Eine gewisse Schlitzohrigkeit gehört zum Geschäftsmodell: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker trifft anlässlich des 60. Jahrestags der Verträge von Rom auf Papst Franziskus (24. März 2017). Foto: Keystone Die EU ist ausserordentlich schwierig zu verstehen. Sie ist weder Fisch noch Vogel, weder Bundesstaat noch Staatenbund, weder demokratisch noch undemokratisch, weder erfolgreich noch erfolglos. Vor allem ist sie singulär. Es gibt heute kein vergleichbares staatliches Konstrukt. In der Schweiz tut man sich deshalb besonders schwer, die EU zu begreifen. Als Fanatiker der Pünktlichkeit sind es die Bewohner dieses Landes gewohnt, dass die Dinge eindeutig sind. Vielleicht hilft es, wenn man die EU mit der ältesten supranationalen Organisation Europas vergleicht: mit der katholischen Kirche. Auf diese Weise lässt sich die EU möglicherweise bis zur Kenntlichkeit entstellen. Im Übrigen ist der Vergleich mit der katholischen Kirche historisch gar nicht so abwegig, wie er auf den ersten Blick scheint. Die EU war in der Frühphase ein von katholischen Politikern besonders favorisiertes Projekt. Jean Monnet, Robert Schumann, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Paul-Henri Spaak – sie alle waren Katholiken. Nur in den Niederlanden war ein Nicht-Katholik Staatschef, der den europäischen Einigungsprozess unterstützte: der Sozialdemokrat Willem Drees.
Topics:
Tobias Straumann considers the following as important: Allgemein, Bilaterale Verträge, Europäische Union, Katholische Kirche, Schweiz
This could be interesting, too:
Markus M. Müller writes Abgedroschen: “Stärkung der Verteidigungsfähigkeit”
Urs Birchler writes Staatsgarantie zum Schleuderpreis
Urs Birchler writes Banken — stille Revolution und unüberlegte Politik
Urs Birchler writes Hydranten statt Brandmauern?
Die EU ist ausserordentlich schwierig zu verstehen. Sie ist weder Fisch noch Vogel, weder Bundesstaat noch Staatenbund, weder demokratisch noch undemokratisch, weder erfolgreich noch erfolglos. Vor allem ist sie singulär. Es gibt heute kein vergleichbares staatliches Konstrukt. In der Schweiz tut man sich deshalb besonders schwer, die EU zu begreifen. Als Fanatiker der Pünktlichkeit sind es die Bewohner dieses Landes gewohnt, dass die Dinge eindeutig sind.
Vielleicht hilft es, wenn man die EU mit der ältesten supranationalen Organisation Europas vergleicht: mit der katholischen Kirche. Auf diese Weise lässt sich die EU möglicherweise bis zur Kenntlichkeit entstellen.
Im Übrigen ist der Vergleich mit der katholischen Kirche historisch gar nicht so abwegig, wie er auf den ersten Blick scheint. Die EU war in der Frühphase ein von katholischen Politikern besonders favorisiertes Projekt. Jean Monnet, Robert Schumann, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Paul-Henri Spaak – sie alle waren Katholiken. Nur in den Niederlanden war ein Nicht-Katholik Staatschef, der den europäischen Einigungsprozess unterstützte: der Sozialdemokrat Willem Drees.
Regeln brechen, ohne sie infrage zu stellen
Eine erste Parallele zwischen der EU und der katholischen Kirche ist die hierarchische Struktur. Die Entscheidungen fallen oben und werden nach unten kommuniziert. Die Funktionselite ist gut ausgebildet, internationalistisch und wohlmeinend, aber sie will das Heft nie aus der Hand geben. Bewegungen von unten scheut man wie der Teufel das Weihwasser. Als Frankreich und die Niederlande, zwei Gründungsländer, die Verfassung ablehnten, taufte man die ganze Sache einfach auf «Vertrag von Lissabon» um und legte ihn in den beiden Ländern nicht mehr zur Volksabstimmung vor.
Die zweite Parallele ist die schlitzohrige Einstellung zu Regeln. In der katholischen Kirche wie in der EU ist es durchaus erlaubt, Regeln zu brechen, solange man die Regeln selber nicht infrage stellt. Das Zölibat wurde immer wieder umgangen. Aber Bewegungen, die das Zölibat abschaffen wollten, wurden sofort bekämpft und ausgeschlossen. Ähnlich in der EU: Die Defizit- und Schuldenregeln gemäss Maastricht-Vertrag können problemlos verletzt werden, solange die Regeln selber nicht kritisiert werden. Als Portugal und Spanien letztes Jahr ein zu grosses Defizit ausweisen mussten, sprach Brüssel eine Sanktion aus, aber verzichtete darauf, eine Strafsumme zu verlangen.
So publizierte die EU-Kommission am 27. Juli 2016 folgendes Pressecommuniqué, um ihren Entscheid zu begründen:
Nach dem einstimmigen Beschluss des Rates gemäss Artikel 126 Absatz 8, dass weder Spanien noch Portugal wirksame Massnahmen zur Korrektur ihrer übermässigen Defizite getroffen hatten, war die Kommission rechtlich...