Photo: Pamela Callawy from Unsplash (CC 0) Landläufig heißt es, dass ein Volk die Politiker bekommt, die es verdient. Wenn das gleiche auch auf die öffentlichen Intellektuellen des Landes zutrifft, dann muss sich die deutsche Bevölkerung in der Pandemie wirklich doppelt etwas zu Schulden haben kommen lassen. Wir müssen nämlich nicht nur einen Impffortschritt im Schneckentempo, Testkonzepte in Kinderschuhen und korrupte Politiker ertragen, sondern auch Richard David Prechts Einlassungen zu Gegenwartsthemen. Das neueste Thema von Deutschlands Talk-Show-Philosophen Nr. 1 ist die Pflicht. Und da ganz besonders die staatsbürgerliche Pflicht in Zeiten der Pandemie. Dabei ist Prechts Bilanz bei Corona-Themen denkbar schlecht: Im Frühjahr 2020 kritisierte er erst die Globalisierung, die in der
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Landläufig heißt es, dass ein Volk die Politiker bekommt, die es verdient. Wenn das gleiche auch auf die öffentlichen Intellektuellen des Landes zutrifft, dann muss sich die deutsche Bevölkerung in der Pandemie wirklich doppelt etwas zu Schulden haben kommen lassen. Wir müssen nämlich nicht nur einen Impffortschritt im Schneckentempo, Testkonzepte in Kinderschuhen und korrupte Politiker ertragen, sondern auch Richard David Prechts Einlassungen zu Gegenwartsthemen. Das neueste Thema von Deutschlands Talk-Show-Philosophen Nr. 1 ist die Pflicht. Und da ganz besonders die staatsbürgerliche Pflicht in Zeiten der Pandemie.
Dabei ist Prechts Bilanz bei Corona-Themen denkbar schlecht: Im Frühjahr 2020 kritisierte er erst die Globalisierung, die in der Pandemie ihre Fragilität zeige. Eine These, die durch die resiliente globale Arbeitsteilung, internationales Risikokapital zu Gunsten von Impfstoffen und grenzübergreifende Innovationen als widerlegt gelten kann. Im darauffolgenden Sommer räsonierte Precht, dass Deutschland bei den Pandemie-Maßnahmen „ganz offenkundig in Teilen überreagiert“ habe, und wurde durch die zweite und folgende dritte Welle wieder eines Besseren belehrt. Das hält den Mann, der mit der Philosophie das anstellt, was André Rieux an der klassischen Musik anrichtet, aber nicht davon ab, die nächsten Forderungen zu stellen. Precht kritisiert die Anspruchshaltung der Bürger gegen den Staat und fordert zwei Dinge: Mehr Verständnis für das „nach vorne Irren“ der Politik und zwei Jahre sozialer Zwangsdienste, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen.
Staatstragende Verantwortung statt angelsächsischem Pragmatismus
Ist es wirklich ein Ausweis bürgerlicher Verantwortung, mehr Verständnis für das „nach vorne Irren“ der aktuellen Politik zu haben? Natürlich ist Politik immer mit Unsicherheit konfrontiert und kann häufig nur „auf Sicht fahren“. Doch müssen die Verantwortlichen mit bemerkenswerter Kurzsichtigkeit geschlagen sein, wo doch so viele Möglichkeiten in Sicht waren und sind, es besser zu machen: Die USA nahmen die Ratschläge von Ökonomen, frühzeitig Produktionskapazitäten auszubauen, schon letztes Jahr ernst. In Deutschland hat das neue Werk von Biontech in Marburg, das alle fünf Tage acht Millionen Impfdosen produzieren soll, die Zulassung der Europäischen Arzneimittelbehörde hingegen erst letzte Woche erhalten. Die Briten nutzen erfolgreich die wissenschaftliche Erkenntnis, dass schon die erste Impfung einen 80 prozentigen Schutz bietet, um möglichst schnell der ganzen Bevölkerung die erste Impfung zu verabreichen, bevor man die zweite Runde startet. In Deutschland läuft es bis heute andersherum. In Israel ist das Impfen so unkompliziert, dass sich junge Menschen shot-for-shot in der Kneipe impfen lassen können: erst den Impfshot und dann den Schnapsshot als Belohnung hinterher. In Deutschland werden stattdessen lieber Dosen weggeworfen als von der Impfreihenfolge abzuweichen.
Öffentliche Intellektuelle wie Precht äußern Verständnis für das Missmanagement und drehen, statt angelsächsischen Pragmatismus zu fordern, lieber das große polit-theoretische Rad: nicht das staatliche Versagen sei das Problem, sondern die überzogene Anspruchshaltung der Bevölkerung. Deshalb ist sein Lösungsvorschlag für die Vertrauenskrise der Bürger in den Staat nicht bessere Performance des Staates, sondern ein Pflichtdienst zum Dienste an der Gesellschaft. Und, weil ein solcher Vorschlag ja schon bekannt ist und doppelt besser hält, fordert er zusätzlich dann nochmal ein zweites Jahr Pflichtdienst kurz vor dem Renteneintritt.
Prechts Angst: Die Emanzipation des Bürgers
Wenn einem die erste Begründung für eine Dienstpflicht nicht die Nackenhaare zu Berge stehen lässt, dann tut es sicherlich die zweite. Früher, so Precht, hätte der Staat nur Pflichten abverlangt, sich aber in den vergangenen zwei Jahrhunderten immer weiter liberalisiert und dem Bürger immer mehr Rechte gegeben. Wenn diese Entwicklung so weitergehe, hätten Bürger irgendwann nur noch Rechte und keine Pflichten mehr gegenüber dem Staat. Um sie wieder daran zu erinnern, schlägt der Philosoph zwei verpflichtende Dienstjahre für vor.
Zusammen mit all den anderen Befürwortern von staatlichen Pflichtdiensten stellt sich Precht in eine anti-aufklärerische und identitäre Tradition. Der Staat wird nicht als ein funktionales Gebilde gesehen, das die natürlichen Freiheiten des Menschen schützen, bestimmte Aufgaben erfüllen soll und dafür von den Bürgern mit Steuergeld versorgt wird. Vielmehr gehen die Menschen und die verschiedenen zivilen Gemeinschaften wie Familie, Sportverein und Unternehmen im Staatswesen auf. Bürger sind keine Individuen mehr mit Ansprüchen gegen den Staat, sondern ein zu homogenisierender Teil der Volksgemeinschaft. (Natur)-Rechte gibt es in dieser Konzeption nicht, sondern nur diejenigen Rechte, die der Staat den Bürgern zuspricht. Die Entwicklung hin zu emanzipierten Bürgern, die privat in unterschiedlichen zivilen Kontexten Verantwortung übernehmen, scheint Precht ein Graus. Ein Dienst am Vaterland hingegen ein Gewinn.
Liest man Prechts Einlassungen der letzten Woche großzügig, möchte er zwei Dinge: mehr Vertrauen der Bevölkerung in den Staat und mehr Vertrauen und Engagement unter Bürgern. Genau dafür ist Prechts Vorschlag einer Dienstpflicht Gift. Denn Vertrauen in den Staat schafft der Staat selbst, wenn er seine Grundaufgaben erledigt. Und Vertrauen und Engagement der Bürger untereinander schafft man nicht, indem man sie zum Dienst an der Volksgemeinschaft zwingt, sondern indem man ihnen die Freiheit lässt, zivilgesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen und ihre eigenen Verpflichtungen einzugehen.