Mit benevolenten Entscheidungsträgern führt Steuerwettbewerb zwischen Staaten zu ineffizient niedrigen Steuersätzen auf mobiles Kapital – so wird gemeinhin angenommen. Wenn hingegen Kapital und Ersparnisse besteuert werden, gilt dies regelmäßig nicht, selbst dann nicht, wenn beide Steuern hinterzogen werden können. Im Oktober vergangenen Jahres einigten sich 136 Staaten des OECD/G20 Inclusive Framework auf eine tiefgreifende Reform des internationalen Systems der Unternehmensbesteuerung. Die Einigung wurde von der Einsicht getragen, dass es internationaler Koordination bedarf, um das grassierende BEPS-Problem in den Griff zu bekommen. BEPS steht für Base Erosion and Profit Shifting und bezeichnet die Praxis multinationaler Unternehmen, durch Steuersparmodelle der Besteuerung an
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Mit benevolenten Entscheidungsträgern führt Steuerwettbewerb zwischen Staaten zu ineffizient niedrigen Steuersätzen auf mobiles Kapital – so wird gemeinhin angenommen. Wenn hingegen Kapital und Ersparnisse besteuert werden, gilt dies regelmäßig nicht, selbst dann nicht, wenn beide Steuern hinterzogen werden können.
Im Oktober vergangenen Jahres einigten sich 136 Staaten des OECD/G20 Inclusive Framework auf eine tiefgreifende Reform des internationalen Systems der Unternehmensbesteuerung. Die Einigung wurde von der Einsicht getragen, dass es internationaler Koordination bedarf, um das grassierende BEPS-Problem in den Griff zu bekommen. BEPS steht für Base Erosion and Profit Shifting und bezeichnet die Praxis multinationaler Unternehmen, durch Steuersparmodelle der Besteuerung an den Produktionsstandorten zu entgehen.
Ineffizienter Steuerwettbewerb
Die Idee, dass unkoordinierte Steuerpolitik zu Ineffizienzen führen kann, ist freilich nicht neu. Formalisiert wurde sie Mitte der 1980er Jahre in der klassischen Steuerwettbewerbsliteratur (Zodrow und Miezskowski 1986, Wilson 1986). Diese Literatur bezog sich zunächst auf den Wettbewerb mit quellenbasierten Kapitalsteuern zwischen Kommunen. Die weitgehende Abschaffung von internationalen Kapitalverkehrskontrollen in den 1980er Jahren und die Schaffung des europäischen Binnenmarkts bescherte der Theorie eine zusätzliche Anwendung: den Steuerwettbewerb zwischen Staaten.
Die Literatur expandierte rasch, zuerst theoretisch, später vor allem empirisch. Der Fokus der Theorie lag anfangs auf dem Wettbewerb um mobiles Kapital. Als Hauptursache für die Ineffizienz im unkoordinierten Steuerwettbewerbsgleichgewicht wurde die fiskalische Externalität identifiziert: Eine Steuersenkung in einem Land führt dazu, dass Kapital aus dem Ausland angelockt wird. Dadurch sinkt im Ausland der Kapitalstock. Eine kleine Verringerung des Kapitalstocks hat keinen direkten Effekt auf die Unternehmensgewinne (schließlich ist der Kapitalstock so gefällt, dass sich Grenzertrag und Grenzkosten genau ausgleichen), aber einen negativen Effekt auf das Steueraufkommen, da die Bemessungsgrundlage sinkt. Dementsprechend haben Steuersenkungen eine negative fiskalische Externalität. Daraus folgt, dass die Steuersätze im Gleichgewicht zu niedrig sind. Aufbauend auf diesem Mechanismus ist eine voluminöse theoretische Literatur entstanden, die wesentlich unser heutiges Verständnis des Steuerwettbewerbs prägt.
Ein blinder Fleck in der Steuerwettbewerbsliteratur
Nur fünf Jahre nach den grundsteinlegenden Beiträgen der Steuerwettbewerbsliteratur im Jahr 1986 formulierten Sam Bucovetsky und Jay Wilson (1991) einen fundamentalen Einwand gegen das Grundmodell – der allerdings bei der Begeisterung über die neue Theorie nicht die Beachtung fand, die er verdiente. Bucovetsky und Wilson zeigten, dass sich die Effizienzeigenschaften des Steuerwettbewerbs grundlegend wandeln, wenn Kapital nicht nur an der Quelle, sondern auch am Wohnort des Kapitaleigners besteuert wird. In diesem Fall ist die Netto-Externalität beider Steuern im Gleichgewicht gleich Null. Eine koordinierte kleine Anhebung (oder Senkung) einer oder beider Steuern kann die Wohlfahrt dann nicht steigern. Internationale Koordination ist in diesem Fall wirkungslos. Das Steuerwettbewerbsgleichgewicht ist dann eingeschränkt effizient.
Es ist damals wie heute gängige Praxis, dass Staaten sowohl an der Quelle als auch am Wohnort Kapital besteuern. Insofern ist das Modell von Bucovetsky und Wilson im Zweifel realitätsnäher als das Grundmodell des Steuerwettbewerbs – und der Einwand gegen letzteres umso schwerwiegender. Wie ist die Literatur mit dieser intellektuellen Herausforderung umgegangen?
Die etwas ernüchternde Antwort lautet: gar nicht. Es finden sich tatsächlich nur wenige explizite Verweise – und, um ehrlich zu sein, auch in einigen meiner Arbeiten umgehe ich dieses Argument stillschweigend. Selbst in Übersichtsartikeln fristet der Beitrag von Bucovetsky und Wilson ein Fußnotendasein, wenn er überhaupt erwähnt wird. Die wenigen expliziten Referenzen argumentieren, dass wohnsitzlandbasierte Kapitalsteuern ruhig ignoriert werden können, da sie ohnehin größtenteils hinterzogen werden.
Dieses Entlastungsargument ist aber aus mehreren Gründen nicht überzeugend. Erstens belastet auch eine vollständig hinterzogene Steuer den Steuerzahler – Hinterziehung ist schließlich im Regelfall nicht zum Nulltarif zu haben. Zweitens werden wohnsitzlandbasierte Steuern nicht vollständig hinterzogen. Das Aufkommen aus der Besteuerung von Zins- und Dividendeneinkommen in Deutschland war auch schon vor der Steuerreform 2008 stets größer als Null. Drittens hat sich seit den achtziger Jahren einiges bei der Durchsetzung wohnsitzlandbasierter Kapitalsteuern getan (Einführung der Abgeltungsteuer, Einschränkung des Bankgeheimnisses etc.). Viertens werden natürlich auch quellenbasierte Steuern umgangen, wie mittlerweile eine umfangreiche empirische Literatur demonstriert. Dass quellenbasierte Steuern zumeist mit legalen Mitteln vermieden statt illegal hintergezogen werden, ist für das Argument dabei nicht ausschlaggebend.
Steuerwettbewerb mit Steuern auf Kapital und Ersparnisse – und Hinterziehungsmöglichkeiten
Jay Wilson und ich haben uns daher gefragt, welche Eigenschaften der Steuerwettbewerb hat, wenn es quellen- und wohnsitzbasierte Steuern gibt, die beide teilweise umgangen werden können. Wir erweitern das Bucovetsky-Wilson-Modell um Steuerhinterziehung bzw. -vermeidung. Das Modell ist ein klassisches Steuerwettbewerbsmodell mit Mengensteuern auf Kapital und Ersparnisse. Jedes Land setzt beide Steuern unabhängig, im Bestreben, den Nutzen seines repräsentativen Haushalts zu maximieren. Neu ist, dass beide Bemessungsgrundlagen künstlich verringert werden können (wir nennen das ‚underreporting‘). Dieses Underreporting ist mit konvexen Kosten (concealment cost) verbunden. Wir unterscheiden dabei zwischen rein privaten Kosten (z.B. Strafzahlungen an das Finanzamt), die an anderer Stelle in der Ökonomie als Einkommen verbucht werden, und gesamtwirtschaftlichen Kosten, die einen tatsächlichen Ressourcenverlust bedeuten.
Im Steuerwettbewerbsgleichgewicht sind beide Steuersätze eindeutig größer als Null, d.h. sowohl die Ersparnis als auch Investitionen werden besteuert. Ohne Underreporting ist das Gleichgewicht effizient, wie Bucovetsky und Wilson (1991) gezeigt haben. Wie sieht es aus, wenn es Hinterziehungs- und Vermeidungsmöglichkeiten gibt? Wir zeigen, dass selbst mit Underreporting der Steuerwettbewerb eingeschränkt effizient sein kann, und zwar dann, wenn die gesamtwirtschaftlichen Grenzkosten beider Hinterziehungsaktivitäten gleich sind. In diesem Fall ist das alte Bucovetsky/Wilson-Resultat wiederhergestellt: Durch Koordination der Steuerpolitik lässt sich die Wohlfahrt nicht steigern.
Dieser Fall wird freilich nur zufällig eintreten. In der Regel werden sich die gesamtwirtschaftlichen Grenzkosten der Hinterziehung unterscheiden. In diesem Fall – und jetzt komme ich zum Hauptergebnis unserer Studie – ist eine Steuer zu niedrig und die andere ist zu hoch. Die Steuer, die höhere gesamtwirtschaftliche Grenzkosten der Hinterziehung hat, ist zu hoch. Die andere ist zu niedrig. Welche Steuer das ist, lässt sich ohne empirische Untersuchung nicht ermitteln. Es ist aber denkbar, dass quellenbasierte Steuern die höheren gesamtwirtschaftlichen Grenzkosten haben. Dies ist vor allem damit begründet, dass - wie gemeinhin angenommen wird – Quellensteuern vor allem vermieden werden und Wohnsitzlandsteuern vor allem hinterzogen. Bei der Hinterziehung ist ein Teil der erwarteten Strafe eine Geldzahlung an das Finanzamt – aus Wohlfahrtssicht also kein Ressourcenverlust, sondern bloß eine Ressourcenumverteilung. Selbst bei hohen privaten Grenzkosten der Hinterziehung ist es also möglich, dass die gesamtwirtschaftlichen Grenzkosten klein sind. Ist dem so, sind die Quellensteuern im Steuerwettbewerbsgleichgewicht zu hoch.
Dies widerspricht der gängigen Intuition, dass beide Steuern zu niedrig sein müssen – schließlich gibt es um beide Steuern Wettbewerb. Dies ist aber ein Fehlschluss. Natürlich lässt sich beklagen, dass Steuern sowohl auf Kapital als auch auf Ersparnis umgangen werden. Daraus folgt aber nicht, dass beide Steuern im Wettbewerbsgleichgewicht zu niedrig sind (gemessen am eingeschränkt effizienten Niveau). Eine der beiden Steuern ist höher als im eingeschränkt effizienten Gleichgewicht.
Wie bei allen theoretischen Überlegungen ist auch bei unserem Beitrag wichtig anzuerkennen, dass die hergeleiteten Aussagen wohldefinierte Voraussetzungen haben. Zu diesen gehört aber nicht die Begrenzung des Steuerinstrumentariums auf zwei Instrumente. Unser Argument ist robust gegen die Einführung von Steuern auf Arbeitseinkommen und Gewinne, sofern auch diese Steuern vermieden bzw. hinterzogen werden können. Letztere Bedingung muss erfüllt sein, da sonst ein überlegenes Steuerinstrument zur Verfügung steht und zumindest eine der beiden Steuern obsolet wird.
Steuerpolitische Implikationen
Unser Beitrag sollte nicht missverstanden werden als Plädoyer gegen die eingangs erwähnte historische Einigung auf eine koordinierte Reform des internationalen Steuersystems. Das Modell gibt keine Auskunft über die Wirkungen koordinierter Anstrengungen gegen Hinterziehungs- und Vermeidungsmöglichkeiten. Auf diesem Feld sind m.E. substanzielle Effizienzgewinne durch Koordination möglich.
Unser Argument bezieht sich auf die Koordination von wohnsitzland- und quellenlandbasierten Steuersätzen auf Kapital. Auch hier ist es natürlich denkbar, dass in der Realität eine gleichzeitige Anhebung beider Steuersätze die Wohlfahrt steigert. In dem Modellrahmen, der wesentlich unser Verständnis von internationalem Steuerwettbewerb geprägt hat, ist dies aber nicht der Fall. Insofern lässt sich unsere Studie als Beitrag dazu verstehen, der Debatte über internationale Steuerkoordination etwas mehr Disziplin abzuverlangen.
Becker, J., Wilson, J. D. (2021). Tax competition with two tax instruments – and tax evasion, CESifo Working Paper No. 9318
Bucovetsky, S., Wilson, J. D. (1991). Tax competition with two tax instruments, Regional Science and Urban Economics 21(3): 333-350.
Wilson, J. D. (1986). A theory of interregional tax competition, Journal of Urban Economics 19(3): 296-315.
Zodrow, G. R. and Mieszkowski, P. (1986). Pigou, Tiebout, property taxation, and the underprovision of local public goods, Journal of Urban Economics, 19(3): 356-370.
©KOF ETH Zürich, 1. Mär. 2022