldes und der Geldpolitik sprechen. Vor allem aber müssten die Kritiker Alternativen benennen und die Konsequenzen herausarbeiten, wenn man die Geldpolitik von diesem Ziel entbinden bzw. das Ziel umdefinieren würde. Genau deshalb sind sie nicht bereit, diese Diskussion ernsthaft anzustoßen. Sie wäre nämlich unge­fähr so revolutionär, wie wenn man bei der Reform der FIFA auch darüber sprechen würde, dass in Zukunft nicht mehr die Mannschaft gewinnen soll, die die meisten Tore schießt.

… um Larifari zu vermeiden …

Beim Fußball herrscht Konsens über das Ziel: das Runde muss ins Eckige. In der geldpolitischen Debatte kündigen die EZB-Kritiker diesen Konsens über das Ziel auf. Sie werfen nämlich der Mannschaft nicht vor, dass sie Spiele verliert, sondern dass sie sich darum bemüht, Spiele zu gewinnen, indem sie hingebungsvoll kämpft und aggressiv in die Zweikämpfe geht. Denn damit riskieren die Spieler nach dem Spiel total erschöpft zu sein bzw. sich zu verletzen. Und früher genügte es doch auch, sechzig der insgesamt neunzig Minuten konzentriert zu spielen, um zu gewinnen. Bei den Fußballfans kommen solche Überlegungen, die eine Niederlage mit der Vermeidung negativer Nebenwirkungen rechtfertigen, nicht gut an – selbst in Testspielen nicht. Dies durfte man jüngst nach der 2:3 Niederlage gegen England und den Larifari-Äußerungen von Thomas Müller erleben. Im Fußball zählen Tore. Und deshalb wird einer Mannschaft, die “über den Kampf zum Spiel” findet, auch nicht vorgeworfen, dass sie hohe Risiken eingeht, ein gefährliches Experiment wagt, sich auf eine Irrfahrt begibt und ihr Mandat verletzt.

In der Debatte der letzten Jahre ist es den EZB-Kritikern gelungen den Bürgern zu suggerieren, dass es bei Geldpolitik nicht um Preisstabilität geht, sondern um den Realzins für Sparer, die Altersversorgung, die Schließung von Zombiebanken und Anreize für Reformen. Sie sprechen damit der EZB das Mandat zu, Wirtschaftspolitik zu betreiben, weil alle diese Ziele wirtschaftspolitischer, aber nicht geldpolitischer Natur sind.[ 13 ] Und indem sie der EZB vorwerfen, diese neu formulierten Ziele ohne Not zu vernachlässigen – weil das eigentliche Ziel Preisstabilität unterschlagen wird – erzeugen sie den “Wutbürger”, der den Eindruck bekommen muss, dass “die da oben” mal wieder “machen, was sie wollen”.[ 14 ] Dabei sind es die Kritiker, die sich so verhalten, indem sie beliebig und ohne Begründung das Ziel Preisstabilität ignorieren oder neu definieren.[ 15 ]

… und Konsistenz und Klarheit eine Chance zu geben

Wissenschaftler sind keine Roboter. Aber Konsistenz und Klarheit in der Argumentation helfen. Das heißt im konkreten Fall: Ja, man kann die EZB für ihre Geldpolitik scharf kritisieren, wie man das in Deutschland gerade tut. Aber um dies konsistent zu tun, muss man dann auch zugeben, dass wir uns jahrzehntelang geirrt haben. Denn die Kritik ist nur verständlich, wenn

  1. Preisstabilität gar nicht das primäre Ziel der Geldpolitik ist.
  2. Preisstabilität gar nicht als Inflationsrate knapp unter 2% zu definieren ist,
  3. die mittlere Frist länger als drei Jahre dauert,
  4. die Geldpolitik unter Umständen Preisstabilität gar nicht sichern kann,
  5. Geld und Geldpolitik in der mittleren Frist nicht neutral sind, so dass Risiken und Nutzen einer auf Preisstabilität zielenden Geldpolitik sorgfältig abzuwägen sind.

Mindestens in einem dieser Punkte muss man eingestehen, dass das, was vor 2008 geldpolitischer Konsens war, falsch ist und daher die Durchführung von Geldpolitik heute anderen Gesetzmäßigkeiten folgen muss. Dann kann man im akademischen Diskurs über diese Punkte sprechen, um zu sehen, wie in Zukunft Geldpolitik gestaltet werden und auf welchen institutionellen Fundamenten sie aufbauen soll.[ 16 ] Interessant wäre es dann zu hören, wie gerade jene Ökonomen und Geldpolitiker, die über Jahrzehnte den alten Konsens gestaltet haben, sich in einer solchen Diskussion positionieren.link17 Geben sie das Ziel Preisstabilität auf, bzw. stellen sie es unter Vorbehalte, z.B. dass es nicht zu verfolgen ist, wenn dazu ein Refinanzierungszins unter 0,5% und Anleihekäufe notwendig sind, oder bleiben sie bei ihren geldtheoretischen und –politischen Überzeugungen und stützen damit grundsätzlich den Kurs der EZB. Im letztgenannten Sinn kann man Jens Weidmann verstehen, wenn er im Interview mit der Financial Times und zusammengefasst auf der Homepage der Bundesbank ausführt, dass die EZB ihrem Mandat verpflichtet sei, für Preisstabilität zu sorgen, “Deshalb ist eine expansive Geldpolitik zu diesem Zeitpunkt angemessen, trotz unterschiedlicher Ansichten über einzelne Maßnahmen.” Angesichts der aufgeregten und schrillen Diskussion um die EZB in Deutschland wäre es allerdings zu begrüßen, wenn man diese Kernbotschaft auch in den relevanten deutschsprachigen Medien klar vernehmen könnte. Denn dann stünde außer Frage: selbst wenn man über Einzelheiten streiten kann, die EZB macht nichts anderes als das Ziel zu erreichen, das ihr vorgegeben wurde. Und genauso klar wie Tore das Ziel im Fußball sind, ist es Preisstabilität für die Geldpolitik.


  • 1  Dies ist eine veränderte und erweiterte Fassung des gleichnamigen Leitartikels, der im April im Wirtschaftsdienst erschienen ist.
  • 2  Vgl. z.B. ARD Börse
  • 3  So zum Beispiel Hans-Werner Sinn in der Wirtschaftswoche nach der EZB-Entscheidung.
  • 4  A change in the quantity of money in circulation ultimately represents a change in the unit of account (and thereby of the general price level) which leaves all other variables unchanged, in much the same way as changing the standard unit used to measure distance (e.g. switching from kilometres to miles) would not alter the actual distance between two locations., S. 41. Klarer kann man es nicht formulieren, dass Nebenwirkungen in der mittleren Frist vernachlässigbar sind.
  • 5  So z.B. der neue Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest; vgl. “Wissenschaftler sind keine Roboter”, Clemens Fuest im Gespräch, FAZ, 31. März 2016.
  • 6  Genau in diese Richtung läuft die Debatte in Deutschland; vgl. “Germany should keep its hands off the ECB” Financial Times, 14. April, S. 8.
  • 7  Qualität, Größe und Dauer der Zielverletzung unterscheiden sich auch erheblich im Vergleich zu 2011/2012. Damals stieg die Kerninflationsrate nie über 2%, so dass nur anhand der Inflationsrate eine ins Gewicht fallende Zielverletzung festzustellen ist. Zudem fiel diese Zielverletzung – gemessen am Ziel 1,9% – im Vergleich zu heute maßvoller aus: die Inflationsrate stieg im Maximum auf 3%, während sie heute bei Null liegt. Schließlich war die Zielverletzung 2011/2012 nur von kurzer Dauer. Würde die EZB jetzt so zurückhaltend handeln wie 2011, wäre der Vorwurf der Asymmetrie berechtigt, weil Ungleiches gleich behandelt würde. Zudem herrscht Konsens darüber, dass bei Inflationsraten nahe Null und dem Erreichen der Nullzinsgrenze die Geldpolitik an Effektivität verliert. Überraschend ist nur, dass aus diesem Konsens nicht die Schlussfolgerung gezogen wird, alles zu tun, um so schnell wie möglich, diesen Ineffektivitätsbereich wieder verlassen zu können. [8]
  • 8  Vgl. z.B. EZB.
  • 9  Genau diese Diskussion wird von der angelsächsischen Presse und Ökonomen geführt; vgl. z.B. die Beiträge “Out of ammo?” und “Slight of hand” im Economist, 20th February 2016, auf den Seiten 7 und 64. das Interview mit IWF Chefökonom Maurice Obstfeld im Handelsblatt vom 29. März 2016, S. 4-5, sowie der Beitrag “Einer muss handeln” von Barry Eichengreen, ebenfalls im Handelsblatt, 16. März, S. 48.
  • 10  Diese Fehleinschätzungen sind ausführlich dokumentiert in Winkler (2014).
  • 11  Vgl. “Wissenschaftler sind keine Roboter”, Clemens Fuest im Gespräch, FAZ, 31. März 2016.
  • 12  Wer es etwas klassischer haben will, der sei auf Friedman and Schwartz (1965) oder Fisher (1933) verwiesen. Der Beitrag von Fisher zeigt das hohe Maß an Verwirrung in der deutschen geldpolitischen Diskussion, wenn man Maßnahmen der EZB, die dem Ziel dienen, Preisstabilität zu gewährleisten, als Subventionierung von Schuldnern und Bestrafung von Gläubigern (Sparern) abqualifiziert, obwohl es um nichts anderes geht, als eine verlässliche geldpolitische Grundlage für effiziente Gläubiger-Schuldner Beziehungen zu erhalten und damit unnötige Krisen, Konkurse und wirtschaftlichen Niedergang zu vermeiden.
  • 13  Das ist besonders paradox, weil die gleichen Kritiker mit Bezug auf das OMT Programm der EZB vorgeworfen haben, mandatswidrig Wirtschaftspolitik zu betreiben; vgl. Winkler (2013).
  • 14  Dies wird deutlich, wenn man zum Beispiel die Leseranmerkungen zu den geldpolitischen Berichten und Kommentaren in der FAZ verfolgt.
  • 15  Nur deshalb gelingt es den Kritikern, der EZB vorzuwerfen, sie würde ihr Mandat “weit” auslegen. Sobald man das primäre Ziel Preisstabilität berücksichtigt, wird deutlich: die EZB legt ihr Mandat eng aus. Sie handelt allein nach der Vorgabe, das Ziel Preisstabilität zu erreichen.
  • 16  Dieser Diskurs kann jedoch erst dann praktische Folgen haben, wenn entsprechend das Mandat der Notenbank gesetzlich neu formuliert ist, worauf der Governor der Bank of England bereits vor zwei Jahren hingewiesen hat.
Neueste Artikel in der Ökonomenstimme
Ökonomenstimme – Die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum Ökonomenstimme ist eine von der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich lancierte Internetplattform. Ziel von Ökonomenstimme ist es, volkswirtschaftlichen Fragen und Diskussionen im deutschsprachigen Raum eine Bühne zu bieten – von Ökonomen für Ökonomen und alle, die sich für volkswirtschaftliche Themen interessieren. Partnerin und Vorbild von Ökonomenstimme ist die englischsprachige Plattform Vox. Weitere Partner sind die nationalen Varianten von Vox, wie LaVoce in Italien, Telos in Frankreich, Me Judice in den Niederlanden oder Nada es Gratis in Spanien.