Monday , December 23 2024
Home / Ökonomenstimme / 5 vor 12: Warum Übergewicht und Adipositas im Kindesalter auch ein (gesundheits-)ökonomisches Problem sind

5 vor 12: Warum Übergewicht und Adipositas im Kindesalter auch ein (gesundheits-)ökonomisches Problem sind

Summary:
Übergewicht und Adipositas im Kindesalter führen zu erheblichen direkten und indirekten Kosten im Erwachsenenalter. Wie dieser Beitrag für Deutschland zeigt, braucht es flächendeckende frühkindliche Präventionsprogramme, um hier entgegenzuwirken. Übergewicht und Adipositas im Kindesalter sind in den letzten Jahren verstärkt in den medialen, politischen und gesundheitsökonomischen Fokus gerückt. Die gesundheits-ökonomische Relevanz ergibt sich vor allem aus den langfristigen ökonomischen Konsequenzen. Diese ergeben sich, wenn kindliches Übergewicht und Adipositas auch im Erwachsenenalter fortbestehen und dort zu kostenintensiven Begleit- und Folgeerkrankungen, wie koronare Herzerkrankungen, Schlaganfall und Typ-2 Diabetes führen (Reilly und Kelly 2011). Zu den langfristigen ökonomischen Konsequenzen gehören daher u.a. medizinische Versorgungsaufwendungen dieser Begleit- und Folgeerkrankungen (sog. direkte Kosten) sowie Kosten aufgrund von Arbeitsausfällen, Krankheitstagen, Frühverrentungen und vorzeitigem Tod (sog. indirekte Kosten). Bisherige Krankheitskostenstudien (Tsai et al. 2011) bestätigen, dass Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter mit erheblichen direkten und indirekten Kosten verbunden sind, was vor dem Hintergrund knapper finanzieller Ressourcen problematisch ist.

Topics:
Neueste Artikel in der Ökonomenstimme considers the following as important:

This could be interesting, too:

Dirk Niepelt writes “Report by the Parliamentary Investigation Committee on the Conduct of the Authorities in the Context of the Emergency Takeover of Credit Suisse”

Investec writes Federal parliament approves abolition of imputed rent

investrends.ch writes Novo Nordisk Studie bringt Absturz

Urs Birchler writes Der “Regulatorische Filter”: Das Filetstück des PUK-Berichts:

Übergewicht und Adipositas im Kindesalter führen zu erheblichen direkten und indirekten Kosten im Erwachsenenalter. Wie dieser Beitrag für Deutschland zeigt, braucht es flächendeckende frühkindliche Präventionsprogramme, um hier entgegenzuwirken.

Übergewicht und Adipositas im Kindesalter sind in den letzten Jahren verstärkt in den medialen, politischen und gesundheitsökonomischen Fokus gerückt. Die gesundheits-ökonomische Relevanz ergibt sich vor allem aus den langfristigen ökonomischen Konsequenzen. Diese ergeben sich, wenn kindliches Übergewicht und Adipositas auch im Erwachsenenalter fortbestehen und dort zu kostenintensiven Begleit- und Folgeerkrankungen, wie koronare Herzerkrankungen, Schlaganfall und Typ-2 Diabetes führen (Reilly und Kelly 2011). Zu den langfristigen ökonomischen Konsequenzen gehören daher u.a. medizinische Versorgungsaufwendungen dieser Begleit- und Folgeerkrankungen (sog. direkte Kosten) sowie Kosten aufgrund von Arbeitsausfällen, Krankheitstagen, Frühverrentungen und vorzeitigem Tod (sog. indirekte Kosten).

Bisherige Krankheitskostenstudien (Tsai et al. 2011) bestätigen, dass Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter mit erheblichen direkten und indirekten Kosten verbunden sind, was vor dem Hintergrund knapper finanzieller Ressourcen problematisch ist. Die retrospektive Erhebung von Kosten ist jedoch wenig geeignet, potentielle Kostenbelastungen für Gesundheits- und Rentensysteme valide zu schätzen. Zudem wird vernachlässigt, dass Erwachsene, die bereits als Kinder übergewichtig bzw. adipös waren, ein erhöhtes Risiko für Begleit- und Folge-Erkrankungen haben und somit zukünftig höhere Kosten verursachen werden als Erwachsene, die erst später z.B. im Erwachsenalter übergewichtig bzw. adipös wurden. Weiter sind auch indirekte Kosten im Kindesalter zu berücksichtigen, die bisher jedoch kaum quantitativ darstellbar scheinen, wie z.B. Schulausfälle und damit reduzierte Bildungschancen, psychische Probleme durch Mobbing oder Stigmatisierung, Arbeitsausfall der Eltern durch Rehaaufenthalte etc.

In der internationalen Literatur finden sich nur wenige Studien, die diese ökonomischen Langzeitwirkungen von kindlichem Übergewicht und Adipositas über die Lebenszeit schätzen (Fernandes 2010, Sonntag et al. 2015, 2016). Für die USA wurde z.B. berechnet, dass Adipositas im Kindesalter pro Person zusätzliche direkte Lebenszeitkosten im Erwachsenenalter von 18.999 US-Dollar für adipöse Männer und 26.775 US-Dollar für adipöse Frauen verursachen (Fernandes 2010). Im Rahmen von zwei Simulationsstudien wurden erstmals für Deutschland die langfristigen indirekten und direkten gesundheitsökonomischen Auswirkungen von kindlichen Übergewicht und Adipositas prognostiziert (Sonntag 2015, 2016). Die Autoren schätzen das Ausmaß i.) der zusätzlichen Kosten von Kindern mit Übergewicht bzw. Adipositas im Laufe ihres Lebens im Vergleich zu Kindern mit Normalgewicht und ii.) die maximal möglichen Kosteneinsparungen, falls Präventionsprogrammen effektiv sind.

Was kosten uns Übergewicht und Adipositas im Kindesalter?

Die  Autoren der Studien schätzen, dass eine Kohorte von heute dreijährigen Kindern mit Übergewicht und Adipositas im Laufe ihres Lebens zusätzliche Kosten in Höhe von 1.8 Milliarden in Deutschland verursachen werden (3% diskontiert).  Übergewicht und Adipositas im Kindesalter würden somit pro Person zusätzliche direkte und indirekte Lebenszeitkosten i.H.v. 8.471 Euro für adipöse Männer und 9.473 Euro für adipöse Frauen verursachen werden (siehe Tabelle 1). Erwachsene, die bereits als Kind übergewichtig bzw. adipös waren, verursachen somit dreimal (bei Männern) bzw. fünfmal (bei Frauen) so viele Kosten, wie übergewichtige bzw. adipöse Erwachsene, die als Kind normalgewichtig waren und erst im Laufe ihres Lebens übergewichtig bzw. adipös wurden.

Tabelle 1

Auffällig ist, dass bei Frauen ein Großteil dieser Kosten (70%) auf medizinische Versorgungsaufwendungen entfielen, während nur ein Drittel der zusätzlichen Gesamtaufwendungen durch Kosten durch Arbeitsausfälle, Frühverrentungen und vorzeitigen Tod verursacht werden. Die deutlich geringeren indirekten Lebenszeitkosten bei Frauen sind vor allem auf eine geringe Entlohnung bedingt durch Teilzeitarbeitsverhältnisse zurückzuführen. Dagegen verursachen hohe medizinische Versorgungsaufwendungen besonders im hohen Alter höhere direkte Lebenszeitkosten bei Frauen i.V.z. Männern.

Sonntag und Kollegen (2016) konnten zudem zeigen, dass kindliche Adipositas auch im Erwachsenenalter den Großteil der dort anfallenden indirekten Kosten zur Folge hat. Abbildung 1 zeigt die zusätzlichen indirekten Lebenszeitkosten je Altersdekade bedingt durch i.) Übergewicht und Adipositas im Kindesalter und ii.) Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter. Es ist ersichtlich, dass über alle Altersdekaden hinweg, eine schon im Kindesalter manifeste Adipositas (wenn im Erwachsenenalter weiterhin manifest) zu erheblich höheren indirekten Kosten führt als eine Adipositas, die erst im Erwachsenenalter entstanden ist. So verursacht kindliche Adipositas achtmal so viele zusätzliche Kosten im Alter zwischen 41 und 51 Jahren als Adipositas, die erst im späten Jugend- oder Erwachsenenalter entstanden ist.

Abbildung 1

Dies unterstreicht die Notwendigkeit, möglichst frühzeitig, am besten schon im frühen Kindesalter, zu intervenieren. Zukünftige Kostenbelastungen können auf der individuellen Ebene und für Gesundheits- und Rentensysteme reduziert werden, falls Präventionsprogramme ein Fortbestehen von kindlichem Übergewicht und Adipositas im Jugend- und Erwachsenenalter und damit verbundene psychische Belastungen effektiv verhindern.

Inwieweit können die Kosten von Übergewicht und Adipositas durch Präventions- und Therapieprogramme reduziert werden?

Flächendeckende frühkindliche Programme zur Prävention von kindlicher Adipositas sind in Deutschland jedoch kaum vorhanden. Aktuelle Übersichtsarbeiten (Yavuz et al. 2015) belegen zudem, dass derzeit angebotene Programme eher kurzfristig als “Projekte” implementiert sind und daher kaum dauerhafte Effekte aufweisen können. Sonntag und Kollegen (2016) schätzten kürzlich, dass 4,1 Millionen Euro (3 % diskontiert) für die derzeit prävalente Population in Deutschland eingespart werden könnten, falls die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas im Kindesalter um 1 Prozent reduziert werden könnte.

Weitere 27 Millionen Euro könnten eingespart werden (Sonntag et al. 2016), wenn die Prävalenz von kindlichem Übergewicht und Adipositas langfristig um 14 Prozent gesenkt wird, wie seitens der Beobachtungsstudie zur Evaluation ambulanter und stationärer Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (EvAKuj-Studie) für vereinzelte Therapieprogramme bestätigt (Hoffmeister et al. 2011). Allerdings ist hier festzuhalten, dass es sich um eine konservative Kostenschätzung handelt, da initiale Therapieerfolge häufig 1-2 Jahre nach Therapieende nicht mehr nachweisbar sind (Yazuf et al. 2015). Würde es gelingen, mittels einer Mischung von flächendeckender früher Präventionsmaßnahmen und Therapieangebote für Hochrisikogruppen, die Prävalenz von kindlichen Übergewicht und Adipositas dauerhaft z.B. auf das Niveau von 1999 zu reduzieren, wären Kosteneinsparungen (nur indirekte Kosten) in Höhe von ca. 68 Millionen Euro für die derzeit prävalente Population in Deutschland möglich (Sonntag et al. 2016).

Insgesamt zeigen die Autoren der Studie, dass Übergewicht und Adipositas im Kindesalter mit erheblichen zusätzlichen direkten und indirekten Kosten im Erwachsenenalter verbunden sind und somit längst kein rein klinisches Problem mehr sind. Die Prävalenz von kindlichem Übergewicht und Adipositas steigt in den letzten Jahren zwar nicht so stark an, wie in den Jahren davor, bleibt aber weiterhin auf einem sehr hohen Niveau (OECD 2014). Daher ist es weiterhin “fünf vor zwölf”: Die Implementierung flächendeckender frühkindlicher Präventionsprogramme (inklusive effektiver Programme in kindlichen Lebenswelten wie Kindergärten und Schulen aber z.B. auch einer konsequenten Stillförderung) ist dringend notwendig, um die geschätzten Kostenbelastungen auf individueller und volkswirtschaftlicher Ebene (teilweise) zu verhindern.

Literatur

Fernandes, MM. Estimating the lifecycle costs associated with childhood obesity in: Evaluating the impacts of school nutrition and physical activity policies on child health (Dissertation). RAND Corporation, 2010.

Hoffmeister U, Bullinger M, van Egmond-Frohlich A, et al. U?bergewicht und Adipositas in Kindheit und Jugend. Evaluation der ambulanten und stationa?ren Versorgung in Deutschland in der “EvAKuJ-Studie”, Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz, 2011: 54, 128-135.

Tsai AG, Williamson DF, Glick HA. Direct medical cost of overweight and obesity in the USA: A quantitative sys- tematic review. Obes Rev 2011: 12, 50–61.?

Reilly JJ, Kelly J. Long-term impact of overweight and obesity in childhood and adolescence on morbidity and premature mortality in adulthood: systematic review. International Journal of Obesity 2011: 35, 891-898.

OECD. Obesity Update. 2014.

Sonntag D, Ali S, Lehnert T, Konnopka A, Riedel-Heller S, Koenig HH. Modeling the direct lifetime cost of child obesity in Germany, wird erscheinen in Pediatric Obesity 2015.

Sonntag D, Ali S, de Bock F. Estimating the Lifetime Indirect Cost of Childhood Overweight and Obesity: a Markov Modelling Study,  wird erscheinen in Obesity 2016.

Yavuz H, Ijzendoorn M, Mesman J, van der Veek S. Interventions aimed at reducing obesity in early childhood: a meta-analysis of programs that envolve parents. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 2015: 56, 677-692.

©KOF ETH Zürich, 25. Feb. 2016

Neueste Artikel in der Ökonomenstimme
Ökonomenstimme – Die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum Ökonomenstimme ist eine von der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich lancierte Internetplattform. Ziel von Ökonomenstimme ist es, volkswirtschaftlichen Fragen und Diskussionen im deutschsprachigen Raum eine Bühne zu bieten – von Ökonomen für Ökonomen und alle, die sich für volkswirtschaftliche Themen interessieren. Partnerin und Vorbild von Ökonomenstimme ist die englischsprachige Plattform Vox. Weitere Partner sind die nationalen Varianten von Vox, wie LaVoce in Italien, Telos in Frankreich, Me Judice in den Niederlanden oder Nada es Gratis in Spanien.