Foto: Thurid Gebhardt Wenn große historische Ereignisse die ganze Welt erschüttern, dann befinden sich Menschen in einem kollektiven Schock. Den meisten ist bewusst, dass in diesem Moment Geschichte geschrieben wird. Doch wenn kleinere Ereignisse die Welt bewegen, sieht das oft anders aus: Sie werden schnell wieder verdrängt, Betroffene bleiben allein mit dem Schock zurück und Außenstehende realisieren nicht die Tragweite dessen, was gerade passiert. So ein kleines Ereignis war die Bürgermeisterwahl am 2. Juli 2023 in meiner Heimatstadt Raguhn-Jeßnitz. Zur Stichwahl standen der parteilose Nils Naumann und der AfD-Kandidat Hannes Loth. Es war ein müder Sommernachmittag als ich mich auf den Weg zum Wahllokal begab. Der Asphalt auf den leeren Straßen glühte und so
Topics:
Thurid Gebhardt considers the following as important: Allgemein
This could be interesting, too:
Urs Birchler writes Der “Regulatorische Filter”: Das Filetstück des PUK-Berichts:
Urs Birchler writes Staatsgarantie zum Schleuderpreis
Urs Birchler writes Banken — stille Revolution und unüberlegte Politik
Urs Birchler writes Hydranten statt Brandmauern?
Foto: Thurid Gebhardt
Wenn große historische Ereignisse die ganze Welt erschüttern, dann befinden sich Menschen in einem kollektiven Schock. Den meisten ist bewusst, dass in diesem Moment Geschichte geschrieben wird. Doch wenn kleinere Ereignisse die Welt bewegen, sieht das oft anders aus: Sie werden schnell wieder verdrängt, Betroffene bleiben allein mit dem Schock zurück und Außenstehende realisieren nicht die Tragweite dessen, was gerade passiert. So ein kleines Ereignis war die Bürgermeisterwahl am 2. Juli 2023 in meiner Heimatstadt Raguhn-Jeßnitz.
Zur Stichwahl standen der parteilose Nils Naumann und der AfD-Kandidat Hannes Loth.
Es war ein müder Sommernachmittag als ich mich auf den Weg zum Wahllokal begab. Der Asphalt auf den leeren Straßen glühte und so schlenderte ich – vorbei an den Wahlplakaten der AfD, vorbei an der Nachbarskatze, vorbei an dem schief angebrachten „Wahllokal“-Schild und an den vergilbten Räumlichkeiten der Schule, die zum Wahllokal umfunktioniert worden war. Die ganze Zeit zwang ich mich zu Optimismus: Ich kannte die Leute in der Stadt, ich hatte die vorherigen Wahlergebnisse gesehen, es gab Grund zur Zuversicht. Wenn nur alle, die vorher die zwei ausgeschiedenen Kandidaten unterstützt hatten, heute Nils Naumann wählen würden, würde alles gut gehen. Oder wenn ein paar mehr vernünftige Leute zur Wahl gehen würde, jetzt kam es schließlich wirklich auf was an. Dann ging ich rein in den kleinen Raum, in dem nichts zu hören war als das gelegentliche Klicken der Kulis und das Schlürfen der Wahlhelfer an ihrem Kaffee. Ausweis zeigen, Platz nehmen, noch einmal mit Unglauben die beiden Namen auf dem Zettel anstarren – und dann war’s das auch schon.
Ich hatte nicht erwartet, dass sich meine Stimme so klein anfühlen würde, nachdem ich sie abgegeben hatte. Nie war sie wichtiger gewesen und doch gab ihr das nicht plötzlich mehr Gewicht als bei anderen Wahlen. Sie war trotz der Umstände nur eine von Tausenden und würde kaum Einfluss auf das Ergebnis haben. Der Rückweg zog sich viel länger als der Hinweg und wirre Gedanken durchströmten meinen Kopf. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? War Deutschland nicht zu fortschrittlich für sowas? Wie verhindern wir, dass Rechtspopulisten so viel Einfluss gewinnen? Müsste der Verfassungsschutz nicht etwas tun?
Den ganzen Abend beobachtete ich die tickende Uhr, und als es auf 18 Uhr zuging, aktualisierte ich verschiedene Websites regelmäßig. Dass Hannes Loth mit 51 Prozent gewählt worden war, erfuhr ich schließlich auf WhatsApp durch die Nachricht eines Freundes.
Mein Herz sank mir in die Magengegend und dort ist es auch geblieben. Denn ich werde das mulmige Gefühl nicht los, dass dies nur der Anfang für den demokratisch gewählten Rechtsruck in Deutschland war. Die Umfragen der letzten Wochen in ganz Deutschland bestätigen dieses Gefühl mit Zahlen. Man würde meinen, dass schlimmere Zahlen in der Bevölkerung auch zu mehr Widerstand und einem gesteigerten Bewusstsein führen, aber mit Entsetzen durfte ich beobachten, wie sich jeden Tag immer weniger Menschen an die Wahl in Raguhn-Jeßnitz erinnern konnten. Es war einfach kein großes Ereignis. Es war ein kleines Ereignis, und meine Welt hat es trotzdem auf den Kopf gestellt.
Belastender noch als der Schock, den so viele, die nicht hier wohnen, einfach verdrängen konnten, war das Schuldgefühl. Zur Wahrheit gehört nämlich, dass ich Wochen vor den Wahlen darüber nachgedacht hatte, meinen favorisierten Kandidaten mit meinem Know-how über Wahlkampf- und Kampagnenmanagement zu unterstützen. Ich entschied mich dagegen. Aus Bequemlichkeit, aus Unsicherheit bezüglich meiner Fähigkeiten und aus mangelndem Wissen darüber, wie entscheidend diese Wahl werden würde. Ich habe den AfD-Kandidaten und den Einfluss der AfD unterschätzt, die Moral der Menschen überschätzt und ich habe nicht geglaubt, dass mein Engagement einen bedeutenden Unterschied machen würde. Und ich weiß auch jetzt nicht, ob es einen Unterschied gemacht hätte. Aber ich weiß, dass meine Stimme keinen Unterschied gemacht hat.
Leider war der Wahlkampf der anderen Kandidaten am Ende tatsächlich grottenschlecht. Viel Sichtbarkeit durch Plakate, Bürgersprechstunden auf den Marktplätzen der verschiedenen Ortschaften und mediale Aufmerksamkeit haben Hannes Loht zu seiner Bekanntheit und womöglich auch Beliebtheit verholfen, während genau das den anderen Kandidaten fehlte. Bei Kommunalwahlen in so abgelegenen Einheitsgemeinden wie Raguhn-Jeßnitz mit 8000 Einwohnern geht es häufig schlichtweg darum, dass die Menschen sich gehört fühlen und darum, dass sie den Namen des Kandidaten kennen. Das ist ein Hebel, an dem man mit persönlichem Engagement eigentlich leicht ansetzen kann.
Am Abend des 2. Juli 2023 ging ich ins Bett wie jeden Tag, und am Morgen des 3. Juli stand ich auf wie jeden Tag. Doch das kleine Ereignis hat etwas Großes in meinem Kopf verändert. Ich muss nun damit leben, dass ich nicht alles dagegen getan habe, dass der erste AfD-Bürgermeister Deutschlands ausgerechnet in meinem Heimatort ins Amt kam. Eine bittere Erkenntnis habe ich davongetragen: Wir in Deutschland sind nicht automatisch durch Gesetzte davor gefeit, dass sich Geschehnisse der Vergangenheit wiederholen und manchmal reicht das kleine Kreuz, das man setzt, nicht aus, um wirklich etwas zu verändern. Am 23. August 2023 wurde Hannes Loth vereidigt.
Es ist essenziell, dass jeder von uns sich die Gefahr, die für Deutschland von der AfD ausgeht, vor Augen führt, und nicht vor Schock und Bequemlichkeit so tut als würde alles von allein wieder gut werden. Persönliches Engagement, am besten direkt vor Ort in der Kommune, ist wichtiger denn je und macht den Unterschied. Diesmal habe ich den AfD-Kandidaten nicht aufgehalten, aber beim nächsten Mal werde ich es versuchen, mit allem, was ich kann und weiß.
Bezeichnend für die aktuelle Passivität der Gesellschaft und mein eigenes früheres Zögern, empfinde ich ein Zitat von Kurt Tucholsky. Der deutsche Journalist schrieb bereits 1929 aus dem Exil über seine Haltung zu Deutschland „Gegen einen Ozean pfeift man nicht an“ und rechtfertigte so seine mit der Zeit ausbleibenden Versuche, durch Schriften etwas an der furchtbaren Situation zu ändern. Doch aus dem Zitat lässt sich auch Mut schöpfen, denn niemand von uns sitzt im Exil. Rechte Gesinnungen in Deutschland sind vielleicht schon ein Meer, aber kein Ozean. Und wir können noch viel mehr tun als pfeifen.