Die Auswirkungen der Digitalisierung auf unser Leben sind unbestritten, bei den Grenzen wird allerdings meist nur auf technische Möglichkeiten verwiesen. Vergessen gehen dabei die möglichen Anpassungen unserer Präferenzen. Mit der ständig zunehmenden Vermessung der Welt steigt auch das Bedürfnis der Menschen nach den unmessbaren Bereichen des Lebens. Digitalisierung ist zu Recht zu einem intensiv studierten Thema geworden.[ 1 ] So ist soeben ein langer Übersichtsaufsatz über "Digital Economics" im National Bureau of Economic Research erschienen (Goldfarb and Tucker 2017). Darin werden die bestehenden Studien über die Auswirkungen der Digitalisierung auf nicht weniger als 91 Seiten und anhand von 398 Quellen zusammengefasst. Allerdings wird ausschliesslich auf deren Auswirkungen
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Die Auswirkungen der Digitalisierung auf unser Leben sind unbestritten, bei den Grenzen wird allerdings meist nur auf technische Möglichkeiten verwiesen. Vergessen gehen dabei die möglichen Anpassungen unserer Präferenzen. Mit der ständig zunehmenden Vermessung der Welt steigt auch das Bedürfnis der Menschen nach den unmessbaren Bereichen des Lebens.
Digitalisierung ist zu Recht zu einem intensiv studierten Thema geworden.[ 1 ] So ist soeben ein langer Übersichtsaufsatz über "Digital Economics" im National Bureau of Economic Research erschienen (Goldfarb and Tucker 2017). Darin werden die bestehenden Studien über die Auswirkungen der Digitalisierung auf nicht weniger als 91 Seiten und anhand von 398 Quellen zusammengefasst. Allerdings wird ausschliesslich auf deren Auswirkungen auf die Kosten eingegangen. Sie umfassen im Vergleich zu den heutigen Möglichkeiten einen weit geringeren Aufwand für die Suche, die Vervielfältigung, den Transport, das Verfolgen und die Überprüfung von Daten. Wegen der massiven Kostenreduktion infolge der Digitalisierung werden diese Tätigkeiten stark zunehmen. Diese Auswirkungen sind unbestritten. Die Grenzen der Digitalisierung werden dabei allerdings nur in den technischen Möglichkeiten gesehen.
Die Auswirkungen auf der Präferenz- oder Nachfrageseite werden hingegen völlig vernachlässigt. Die Digitalisierung hat aber auch bedeutende Effekte auf die Zusammensetzung des Konsums und auf das individuelle Wohlbefinden. Grund dafür ist hauptsächlich die rapide Zunahme der Messung von immer mehr Aktivitäten in immer mehr Bereichen. Als Reaktion darauf ziehen sich die Menschen vermehrt auf nicht quantifizierbare Bereiche zurück und ordnen ihnen einen ständig steigenden Wert zu. Diese Reaktivität der Menschen setzt der Digitalisierung deutliche Grenzen. Die zukünftige Gesellschaft dürfte deshalb von der Digitalisierung nicht total eingenommen werden; wichtige Freiräume werden erhalten bleiben.
Digitalisierung bewirkt umfassende Messung
Die Digitalisierung hat die Kosten der Messung einer riesigen Zahl von Aktivitäten und Bereichen drastisch vermindert. Entsprechend wird (beinahe) alles gemessen, was auch als " Numerokratie" oder "Omnimetrics" bezeichnet wird (vgl. Mau 2017). Silicon Valley Firmen wie Google, Facebook, Twitter, Amazon und Microsoft saugen unendlich viele Daten ab und auch die Geheimdienste wirken fleissig mit (vgl. z.B. Pasquale 2015). Unternehmen, Regierungen und staatliche Verwaltungen fragen diese Daten intensiv ab, um die Bevölkerung besser beeinflussen zu können. Die Digitalisierung überwindet deshalb in einem gewissen Ausmass den alten Gegensatz zwischen Markt und Staat; beide sind in gleichem Masse von denselben Messungen abhängig und benützen sie für ähnliche Zwecke. Die vom Markt üblicherweise produzierte Diversität wird unterlaufen.
Der Wert des Unmessbaren
Gerade weil heute so viel quantitativ erfasst wird, steigt das Bedürfnis der Menschen nach den unmessbaren Bereichen des Lebens. Sie weisen Aspekten, die sich (zumindest bisher) der Messung entzogen haben, zunehmende Bedeutung zu; ihre Zahlungsbereitschaft dafür steigt. Es gibt viele Bereiche, die in ihrer Essenz schwer messbare Werte verkörpern.
Auf der individuellen Ebene gehören dazu die persönlichen Beziehungen in der Ehe, bei Liebe und Freundschaften, aber auch Vertrauen. Selbstverständlich gibt es viele Ansätze, sie zu messen. Werden diese Beziehungen jedoch einer Messung unterworfen, verlieren sie ihre essentielle Eigenschaft; sie wird verdrängt. Ein anderer Bereich, in dem Messbarkeit geradezu verpönt ist, ist Anerkennung durch andere Personen. Schon gar nicht lässt sich Anerkennung kaufen (Brennan und Pettit 2005)..
Auf der gesellschaftlichen Ebene finden sich mehrere Bereiche, die sich der Messung bewusst oder unbewusst entziehen. Dazu gehört die "Heimat" als Ort der Identität und Zugehörigkeit. Eng damit verknüpft ist die Bewegung "Zurück zur Natur", "Entschleunigung des Lebens" oder "Slow Food". Damit wird die Sehnsucht nach einem direkten Verhältnis zum Ursprünglichen ausgedrückt. Dazu gehört auch das Bedürfnis nach "natürlichen" Produkten der regionalen oder lokalen Landwirtschaft.
Reaktionen auf umfassende Messung
Die Menschen spüren, dass sie infolge der fortschreitende Messung von allem und jedem nicht mehr selbständig über ihre Bedürfnisse bestimmen können. Es findet ein Verdrängungseffekt "intrinsischer Präferenzen" statt.
Der Bereich des Unmessbaren ist dauernd in Gefahr, der Quantifizierung anheimzufallen. So werden zum Beispiel Freundschaft durch die "Likes" des Internets oder Liebe durch die Ausschüttung von Cortisol und anhand der Herzfrequenz zu messen versucht. Die Freude am Joggen wird durch eine unablässige Messung aller möglichen Gesundheitsdaten begleitet. Dennoch weiss jeder, dass dadurch die Essenz des Fühlens, Denkens und Handelns nicht erfasst wird.
Die Individuen können sich auf verschiedene Weise gegen diese Vereinnahmung durch Zahlen und Beeinträchtigung ihrer intrinsischen Präferenzen zu wehren versuchen:
- Sie können gegen die Messung selbst vorgehen, was jedoch in den meisten Fällen erfolglos bleibt. Die Digitalisierung hat das Messen enorm einfach gemacht und lässt sich nicht verbieten.
- Sie können die Messungen unterminieren, indem sie diese mittels "hacking" manipulieren und damit mehr oder weniger unbrauchbar machen. Dieses Vorgehen ist schwierig und mühsam und dürfte in weiten Bereichen der Messung wenig ausrichten.
- Sie können in Bereiche ausweichen, in denen – zumindest bisher – noch keine Messung stattfindet. Dazu ist viel Kreativität notwendig.
Schliesslich können sie eine höhere Zahlungsbereitschaft für Lebensbereiche deutlich machen, in denen bewusst auf Messung verzichtet oder diese deutlich beschränkt wird. Damit wird ein erhöhtes Angebot bewirkt.
Die zwei letzten Möglichkeiten sind als Reaktion auf die "Digitalisierung der Welt" an vielen Stellen beobachtbar. Die Menschen bemühen sich, der Messung zu entgehen und auf nicht-gemessene Bereiche auszuweichen. Ländliche Sport- und Musikveranstaltungen sind so populär wie noch nie. So sind nicht nur in der Schweiz Schwinger- und Jodelfeste trendig geworden. Auf den Menükarten gepflegter Restaurants wird heute ausgewiesen, von welchem lokalen Bauern die Eier und das Fleisch kommen. Konsumenten sind bereit, für Bio-Lebensmittel deutlich höhere Preise zu bezahlen.
Publikationen, die ein weitgehend romantisch verklärtes Bild des ruralen Lebens zeichnen, sind en vogue. So gibt es die "Landliebe", "Landzauber", "Land Idyll", "Land und Berge", "mein schönes Land" und viele andere mehr. Ihr Absatz floriert: die "Landlust" ist eine der erfolgreichsten Zeitschriften im deutschsprachigen Raum. Sie ist nahe der Millionengrenze und verkauft sogar mehr Exemplare als "Der Spiegel". Ein zunehmender Teil der Benützer von SMS und e-Mails schreiben (in der Schweiz) in ihrem Dialekt. Für Hochzeiten wird immer mehr Geld als je ausgegeben (obwohl etwa die Hälfte der Ehen geschieden wird). Auszeichnungen spielen in Unternehmen und privaten Organisationen eine immer wichtigere Rolle (Frey und Gallus 2017). Ihre Vergabe hebt sich deutlich von monetären Boni ab, die auf möglichst präzis messbaren Leistungen abstellen. Hingegen werden Auszeichnungen gerade für nicht-messbare Leistungen, wie etwa eine ausgeprägt intrinsische Motivation für die Arbeit, vergeben.
Verteilungswirkungen
Als sich die Digitalisierung in den 90er Jahren ausbreitete, wurde zu Recht eine digitale Kluft ("digital divide") festgestellt. Die oberen Einkommensschichten konnten sich einen Heimcomputer, ein i-Pad und bald auch ein Smart Phone leisten. Die unteren Einkommensschichten wurden abgehängt. Diese Verteilung hat sich in letzter Zeit total umgekehrt. Heute sind die unteren Einkommensschichten zu einem guten Teil Sklaven der Digitalisierung geworden. Personen mit höherem Einkommen können es sich hingegen leisten – und sind in der Tat stolz darauf – nicht mehr dem Diktat der digitalen Welt unterworfen zu sein. Sie haben bessere Möglichkeiten sich der allumfassenden Messung zu entziehen. "Off-line" zu sein, ist heute ein Merkmal der oberen Schichten geworden. In dieser Hinsicht öffnet sich eine neue Dimension der Ungleichheit.
Folgerungen
Digitalisierung und Messung üben einen gewaltigen Einfluss auf unser Leben aus. Die Digitalisierung bewirkt jedoch nicht nur hohe Kostenersparnisse, sondern verändert auch ausgeprägt die Nachfrage.
In diesem Beitrag werden drei Wirkungen der Digitalisierung hervorgehoben:
- Nicht vorwiegend die technischen Möglichkeiten, sondern vielmehr die Reaktionen der Menschen – oder die Reaktivität – setzen der Digitalisierung wirksame Grenzen.
- Menschen versuchen, sich gegen eine immer stärkere Vermessung ihrer Tätigkeiten und die Verdrängung des intrinsischen Lebensgefühls zu wehren. Sie weichen auf Bereiche aus, die davon (noch) nicht erfasst sind und zeigen eine höhere Zahlungsbereitschaft für das Unmessbare.
- Der alte Gegensatz zwischen Markt und Staat entfällt wenigstens teilweise, weil beide Bereiche heute wesentlich von der gleichen Messung abhängen.
Brennan, Geoffrey und Philip Pettit (2005). The Economy of Esteem. Oxford University Press, Oxford und New York.
Frey, Bruno S. und Jana Gallus (2017). Honours versus Money. The Economics of Awards. Oxford University Press, Oxford und New York.
Goldfarb, Avi und Catherine Tucker (2017). Digital Economics. NBER Working Paper No 23684, August 2017.
Mau, Steffen (2017). Das Metrische Wir – Über die Quantifizierung des Sozialen. Edition suhrkamp, Berlin.
Pasquale, Frank (2015). The Black Box Society. Harvard University Press, Cambridge, MA and London.
©KOF ETH Zürich, 3. Okt. 2017