Photo: Richard Allaway from Flickr (CC BY 2.0) So kann das nicht weitergehen. Das großartige und beispiellose Projekt der europäischen Einigung wird gerade von denjenigen vor die Wand gefahren, die es voranbringen wollen – oder das zumindest behaupten. Schulden, Sozialunion und eine aberwitzige Fehlentscheidung Die bodenständige Nörgelei unserer britischen Partner und Freunde fehlt. Sie fehlt schmerzhaft. Der französisch-deutschen Hegemonie stellen sich jetzt nur noch ein paar resignierte nordeuropäische Mittelstaaten sowie polnische und ungarische Politiker mit höchst zweifelhafter Gesinnung entgegen. Um des lieben Friedens Willen wird sang- und klanglos eine Schuldenvergemeinschaftung durchgewunken, die möglicherweise nicht nur auf die Pandemie-Ära beschränkt sein wird, sondern sich
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Photo: Richard Allaway from Flickr (CC BY 2.0)
So kann das nicht weitergehen. Das großartige und beispiellose Projekt der europäischen Einigung wird gerade von denjenigen vor die Wand gefahren, die es voranbringen wollen – oder das zumindest behaupten.
Schulden, Sozialunion und eine aberwitzige Fehlentscheidung
Die bodenständige Nörgelei unserer britischen Partner und Freunde fehlt. Sie fehlt schmerzhaft. Der französisch-deutschen Hegemonie stellen sich jetzt nur noch ein paar resignierte nordeuropäische Mittelstaaten sowie polnische und ungarische Politiker mit höchst zweifelhafter Gesinnung entgegen. Um des lieben Friedens Willen wird sang- und klanglos eine Schuldenvergemeinschaftung durchgewunken, die möglicherweise nicht nur auf die Pandemie-Ära beschränkt sein wird, sondern sich durchaus dauerhaft festsetzen könnten. Das hoffen zumindest der deutsche Vizekanzler ebenso wie die Partei, die wohl in jeder Konstellation an der nächsten Regierung beteiligt sein wird. Beim Sozialgipfel in Porto im Mai wird wahrscheinlich so lange die Corona-Fahne geschwenkt, bis entscheidende Schritte Richtung Sozialunion gemacht werden. Das wird entweder ein Problem für die Konkurrenzfähigkeit mittel- und osteuropäischer Arbeiter und Unternehmen oder die Zustimmung dieser Länder wird durch mehr innereuropäische Umverteilung erkauft. So oder so wird es ein massiver Schlag für die wirtschaftliche Dynamik der Union.
Und dann Corona. Obwohl seit bald hundert Jahren klar ist, dass es nur ein humanes und Grundrechte schonendes Mittel gibt, um Pandemien in den Griff zu bekommen, schien das Thema Impfung in der EU nicht besonders hoch auf der Prioritätenliste zu stehen. Weder die Kommission noch die kroatische, ganz zu schweigen von der deutschen Ratspräsidentschaft haben sich mit der Leidenschaft auf das Thema gestürzt wie die Regierungen der USA, Großbritanniens, Chiles und Israels. Ausgerechnet in dieser Frage wurde gefeilscht als ginge es um Schreibmaschinenpapier und Radiergummis. Übrigens auch mit Blick auf ärmere Länder eine Katastrophe: Je mehr Vakzine man abnimmt und ordentlich bezahlt, desto höhere Anreize entstehen ja für Unternehmen, noch schneller Forschung und Produktion auszuweiten. Ein Wettlauf mit unseren Partnern von Santiago bis London, von Jerusalem bis Washington hätte der ganzen Welt schneller mehr Impfstoff ermöglicht. Doch anstatt diese beispiellose, katastrophale Fehlentscheidung einzugestehen, werden Ablenkungsmanöver durchgeführt: Es werden in fundamentalem Widerspruch zu den Grundprinzipien der EU Exportverbote in Erwägung gezogen. Und im Februar wurden in einer erschreckenden Aktion Details aus den Verhandlungen mit den Impfstofflieferanten geleakt, um die Schuld für das Impfdebakel bei den Unternehmen abzuladen.
Demokratie funktioniert nur mit gemeinsamer Öffentlichkeit
Spätestens an diesem Punkt wäre in den meisten europäischen Staaten Schluss mit lustig gewesen für eine Regierung. Diese Taktik, Verantwortung abzuwälzen, stammt aus den Schubladen von populistischen Politikern und hat in der EU nichts verloren. Doch der Kommission lässt man so etwas einfach durchgehen. Wie in einem Vergrößerungsglas sieht man hier ein fundamentales Problem der Europäischen Union. Die Kommission spielt Regierung – und wird dabei von etlichen Ländern auch unterstützt. Ihr fehlen aber einige ganz wesentliche Elemente, die dazu gehören, wenn man eine Regierung bilden will, die freiheitlich-demokratischen Standards entspricht. Dazu gehört zuvorderst ein Parlament. Das hat zwei Kernaufgaben in der demokratischen Tradition: Gesetzgebung und Kontrolle der Regierung. Erstere Aufgabe muss es sich ohnehin schon mit Kommission und Rat teilen und bei letzterer bleibt es weit hinter dem zurück, was man sich wünschen würde. Die alles dominierende Mehrheit der etwa 500 Abgeordneten, die nicht-radikal und EU-freundlich sind, umfasst Parteien von Forza Italia bis zur dänischen Socialistisk Folkeparti. Da treffen Abgeordnete von 27 höchst diversen Ländern aufeinander, ehemalige Regierungschefs und die klassischen Abstellgleis-Politiker aus den großen Mitgliedsländern. Kein Wunder eigentlich, dass man bei einem auf so vielen Ebenen heterogenen Gebilde nicht einmal am Rande mitbekommt, ob die Abgeordneten hier ihrer Aufgabe der Regierungskontrolle nachkommen. Das Impfdebakel hätte eigentlich einen Sturm der Entrüstung im Parlament entfachen sollen, womöglich auch zu einem oder mehreren Rücktritten führen sollen. Es hätte eine – wenn auch dunkle – Sternstunde des europäischen Parlamentarismus werden können, in der sich die Damen und Herren als Vertreter des Volkes in die Bresche hätten werfen können. Stattdessen: dröhnendes Schweigen.
EU-Enthusiasten würden an dieser Stelle gewiss viele Beispiele anführen können, wo in den letzten 12 Monaten EU-Parlamentarier ihre Stimmen erhoben haben. Und sie würden dann auch noch anfügen, dass man hier doch wieder sehe, wie wichtig es sei, das Parlament noch zu stärken. Doch außerhalb dieser winzigen Blase bekommt man von all dem nichts mit. Und das hat einen ganz offensichtlichen Grund: Es gibt keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt keine Anne Will, die Leute in Valencia, Vaasa und Warna ansehen; es gibt kein europäisches Nachrichtenportal, dessen Push-Meldungen man sich auf dem Handy installiert. Ein europaweiter Diskursraum besteht nicht – und wird auch auf absehbare Zeit nicht existieren. Er lässt sich nicht durch noch mehr institutionelle Zentralisierung herstellen und auch nicht durch die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf EU-Ebene herbeizaubern. Zu groß sind die sprachlichen Barrieren. Viel, viel, viel zu groß die kulturellen Unterschiede. Die Art, wie Debatten und Diskurse in Lettland, Irland, Zypern, Deutschland und Rumänien geführt werden, lassen sich ebenso wenig harmonisieren wie die Erwartungen, die Menschen in diesen Ländern an die Politik haben.
Ever better union
Je mehr Kompetenz bei der EU angesiedelt wird, desto mehr wird sich das exekutive Handeln der Kontrolle entziehen. Für himmelschreiendes Politikversagen wird niemand zur Rechenschaft gezogen. Wenn Staaten wie Dänemark, Griechenland oder die Slowakei mit Entscheidungen unzufrieden sind, wird es nur zwei Möglichkeiten geben, damit umzugehen: Entweder man gibt klein bei und schürt damit die Ressentiments gegen die Union. Oder man poltert und blockiert so laut und so lange, bis man etwas verhindert oder ein günstiges Tauschgeschäft angeboten bekommt. Je mehr Macht den Exekutivorganen der EU zugestanden wird, desto mehr bringen wir Grundpfeiler der demokratischen Tradition ins Wanken: Die Prinzipien demokratischer Kontrolle, der Gewaltenteilung und der Subsidiarität. Solange es keine kontrollierende Öffentlichkeit gibt, sind alle europäischen Institutionen, die diesen Prinzipien Genüge tun sollen, Potemkinsche Dörfer.
Wer weiß es schon? Vielleicht wird es in zweihundert Jahren eine europäische Öffentlichkeit geben; ein Parlament, das eine Regierungschefin stürzt; Parteien, die ein Programm anbieten, das Menschen in Brindisi so sehr begeistert wie in Brügge? Heute ist das offensichtlich nur ein Wunschtraum von EU-Enthusiasten. Es ist legitim und vielleicht sogar richtig, diesen Traum zu träumen. Aber wenn man dorthin gelangen möchte, dann geht das nur mit Bescheidenheit und kleinen Schritten. Wenn man den Traum auf dem Reißbrett planen und mit Macht durchsetzen will, wird man ganz schnell beobachten, wie quer über den Kontinent Nester von erbitterten Europaskeptikern entstehen. Und dann ist all das Wunderbare und Gute, das wir in den letzten siebzig Jahren erreicht haben, in Gefahr. Dann werden die vielen Segnungen der Europäischen Union womöglich mit in den Abgrund gezogen: der gemeinsame Markt, die EU als Motor des Freihandels, der Fall von Grenzen, der hohe Grad an Kooperation, das Einstehen für Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaat weit über unseren Kontinent hinaus.
So kann es nicht weiter gehen. Die EU braucht eine ausführliche Verschnaufpause. Sie braucht die Möglichkeit, sich neu zu justieren. Sie braucht die Gelegenheit, aufzuarbeiten, was in den letzten Jahren für Fehler gemacht wurden: warum sie gemacht wurden und wie man sie in Zukunft vermeiden kann. Und wir müssen weg von dem unsinnigen Anspruch der „ever closer union“. Was wir brauchen, ist nämlich eine „ever better union“.