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War was? Zwei Jahre gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland

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Die geplante Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hatte in Deutschland zu heftigen Diskussionen geführt. Zwei Jahre nach der Einführung lässt sich festhalten: Passiert ist bisher nicht viel, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Vor zwei Jahren wurde in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Die Reform war heiß umstritten. Ihre Gegner befürchteten Arbeitsplatzverluste in großem Umfang. Ihre Befürworter wollten den vermeintlich immer mehr ausufernden Niedriglohnsektor zurückdrängen und mit "sozial gerechten" Löhnen dafür sorgen, dass die Arbeitsentgelte für den Lebensunterhalt ausreichen, so dass nicht mehr aufstockenden Sozialleistungen bezogen werden müssen. Wenngleich der Mindestlohn mittlerweile nicht mehr im Vordergrund des wirtschaftspolitischen öffentlichen Interesses steht, bietet es sich dennoch an zu prüfen, was aus den mit der Reform verbundenen Erwartungen geworden ist. Was die Beschäftigungseffekte anbelangt, kann sich die Untersuchung lediglich auf einschlägige Zeitreihen der amtlichen Statistik stützen. Individualdaten von Arbeitgebern über deren personalpolitische Reaktionen auf die Reform sind leider nicht verfügbar. Die amtlichen Statistiken zeigen saisonbereinigt einen Bruch bei der Entwicklung der Zahl derjenigen Personen, die ausschließlich einem Mini-Job nachgehen.

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Die geplante Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hatte in Deutschland zu heftigen Diskussionen geführt. Zwei Jahre nach der Einführung lässt sich festhalten: Passiert ist bisher nicht viel, weder in positiver noch in negativer Hinsicht.

Vor zwei Jahren wurde in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Die Reform war heiß umstritten. Ihre Gegner befürchteten Arbeitsplatzverluste in großem Umfang. Ihre Befürworter wollten den vermeintlich immer mehr ausufernden Niedriglohnsektor zurückdrängen und mit “sozial gerechten” Löhnen dafür sorgen, dass die Arbeitsentgelte für den Lebensunterhalt ausreichen, so dass nicht mehr aufstockenden Sozialleistungen bezogen werden müssen. Wenngleich der Mindestlohn mittlerweile nicht mehr im Vordergrund des wirtschaftspolitischen öffentlichen Interesses steht, bietet es sich dennoch an zu prüfen, was aus den mit der Reform verbundenen Erwartungen geworden ist.

Was die Beschäftigungseffekte anbelangt, kann sich die Untersuchung lediglich auf einschlägige Zeitreihen der amtlichen Statistik stützen. Individualdaten von Arbeitgebern über deren personalpolitische Reaktionen auf die Reform sind leider nicht verfügbar. Die amtlichen Statistiken zeigen saisonbereinigt einen Bruch bei der Entwicklung der Zahl derjenigen Personen, die ausschließlich einem Mini-Job nachgehen. Bereits im November 2014 – also zwei Monate vor Inkrafttreten der Reform – nahm die Zahl der Mini-Jobber um etwa 30.000 ab, nachdem sie viele Monate davor weitgehend stagniert hatte. Zu einem noch kräftigeren Rückgang kam es im Januar 2015 mit der Einführung des Mindestlohns. In den folgenden Monaten ließ der Abbau stark nach und kam zur Jahresmitte 2015 fast zum Stillstand. Ganz anders war indes der Verlauf bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, denn in den Monaten um die Einführung des Mindestlohns herum nahm sie besonders kräftig zu.

Abbildung 1: Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen und der geringfügigen Beschäftigung (saisonbereinigt)

Quelle: Bundesagentur für Arbeit; Deutsche Bundesbank; eigene Berechnungen.

Mini-Jobs sind unter Druck gekommen

Es lässt sich daher annehmen, dass Arbeitgeber bei Neueinstellungen vermehrt auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gesetzt haben, mitunter könnte auch ein bestehender Mini-Job in ein solches Beschäftigungsverhältnis umgewandelt worden sein. Es war allerdings zu erwarten, dass die Mini-Jobs mit der Reform unter Druck geraten, denn dadurch war es nicht mehr möglich, mit dem Verweis auf die Privilegien dieser Beschäftigungsform bei den Steuern und Abgaben besonders niedrige Bruttolöhne zu zahlen.

Wird ein Beschäftigungsverlauf ohne Reformeffekt unterstellt, ergibt sich bei überschlägiger Rechnung ein Verlust an Arbeitsplätzen von 100.000 (0,3% aller Arbeitnehmer). Das ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was von manchen Kritikern des Mindestlohnes an die Wand gemalt wurde. Sie hatten dem Wirtschaftsprozess und seinen Akteuren zu viel an Rigidität unterstellt: Infolge des Mindestlohnes steigen die Kosten so sehr, dass sich manche Produktionen nicht mehr lohnen und deshalb aufgegeben werden.  Verkannt wurde, dass es sich bei der Einführung des Mindestlohnes um einen kleineren externen Schock handelte, auf den entsprechend reagiert werden kann. So wurde versucht, die höheren Kosten durch höhere Preise an die Kunden weiterzugeben. Beispielsweise waren die Preise für die Personenbeförderung im Straßenverkehr (dazu gehören Taxifahrten) im ersten Halbjahr 2015 um 11% höher als im entsprechenden Zeitraum des Vorjahres. Bei den Preisen für Zeitungen und Zeitschriften belief sich der Anstieg auf 6%; hier mussten die Austräger höher entlohnt werden. Auch im Hotel- und Gaststättengewerbe kam es zu überdurchschnittlichen Preisanhebungen – insbesondere in Ostdeutschland wegen des dort generell niedrigen Lohnniveaus. Einen Sonderfall stellten die Friseurbetriebe dar, die schon im Vorfeld der Mindestlohneinführung ihre Preise kräftig erhöht hatten. Neben den Preisanhebungen gab es andere Reaktionen. So wurden bei den Taxifahrern die Standzeiten nicht vollständig als Arbeitszeiten angerechnet oder bei Fast-Food-Ketten gingen Sonderzahlungen in die Berechnung des Stundenlohns ein, um auf den Mindestlohn zu kommen.

Abbildung 2: Entwicklung des Niedriglohnsektors1) in Deutschland

1) Ohne Auszubildende, Praktikanten u. Ä.

Quelle: Das Sozio-ökonomische Panel (V32); eigene Berechnungen.

Wie sieht es mit den Hoffnungen der Befürworter der gesetzlichen Lohnuntergrenze aus? Über die Entwicklung des Niedriglohnsektors kann eine Auswertung der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) Auskunft geben. Der Niedriglohnsektor (gemessen am Anteil derjenigen Arbeitnehmer, die pro Stunde brutto weniger als 60% des entsprechenden Medianlohns verdienen), hat von Mitte der Neunziger Jahre bis 2007 zugenommen. Seither hat er insgesamt in Deutschland nahezu stagniert – abgesehen von einer zeitweiligen Schrumpfung in den Jahren 2012 und 2013. Während er in Ostdeutschland seit 2007 auf dem Rückzug war, hat er in den letzten Jahren im Westen leicht – aber nicht statistisch auffällig – an Bedeutung gewonnen. Mithin war die Entwicklung des Niedriglohnsektors schon von vornherein kein tragfähiges Argument, um einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Und sein im Jahr 2015 kaum verändertes Ausmaß zeigt, dass er vom Mindestlohn nicht nennenswert beeinflusst wurde. Das mag daran liegen, dass 2015 die Grenze zum Niedriglohnsektor bei 9,81 Euro lag – also deutlich über dem damals geltenden Mindestlohn von 8,50 Euro. Schließen lässt sich allerdings, dass es kaum zu sog. Zweitrundeneffekten gekommen ist – also nicht dazu, dass Arbeitnehmer, die schon früher mit ihren Stundenentgelten etwas über 8,50 Euro lagen, in den Genuss deutlicher Lohnanhebungen kamen, so dass der Abstand zu den Beziehern von Mindestlöhnen wiederhergestellt war.

Effekt auf Lohnspreizung?

Wird stattdessen der Blick auf die Lohnspreizung (Verteilung der Bruttolöhne je Stunde gemessen am Hoover-Ungleichheitsmaß) gerichtet, zeigt sich ebenfalls für das Jahr 2015 kein dem Mindestlohn zuzuschreibender Effekt. Auch die Lohnspreizung hat seit Mitte der Neunziger Jahre zugenommen; allerdings hat sich hier der Trend – bei gewissen Schwankungen zwischen manchen Jahren – bis 2015 fortgesetzt. Der Mindestlohn hat also nicht der zunehmenden Ungleichverteilung bei den Löhnen entgegengewirkt – obwohl jene Arbeitnehmer, die nach den SOEP-Daten 2014 weniger als 8,50 Euro je Stunde erhielten und auf ihrem Arbeitsplatz blieben, im Jahr danach im Schnitt 35% höhere Stundenlöhne bekamen.  Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es bei diesen Arbeitnehmern zu einer Minderung der durchschnittlichen Arbeitszeit kam: von 30,5 auf 28,8 Wochenstunden – vermutlich infolge einer Arbeitsverdichtung. Das wäre ein indirekt negativer Beschäftigungseffekt. Zwar kam es zu einer Stauchung der Verteilung an deren unteren Ende, diese schlug offenbar aber nicht auf die ganze Lohnstruktur durch. Werden die Arbeitnehmer gemäß ihrer Stundenlöhne in zehn gleich große Gruppen aufgeteilt, zeigt sich, dass es im zweiten unteren Dezil überhaupt keine Lohnsteigerungen gab, kräftige aber in den oberen Dezilen.

Abbildung 3: Entwicklung der Lohnspreizung1) in Deutschland

1) Ohne Löhne der Auszubildenden, Praktikanten u. Ä.

Quelle: Das Sozio-ökonomische Panel (V32); eigene Berechnungen.

Über die Vorstellung sozial gerechter Löhne hatte sich bereits Karl Marx lustig gemacht, denn eine entsprechende Vorstellung fand sich schon im Gothaer Programm der SPD von 1875. Er verwies darauf, dass sich der Lohn nicht an der Bedürftigkeit und somit an der Zahl der zu versorgenden Haushaltsmitglieder orientieren kann, sondern nur an der Produktivität des Arbeitnehmers. Tatsächlich bemisst sich der Mindestlohn auch nicht an Bedürftigkeit oder angeblicher Gerechtigkeit, vielmehr wurde seine Höhe willkürlich festgelegt. Die Zahl der sog. Aufstocker, also jener Erwerbstätigen, die staatliche Sozialleistungen in Form von Arbeitslosengeld II beziehen, hat sich nach der Einführung des Mindestlohnes auch nicht merklich verändert. Im Jahr 2015 bezog reichlich eine Million Arbeitnehmer solche Transfers. Hinzu zu zählen sind gut 100.000 Selbständige. Im Vergleich zum vorhergehenden Jahr waren das kaum weniger Aufstocker, wobei zu berücksichtigen ist, dass wegen der günstigen Konjunktur die Zahl der Arbeitslosengeld II-Bezieher generell abgenommen hatte.

Abbildung 4: Zahl der Erwerbstätigen mit Bezug von Arbeitslosengeld II

Quelle: Bundesagentur für Arbeit; eigene Berechnungen.

Dass für diesen Personenkreis Sozialleistungen gezahlt werden müssen, hängt nicht primär von der Höhe des Stundenlohnes ab, sondern vor allem davon, dass die allermeisten (80% der Arbeitnehmer) nur einer Teilzeit- oder einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen. Es handelt sich somit vorrangig um ein Problem der Unterbeschäftigung. Bei den etwa 200.000 abhängig Beschäftigten mit einer Vollzeittätigkeit reicht indes der – spärliche – Lohn deshalb für den Lebensunterhalt nicht aus, weil ein größerer Haushalt zu versorgen ist. So kamen sie den Daten des SOEP zufolge 2015 in ihren Haushalten im Schnitt auf 3,5 Mitglieder, die übrigen Arbeitnehmer in Vollzeit dagegen lediglich auf 2,5. Bei all dem kann es nicht verwundern, dass nicht alle abhängig beschäftigten Aufstocker dem Niedriglohnsektor zuzurechnen sind; 2015 zählte ein Viertel nicht dazu.

Viel Lärm um wenig

Wird die heftige Debatte um die Einführung des Mindestlohnes unter dem Licht der hier dargelegten Befunde betrachtet, bleibt als Fazit nur: viel Rauch um fast nichts. Die Zahl der Mini-Jobs ist etwas weniger geworden – aber die befürchteten großen Beschäftigungsverluste haben sich nicht eingestellt. Die betroffenen Arbeitgeber haben mit Anpassungsreaktionen verschiedener Art auf den Schock reagiert, u. a. haben sie ihre höheren Kosten über die Preise an die Kunden weitergegeben. Da Leistung immer anhand der auf dem Markt realisierten Preise gemessen wird, wurde mithin die Produktivität erhöht. Begünstigt wurde das durch eine ansonsten geringe Teuerung und kräftig steigende verfügbare Einkommen – eine glückliche Konstellation. Die Mini-Jobs haben nachhaltig an Attraktivität verloren, ihnen muss aber nicht nachgetrauert werden, da es ordnungspolitisch zweifelhaft ist, eine bestimmte Beschäftigungsform zu privilegieren.

Verteilungspolitisch hat der Mindestlohn die Erwartungen seiner Unterstützer nicht erfüllt. Die Bezieher geringer Löhne konnten sich zwar über kräftige Entgeltanhebungen freuen, insgesamt hat die Lohnungleichheit aber nicht abgenommen, der Niedriglohnsektor ist nicht geschrumpft und die Zahl der Aufstocker ist nach wie vor hoch. Gemessen an den politischen Ankündigungen erwies sich das Projekt Mindestlohn als ein Flop.

Literatur

Bosch, G., C. Weinkopf: Zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € in

Deutschland. Arbeitspapier Nr. 304 der Hans-Böckler-Stiftung (2014).

Brenke, K., K.-U. Müller: Gesetzlicher Mindestlohn: kein verteilungspolitisches Allheilmittel. In: Wochenbericht des DIW, Nr. 39/2013.

Brenke, K.: Mindestlohn: Zahl der anspruchsberechtigten Arbeitnehmer wird weit unter fünf Millionen liegen. In: Wochenbericht des DIW, Nr. 5/2014.

Brenke, K., G. G. Wagner: Mindestlohn ante portas. In: Wirtschaftsdienst, Nr. 6/2014.

Bruckmeier, K., J. Wiemers: Die meisten Aufstocker bleiben trotz Mindestlohn bedürftig. IAB-Kurzbericht Nr. 7/2014.

Henzel, S. R., K. Engelhardt: Arbeitsmarkteffekte des flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland – eine Sensitivitätsanalyse. In: Ifo-Schnelldienst, Nr. 10/2014.

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Die Entwicklung der Zahl der Aufstocker nach der Einführung des Mindestlohns 2015. IAB-Kurzbericht Nr. 10/2016.

Knabe, A., R. Schöb, M. Thum: Der flächendeckende Mindestlohn. Diskussionsbeiträge dees Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin Nr. 4/2014.

Lesch, H., C. Schröder: Ein Jahr gesetzlicher Mindestlohn. Ein Faktencheck. IW-Trends Nr. 2/2016.

Marx, K.: Brief an Wilhelm Brasche (Kritik des Gothaer Programms). In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke. Band 19, 4. Berlin 1962, S. 13–32.

Mindestlohnkommission: Erster Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns. Bericht der Mindestlohnkommission an die Bundesregierung nach § 9 Abs. 4 Mindestlohngesetz. Berlin 2016.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik. Jahresgutachten 2013/14. Wiesbaden 2013.

©KOF ETH Zürich, 26. Jan. 2017

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