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Ökonomie und Massenmigration

Summary:
Migration kann viele Gründe haben, darunter auch rein ökonomische. Dieser Beitrag setzt sich mit dieser wichtigen Form der Migration anhand eines neoklassischen Standardmodells auseinander. Er kommt dabei zu pessimistischen Einschätzungen. Eine mögliche Lösung sieht der Beitrag in den von Paul Romer vorgeschlagenen "Charter Cities". Migration hat, wie die meisten komplexen sozialen Vorgänge, in der Regel verschiedene Ursachen. Ökonomische Faktoren zählen jedoch häufig zu den wichtigsten Triebkräften von Flucht- bzw. Wanderbewegungen. Es lohnt daher, sich dem Phänomen Massenmigration mit den analytischen Mitteln der modernen Wirtschaftswissenschaften zu nähern. Die ökonomische Migrationsforschung – wenn auch ein vergleichsweise junger eigenständiger Forschungszweig – hat in den letzten drei Jahrzehnten nicht nur wertvolle Grundlagenarbeit geleistet, sondern auch theoretische und empirische Erkenntnisse bereitgestellt, die sich gerade im Zusammenhang mit der jüngsten Massenwanderung nach Europa als nützliche Orientierungshilfe erweisen. Sie helfen vor allem Politik und Gesellschaft dabei, Mythen, Trugschlüssen, Viertel- und Halbwahrheiten nicht allzu leichtgläubig aufzusitzen.

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Migration kann viele Gründe haben, darunter auch rein ökonomische. Dieser Beitrag setzt sich mit dieser wichtigen Form der Migration anhand eines neoklassischen Standardmodells auseinander. Er kommt dabei zu pessimistischen Einschätzungen. Eine mögliche Lösung sieht der Beitrag in den von Paul Romer vorgeschlagenen "Charter Cities".

Migration hat, wie die meisten komplexen sozialen Vorgänge, in der Regel verschiedene Ursachen. Ökonomische Faktoren zählen jedoch häufig zu den wichtigsten Triebkräften von Flucht- bzw. Wanderbewegungen. Es lohnt daher, sich dem Phänomen Massenmigration mit den analytischen Mitteln der modernen Wirtschaftswissenschaften zu nähern. Die ökonomische Migrationsforschung – wenn auch ein vergleichsweise junger eigenständiger Forschungszweig – hat in den letzten drei Jahrzehnten nicht nur wertvolle Grundlagenarbeit geleistet, sondern auch theoretische und empirische Erkenntnisse bereitgestellt, die sich gerade im Zusammenhang mit der jüngsten Massenwanderung nach Europa als nützliche Orientierungshilfe erweisen. Sie helfen vor allem Politik und Gesellschaft dabei, Mythen, Trugschlüssen, Viertel- und Halbwahrheiten nicht allzu leichtgläubig aufzusitzen.

Referenzmodell

Die zentralen Problemstellungen der Migrationsökonomie lassen sich durch zwei Fragen erfassen:

  • Wodurch werden Richtung, Ausmaß und Struktur von Migrationsströmen bestimmt?
  • Wem nützt Migration und wem schadet sie?

Bereits das sehr elementare neoklassische Standardmodell der Migrationsökonomie gibt klare Antworten auf diese Fragen. Die Triebkraft zur Aus- und Zuwanderung von Arbeitskräften im Referenzmodell der Migrationsökonomie kommt ausschließlich vom unterschiedlichen, gesamtwirtschaftlichen Produktivitätspotential von Herkunfts- und Zielland, das im Modell exogen, d.h. unerklärt bleibt. In beiden Ländern, Zielland und Herkunftsland, steigt (fällt) gemäß der neoklassischen Grenzproduktivitätstheorie die Nachfrage nach Arbeit mit fallendem (steigendem) Reallohn. Dieser neoklassische Wirkungszusammenhang verläuft jedoch im Zielland aufgrund seines deutlich höheren gesamtwirtschaftlichen Leistungspotentials auf einem (deutlich) höheren Niveau als im Herkunftsland. Arbeitsmigration ist somit eine unmittelbare Konsequenz der plausiblen und empirisch fundierten Grundeinsicht, dass individuelle Arbeitsproduktivität in erster Linie davon bestimmt wird, wo man arbeitet und nicht wie man bzw. wer arbeitet (labor productivity is mostly about where you are and not who you are).

Das Modell macht präzise Aussagen zu den migrationsbedingten Einkommenseffekten und zum Migrationsvolumen. Bei bestehender Reallohndifferenz und hinreichend elastischer Arbeitsnachfrage sind mit Migration Einkommensgewinne für die zugewanderten Arbeitnehmer (Migranten) im Zielland und für die verbleibenden Arbeitnehmer im Herkunftsland verbunden. Je größer die Reallohndifferenz ist, umso größer sind die Einkommensgewinne. Einkommenszuwächse durch Arbeitsmigration verzeichnen auch die Unternehmer bzw. Kapitaleigner im Zielland. Auch hier gilt: Je größer die Reallohndifferenz, umso größer der positive Einkommenseffekt.

Das Modell macht aber auch deutlich, dass Migration zu keinem Pareto-effizienten Gleichgewicht führt. Migration erzeugt auch Einkommensverlierer. Zu diesen zählen vor allem die Arbeitnehmer im Zielland, aber auch die Kapitaleigner im Herkunftsland. Bei den Verlusten verhält es sich genauso wie bei den Gewinnen: Je größer die Reallohndifferenz, umso größer die Einkommensverluste.

Das Migrationsvolumen wird ebenfalls durch die Reallohndifferenz bestimmt. Hier gilt ebenfalls: Je größer die Differenz, umso größer das Migrationsvolumen. Der Reallohnausgleich zwischen Ziel- und Herkunftsland bestimmt die Obergrenze des Migrationsvolumens.

Gewinn oder Verlust

Dieses einfache Modell (bzw. seine Implikationen) bildet nicht nur Ausgangspunkt und Richtschnur für die verschiedenen Forschungsrichtungen in der Migrationsökonomie, sondern spiegelt auch den Themen- und Argumentationsbogen des öffentlichen Diskurs über Konsequenzen und Implikationen der gegenwärtigen (und zukünftigen) Massenmigration nach Europa wider.

Stilisierte Berechnungen auf der Grundlage des Standardmodells (aber auch strukturell wesentlich elaborierterer Modelle) stützen das "hoffnungsvolle" Argument, dass durch Wegfall aller Migrationshemmnisse die globale Wirtschaftsleistung (gemessen am Welt BIP) sich schlagartig verdoppeln würde. Befürworter des "Open Border View", wie etwa Michael Clemens, sprechen in diesem Zusammenhang von "trillion-dollar bills on the sidewalk", die Millionen von Menschen im "armen Süden" durch die rigiden Migrationsschranken des "reichen Nordens" vorenthalten werden (Clemens, 2011). Dieses Argument wiegt umso schwerer als vergleichbare globale Wohlfahrtsgewinne durch Kapitalverkehr und/oder Außenhandel selbst bei Wegfall aller Kapitalverkehrsschranken und Handelshemmnisse zwischen Nord und Süd nicht einmal ansatzweise - auch nicht nach Dekaden - erreichbar sind.

Allerdings schmelzen diese gigantischen Migrationsgewinne zu "funny money peanuts" wenn die Berechnungen unter entsprechender Berücksichtigung der mit Migration üblicherweise verbundenen Kosten (z.B. Reisekosten, Einkommensverlust für Migranten für die Dauer der Migration, Integrationskosten nach erfolgter Migration im Zielland) vorgenommen werden. Selbst bei sehr konservativen Schätzannahmen wird ein Großteil der durch "Open Border" erreichbaren Migrationsgewinne durch wanderungsbedingte Kostenbelastungen wieder zunichte gemacht. Nicht nur die Zielländer profitieren kaum, wenn überhaupt von Zuwanderung, auch für die Migranten selbst halten sich die realen Migrationsgewinne in engen, oft statistisch nicht wahrnehmbaren Grenzen. Dieser ernüchternde Befund wird von der überwiegenden Mehrzahl der Migrationsforscher geteilt (Borjas, 2014).

Animal rationale

Die explizite Berücksichtigung von migrationsbedingten Kosten bringt das Referenzmodell der Migrationsökonomie in noch stärkere Übereinstimmung mit der aktuellen Massenwanderung nach Europa. Vor allem Transport- und Kommunikationskosten sowie Netzwerkkosten erweisen sich als bestimmend für Umfang und Ziel der jüngsten Massenmigration nach Europa.

Transportkosten haben sich innerhalb der beiden letzten Dekaden nicht nur zwischen den europäischen Industriestaaten, sondern auch zwischen den Kontinenten, besonders zwischen Europa und dem unmittelbar angrenzenden Afrika und Asien deutlich, verringert. Dies hat auch die internationale Schlepperei begünstigt und deren Dienstleistungen merklich verbilligt.

Das World Wide Web ist mittlerweile tatsächlich weltweit verfügbar und hat vielen Entwicklungsländern schnellen und kostengünstigen Zugang zu den internationalen Informationsnetzwerken verschafft. Migranten nutzen diese neuen Technologien nicht nur zur Planung, sondern vor allem auch zur Navigation und Kommunikation während der Wanderung. Nach erfolgter Migration verbessern Smartphone und Internet Orientierung und Informationsaustausch im Zielland und ermöglichen eine kostengünstige de-facto Dauerkommunikation mit Familie und/oder Clan im Herkunftsland.

Der erfreuliche Aufstieg einer Reihe von "low income countries¨ zu "lower middle income countries" in den beiden letzten Jahrzehnten hat ebenfalls wesentlich dazu beigetragen, dass migrationshindernde Kostenbarrieren nunmehr leichter überwunden werden können. Die finanzielle Lage einer wachsenden Anzahl von Menschen in diesen Ländern hat sich soweit verbessert, dass sie ihre lang gehegten Migrationspläne nunmehr auch in die Tat umsetzen können (Collier, 2007).

Migrationsforscher sehen in dieser Entwicklung eine Tendenz zu einer zunehmend ökonomisch-rationalen Fundierung der Süd-Nord-Wanderung. Familien und Clans in Entwicklungsländern, die sich erfolgreich aus der Armutsfalle befreien konnten, verhalten sich bei Migrationsentscheidungen zunehmend wie strategische (Direkt-)Investoren. Sie treffen ihre Entscheidung, ob und wie viele ihrer Angehörigen die Migration z.B. nach Europa ermöglicht bzw. vorfinanziert werden kann/soll, nach Maßgabe der zu erwartenden Erträge und Kosten für Familie und/oder Clan. Diese profitieren im Falle einer erfolgreichen Migration eines ihrer Angehörigen vor allem durch Rimessen (Geldüberweisungen von Migranten an ihre Angehörigen im Herkunftsland) oder durch Erleichterungen bei Nachfolgemigrationen (z.B. im Wege der Familienzusammenführung).

Diaspora

Einer der bestimmenden Faktoren, die über Erfolg oder Misserfolg einer Migration entscheiden, sind Netzwerke bzw. Netzwerkkosten im Zielland. Dichte und Größe von migrationsbezogenen Netzwerken entscheiden oftmals darüber, ob und wie rasch Migranten Arbeit und Beschäftigung im Zielland finden.

Von großen ethnischen und/oder religiösen Diasporas geht daher die größte Anziehungskraft auf Migranten aus. Die Entstehung von Diasporas in Zielländern hängt eng mit historischer Arbeitsimmigration, krisenbedingten Massenfluchtbewegungen in der Vergangenheit und/oder mit einem historischen Naheverhältnis zwischen Ziel- und Herkunftsland zusammen.

Migranten wählen bevorzugt jenes hochentwickelte Industrieland als Zielland, das eine für sie vorteilhafte Diaspora aufweist. Je dichter und größer die Diaspora ist, umso geringer sind die individuellen Netzwerkkosten für Migranten. Arbeits- und Wohnungssuche und selbst Familienzusammenführung werden durch Rückhalt und Beistand einer ethnischen und/oder religiösen Diaspora wesentlich erleichtert und beschleunigt. Migranten können damit den Reallohnvorteil des Gastlandes nutzen, ohne gleichzeitig die hohen individuellen Kosten, die mit Integration in die Mehrheitsgesellschaft des Ziellandes verbunden sind, in Kauf nehmen zu müssen.

Integration bedeutet in der Regel vor allem Wechsel der kulturellen Identität. Der Verlust des alten und der Erwerb eines neuen kulturellen Bezugssystems sind jedoch für Migranten, die diesen Wechsel vollziehen bzw. in Gang setzen, mit hohen individuellen Kosten belastet. Sie entfremden sich dadurch von ihrer Diaspora und verlieren damit ihr wichtiges Bezugssystem im Zielland. Mit einem Wechsel der kulturellen Identität ist zumeist auch ein Bindungsverlust zu den Angehörigen, der Familie oder dem Clan im Herkunftsland verbunden. Verlust der Bindung zum Herkunftsland hat u. a. die Konsequenz, dass Rimessen versiegen bzw. die Bereitschaft von Migranten zur finanziellen Unterstützung der Angehörigen im Herkunftsland sinkt. Auf Migranten lastet daher auch Druck aus ihren Herkunftsländern, ihre ursprüngliche kulturelle Zugehörigkeit nicht aufzugeben bzw. ihre Diasporabindung im Zielland nachhaltig aufrecht zu halten.

Verlustkosten übersteigen daher oftmals potentielle Einkommenszuwächse, die Migranten durch Integrationsvorteile kurz- bis mittelfristig erzielen können. Angehörige einer (großen und dichten) Diaspora zeigen daher vor allem wegen dieser hohen Opportunitätskosten bzw. dem Missverhältnis zwischen individuellen Integrationskosten und Integrationsnutzen oft keine oder nur sehr geringe Bereitschaft zum kulturellen Identitätswechsel und damit zur Integration in die Mehrheitsgesellschaft.

Die geringen Integrationsgewinne – zumindest auf mittlere Sicht – für die Mehrheitsgesellschaft erweisen sich ebenfalls oft als politische Barriere für Finanzierung und Umsetzung von nachhaltigen öffentlichen Integrationsprogrammen. "Nicht-Integration" kann damit zur dominanten Strategie für Mehrheitsgesellschaft und Migranten aufsteigen und sich zu einem inferioren Gleichgewicht verfestigen.

Mythen und Trugschlüsse

Die gesamtwirtschaftlich nachteiligen Implikationen des Standardmodells werden häufig der statischen Natur des Modells angelastet. Migration wäre ein dynamischer Vorgang und erfordere daher einen langfristig angelegten Forschungsansatz. Migration wird häufig mit unterstützenden, positiven Wirkungen auf langfristiges Wachstum und, noch häufiger, mit nachhaltiger Sicherung der öffentlichen Sozialsysteme in den Zielländern in Verbindung gebracht.

Wachstumsmythos

Die führenden Wachstumstheorien (neoklassische und endogene Wachstumstheorie) weisen Migration keine nachhaltige wachstumsfördernde Wirkung zu (Bodvarsson-Van den Berg, 2013). Kulturelle Vielfalt und/oder gesteigertes Bevölkerungs- und Kapitalwachstum, insbesondere durch Migration, haben sich auch empirisch – zumindest bisher – als nicht nachhaltig innovationsstärkend erwiesen. Theoretische und empirische Untersuchungen belegen hingegen die zentrale Bedeutung von "typisch westlichen Institutionen" (Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung, liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sozialer Zusammenhalt, individuelle Freiheits- und Grundrechte etc.) für die nachhaltig hohe und wachstumsfördernde Innovationstätigkeit in den hochentwickelten Ländern (Acemoglu, 2009, Acemoglu-Robinson, 2012).

Der "typisch westliche" Institutionen- und Wertekanon wird allgemein zum unabdingbaren Kern des europäischen Kulturerbes gezählt. Er ist zentraler Teil des Selbstverständnisses Europas und seiner Geschichte. Massenflucht nach Europa kann demnach nur nachhaltig wachstumsfördernd wirken, wenn dadurch die institutionellen, und damit auch ökonomischen Grundlagen Europas gestärkt, zumindest jedoch nicht geschwächt werden.

Unkontrolliertes Wachstum von Diasporas bzw. die Herausbildung von Parallelgesellschaften mit anti-westlicher Wertorientierung innerhalb der Grenzen von Europa würden nicht nur die ökonomischen Grundlagen des Kontinents aushöhlen, sondern auch die Europäische Union und seine Mitgliedsländer politisch nachhaltig destabilisieren. Die Gefährdung des sozialen und politischen Zusammenhalts in der EU bzw. in den einzelnen Mitgliedsländern durch kulturelle Gegnerschaft und/oder ethnisch-religiös motivierte Konflikte zwischen Mehrheitsbevölkerung und Parallelgesellschaften mit Migrationshintergrund wird daher von vielen Migrationsforschern als die größte Bedrohung für Wachstum und Prosperität, die von der gegenwärtigen und zukünftigen Massenmigration nach Europa ausgeht, angesehen (Collier, 2013).

Verjüngungstrugschluss

Die Erwartung, dass die zunehmende Vergreisung der europäischen Bevölkerung und deren soziale und ökonomische Folgen durch Zuwanderung jüngerer Menschen verhindert werden kann, beruht hingegen auf einem simplen Trugschluss, dem nicht nur Politiker, sondern häufig auch Ökonomen (allerdings selten Migrationsökonomen) aufsitzen.

Die Alterslastigkeit einer Gesellschaft kann nur temporär (in der Regel für die Dauer einer Generation), nicht aber nachhaltig durch Zuzug junger Migranten eingedämmt werden. Der Grund dafür ist sehr einfach: Auch junge Migranten werden alt und deren Nachkommen übernehmen – zumeist aus Sachzwängen - das Reproduktionsverhalten der Mehrheitsgesellschaft. Spätestens dann befindet sich die Altersstruktur einer Gesellschaft, mit nunmehr migrationsbedingt höherer Bevölkerungszahl wieder im status quo ante migrationem (sieht man von der stetig steigenden Lebenserwartung ab). Eine neuerliche Korrektur der Altersstruktur durch Zuwanderung erfordert nunmehr einen neuerlichen Zuzug an jungen Migranten, der jedoch die Kohortengröße vor einer Generation zahlenmäßig übersteigen muss. Daraus folgt (logisch) zwingend, dass durch Einwanderung allein einer Überalterung der Bevölkerung dauerhaft nur durch stetig steigende Einwanderung entgegengewirkt werden kann. Finanzierungssicherung von sozialen Altersversorgungssystemen durch Zuwanderung schaut nicht nur aus wie ein Pyramiden-  oder Ponzispiel, es ist eines.

Durch stilisierte demographische Berechnungen wird die Größenordnung dieses weitverbreiteten Trugschlusses sichtbar. Die Stabilisierung des Altenquotienten in Europa auf den Stand des Jahres 2000 würde einen Netto-Zustrom an Einwanderern von jährlich (!) 8,6 Mio. bis 2025 und weiteren 18,4 Mio. jährlich (!) von 2025 bis 2050 erfordern (Hatton-Williamson, 2008). Zuwanderungsströme dieser Größenordnung liegen um ein zweistellig Vielfaches (!) über jenem der gegenwärtigen Fluchtbewegung vom Nahen und Mittleren Osten bzw. Nordafrika nach Europa.

Viertel- und Halblösungen

Grundsätzlich könnten, vor allem durch mäßige legale Migration verursachte, negative Wohlfahrtseffekte durch transferpolitische Maßnahmen neutralisiert werden. Dazu müssten die Migrationsgewinne ausreichend hoch sein, um den Migrationsverlierern ihre Verluste abgelten zu können. Bei Massenmigration muss wohl davon ausgegangen werden, dass die Gewinne die Verluste deutlich unterschreiten.

Darüber hinaus setzt eine hinreichend korrekte Bemessung von Kompensationszahlungen voraus, dass Gewinner (Kapitaleigner im Zielland, Migranten) und ihre migrationsbedingten Gewinne sowie Verlierer (minder qualifizierte Arbeitnehmer im Zielland) und ihre migrationsverursachten Verluste eindeutig identifiziert bzw. berechnet werden können. Dieses theoretische Erfordernis entzieht sich allerdings einer hinreichenden Operationalisierung und ist daher für eine wirtschaftspolitische Umsetzung sehr schlecht geeignet. Kompensationstransfers als Steuerungs- und Lenkungsinstrument in der Migrationspolitik werden daher in keinem Zielland ernsthaft in Erwägung gezogen.

Die Lasten durch Migration werden in den Zielländern, von privaten Hilfseinrichtungen abgesehen, ausnahmslos von den öffentlichen Sozialbudgets geschultert. Deren notorische Unterfinanzierung hat zur Folge, dass Migrationsverluste in den Zielländern zu einem erheblichen Teil von den Migrationsverlierern selbst - und den sozial Schwachen - durch Kürzungen von Sozialleistungen getragen werden.

Solidarische Lösungen sind ökonomisch und gesellschaftlich inferioren Lösungen wie z.B. Sozialabbau durch Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts fast immer vorzuziehen. Die Verteilung der Migrationskosten auf alle gesellschaftlichen Gruppen nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen und sozialen Leistungsfähigkeit stößt jedoch in den Zielländern zumeist auf großen politischen Widerstand, gerade weil von Migration eine sozial desintegrierende Wirkung ausgeht. Zuwanderung schwächt den sozialen Zusammenhalt in der Mehrheitsgesellschaft durch Solidaritätsverweigerung der Leistungsträger (Collier, 2013).

Lösung?

Migration wird vielfach als "imperialism in reverse" empfunden. Der Vergleich mag unangemessen sein, er weist jedoch den Weg zu einer, wenn nicht der einzigen, effizienten Lösung des globalen Migrationsproblems. Die Migrationsdynamik der letzten Dekaden verbindet mit dem wirtschaftlichen Imperialismus der vergangenen Jahrhunderte die Bereitschaft von Menschen, um des ökonomischen Vorteils willen, fallweise dauerhafte Ortswechsel über weite Strecken auf sich zu nehmen. Die aufstrebenden Industrieländer des 19. Jahrhunderts benötigten zur Steigerung ihrer Produktivität Rohstoffquellen und Absatzmärkte. Diese fanden sie in Afrika, Asien und Südamerika. Wirtschaftlicher Imperialismus und Kolonialismus hatten zur Zielsetzung, beides zu sichern. Migranten aus den aufstrebenden Entwicklungsländern des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts benötigen zur Steigerung ihrer Produktivität vor allem eins: einen wohl organisierten, sozialen, produktivitätsfördernden, nicht-repressiven und nicht-ausbeuterischen (Rechts-)Staat. Den finden sie nicht in ihren Heimatländern, sondern fast ausschließlich in den westlichen Industrieländern.

Die Migrationsbewegung von "Süden" nach "Norden" ist daher vorwiegend dem Bedürfnis der Menschen im "Süden" geschuldet, den ökonomischen Beschränkungen ihrer "failed states" zu entkommen. Migranten sind auf der Suche nach "functioning states", die ihnen ökonomischen Wohlstand ermöglichen.

Aufbau und Sicherung von "functioning states" erfordern die nachhaltige Bereitschaft zum politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung sowie von den politischen und ökonomischen Eliten und erstrecken sich oft über mehrere Jahrzehnte, nicht selten sogar über Jahrhunderte (Acemoglu - Robinson, 2012). Migration führt zum "functioning state" ohne dass dieser gesellschaftlich sehr anspruchsvolle und oft sehr langwierige und mühsame Prozess vollzogen werden muss. Migranten wählen den, in der Regel auch mühsamen, aber doch wesentlich schnelleren Abkürzungsweg und wandern zu einem bereits bestehenden "functioning state".

Paul Romer, einer der führenden Wachstumsökonomen und Begründer der endogenen Wachstumstheorie, hat vor einigen Jahren ein Projekt namens "Charter City" ins Leben gerufen, das zur Zielsetzung hat, Migranten (und ihren Zielländern) diesen "Shortcut" zu ersparen und ihnen trotzdem zu den ökonomischen Vorteilen des "functioning state" zu verhelfen. Nach Romers Vorstellungen soll dies durch einen "Institutionentransfer" von Nord nach Süd erreicht werden, der so umfassend ist, dass sich ein massiver "Personentransfer" von Süd nach Nord erübrigt. Sein Modell hat Hongkong zum historischen Vorbild. Die Gründung von Charter Cities unter der Verwaltungshoheit von Industrieländern (z.B. der Europäischen Union) in Entwicklungsländern soll wie ein Start-Up funktionieren und hätte den Vorteil, dass die Zielländer von der Last der unkontrollierten Immigration verschont blieben, ohne Migranten vorzuenthalten, was sie so sehnlich anstreben. Romers Projekt verspricht damit nichts Geringeres als eine Pareto-effiziente Lösung für das Migrationsproblem.

So richtig abheben will das Projekt bislang allerdings nicht. Kritiker werfen Romer Imperialismus (!) vor. Er wolle die Entwicklungsländer kolonialisieren (!). Romers Imperialismus durch "Institutionentransfer" hätte jedenfalls im Gegensatz zum "imperialism in reverse" durch Migration den Vorteil, dass beim Versuch, die Reallohnlücke zwischen Nord und Süd mit den Mitteln der internationalen Politik zu schließen, zumindest "theoretisch" niemand auf der Strecke bleibt. Das sollte reichen, um Romers Charter City Projekt nicht nur mediales Interesse und öffentliche Aufmerksamkeit, sondern auch sehr offene Ohren – vor allem in den Kapitalen in Europa, im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika – zu wünschen.

Acemoglu, D., Introduction to Modern Economic Growth, Princeton University Press, 2009.

Acemoglu, D., Robinson, J. A., Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity and Poverty, Crown Business, 2012.

Bodvarsson, Ö.B., Van den Berg, H., The Economics of Immigration: Theory and Policy, Second Edition, Springer, 2013.

Borjas, G. J., Immigration Economics, Harvard University Press, 2014.

Clemens, M., Economics and Emigration: Trillion-Dollar Bills on the Sidewalk?, Journal of Economic Perspectives, 2011, 25(3).

Collier, P., The Bottom Billion: Why the Poorest Countries Are Failing and What Can Be Done About It, Oxford University Press, 2007.

Collier, P., Exodus: Immigration and Multiculturalism in the 21st Century, Penguin Books, 2013.

Hatton, T. J., Williamson, J. G., Global Migration and the World Economy: Two Centuries of Policy and Performance, MIT Press, 2008.

©KOF ETH Zürich, 30. Mär. 2016

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