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Co-voting im digitalen Zeitalter

Summary:
Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Entsprechend sollten auch bestehende Abstimmungsverfahren immer wieder neu überdacht werden. Dieser Beitrag präsentiert einen Vorschlag, wie Stimmbürger via Co-voting in wichtige Entscheidungen eingebunden werden könnten. Die politische Situation in Europa verunsichert. Neue Herausforderungen gehören – zumindest scheinbar – zum Alltag, und welche Lösungen sich in Bezug auf die wichtigsten nationalen und globalen Fragen als umsetzbar, effizient und nachhaltig erweisen werden, ist unklar. Ausgerechnet im Sommer 2016 neue Abstimmungsverfahren erproben zu wollen, wirkt auf den ersten Blick widersinnig – Ist jetzt wirklich die Zeit für Demokratie-Experimente? Doch gerade jetzt sollten wir die Chance nutzen, die Demokratie zu stärken und neue Formen für repräsentative Demokratien entwickeln und ausprobieren. Wir sollten uns dabei von der Vorstellung lösen, dass die Entscheidungsverfahren in direkten und repräsentativen Demokratien definitiv festgelegt sind. 1. Das Problem Um ihre Politik optimal umzusetzen, braucht jede Regierung Handlungsfreiheit innerhalb des Gesetzes, und braucht – ist rasches Handeln vonnöten – Ellbogenfreiheit und Rückendeckung durch die Wählenden. Zusammengefasst benötigen die Amtsträger die Unterstützung der Gesellschaft.

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Hans Gersbach considers the following as important:

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Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Entsprechend sollten auch bestehende Abstimmungsverfahren immer wieder neu überdacht werden. Dieser Beitrag präsentiert einen Vorschlag, wie Stimmbürger via Co-voting in wichtige Entscheidungen eingebunden werden könnten.

Die politische Situation in Europa verunsichert. Neue Herausforderungen gehören – zumindest scheinbar – zum Alltag, und welche Lösungen sich in Bezug auf die wichtigsten nationalen und globalen Fragen als umsetzbar, effizient und nachhaltig erweisen werden, ist unklar.

Ausgerechnet im Sommer 2016 neue Abstimmungsverfahren erproben zu wollen, wirkt auf den ersten Blick widersinnig – Ist jetzt wirklich die Zeit für Demokratie-Experimente? Doch gerade jetzt sollten wir die Chance nutzen, die Demokratie zu stärken und neue Formen für repräsentative Demokratien entwickeln und ausprobieren. Wir sollten uns dabei von der Vorstellung lösen, dass die Entscheidungsverfahren in direkten und repräsentativen Demokratien definitiv festgelegt sind.

1. Das Problem

Um ihre Politik optimal umzusetzen, braucht jede Regierung Handlungsfreiheit innerhalb des Gesetzes, und braucht – ist rasches Handeln vonnöten – Ellbogenfreiheit und Rückendeckung durch die Wählenden. Zusammengefasst benötigen die Amtsträger die Unterstützung der Gesellschaft. Diese Unterstützung ist vielfältig, von blindem Vertrauen darauf, dass Amtsträger das richtige tun, über den Verzicht auf hinderliche Interventionen bis zu aktiver Unterstützung ist alles möglich – doch nur, wenn die Gesellschaft der Regierung auch vertraut, insbesondere in schwierigen Zeiten.

Unter den Bürgern sind verschiedene Bedürfnisse auszumachen. Wichtig sind zeitnahe, vollständige Information über Handlungen der Regierung, die Möglichkeit, sich bei den Amtsträgern Gehör zu verschaffen, und Mitspracherecht bei weitreichenden Entscheidungen des Staates.

2. Die Unterstützung durch Mehrheit und Minderheit

Koalitionsregierungen haben den Vorteil, dass sie unterschiedliche politische Lager repräsentieren. Wer "seine" Partei in die Regierung gewählt hat, fühlt sich erst einmal wohlvertreten. Amtsträger folgen meist ihrer Parteilinie, möglicherweise etwas gemässigter , und ihre Entscheidungen sind vorhersehbar. Doch was passiert in einer Situation, die im Wahlkampf nicht zur Sprache kam? Wählende könnten plötzlich mit einzelnen Entscheidungen ihrer Wunschregierung unzufrieden sein.

Die unterlegene Minderheit fühlt sich nie durch die Regierung vertreten. In unsicheren Zeit ist es für sie noch schwerer als sonst, die Regierungsarbeit mitzutragen, bzw. nicht behindern zu wollen.

In repräsentativen Demokratien haben Mehrheit und Minderheit ihre Entscheidungskompetenz mit dem Wahlzettel abgegeben, bis zur nächsten Wahl – das ist möglicherweise zu lang. Zusätzlich zu den punktuellen Willensäusserungen bei Wahlen könnte es deshalb für eine Regierung nützlich sein, die Wählenden auch bei wichtigen Fragen mitentscheiden zu lassen.

3. Umfragen und Referenda vs. partnerschaftliche Entscheidungen

Je enger die Gesellschaft in die Entscheidungen der Regierung eingebunden wird, desto leichter trägt sie diese mit. Meinungsumfragen loten zwar die Meinung der Gesellschaft aus, doch Meinung ist nicht gleich Stimmrecht. Referenda können den Bürgern tatsächlich Entscheidungsmacht verleihen, doch das ist das Terrain der direkten Demokratie. Hier loten wir aus, wie ein Parlament und seine Bürger partnerschaftliche Entscheidungen treffen können.

Die Stimmbürger an wichtigen Entscheidungen teilhaben zu lassen, könnte einer Regierung doppelt nützlich sein: Wer mitentscheidet, ist mitverantwortlich und erträgt allfällige Konsequenzen williger. Wir schlagen ein Spezialverfahren vor, welches die Gesellschaft bei wichtigen Fragen mitentscheiden lässt. Wir wollen kein Land vorübergehend zur direkten Demokratie machen und jedem Wählenden eine Stimme geben, doch man könnte eine repräsentative Teilmenge der Gesellschaft definieren, die in einer bestimmten Frage mitentscheiden darf – eine Art "Stimme des Volkes".

Nehmen wir als Beispiel die Frage, ob ein Land aus der Europäischen Union austreten soll oder nicht. Dafür schlagen wir ein sogenanntes "Doppelabstimmungsverfahren" vor: Wählende und Parlament sollen partnerschaftlich entscheiden. Einerseits soll eine repräsentative Gruppe von Stimmbürgern, sogenannte "Co-Voter", abstimmen. Parallel dazu stimmen die gewählten Politiker ab. Die Resultate beider Abstimmungen werden nach einem vordefinierten Gewichtungs-Schlüssel zusammengezählt. Dieses Resultat ergibt die Entscheidung, die implementiert wird.

Beide Abstimmungen gleich zu gewichten, wäre der einfachste Fall, doch alle Gewichtungsvarianten sind möglich.

Tabelle 1: Gewichtung 50% zu 50%

Stimmende

Dafür

Dagegen

Co-Voter

40.00%

60.00%

Parlamentarier

70.00%

30.00%

Entscheidung

55.00%

45.00%

4. Auswahl der Co-Voter und Ablauf

Wie definiert man die repräsentative Teilmenge der Gesellschaft? Ein Zufallsgenerator könnte z.B. 100'000, 200'000, 500'000 Personen oder mehr auswählen, je nach Grösse des Landes. Diesen würde das einmalige Recht eingeräumt, abzustimmen , und als Entscheidungsgrundlage würde ihnen dieselbe Dokumentation zugestellt wie den Parlamentariern.

Ablaufen könnte das Spezialverfahren auf zwei verschiedene Arten. Idealerweise finden beide Abstimmungen gleichzeitig statt und es wird elektronisch abgestimmt. Das verhindert gegenseitige Beeinflussung der beiden Gruppen und hätte den grossen Vorteil, dass Co-Voter nicht erkennbar sind, wenn sie nicht wollen.

Vielleicht ist diese Beeinflussung jedoch erwünscht – sofern die Co-Voter zuerst abstimmen und das Resultat vor der zweiten Abstimmung publiziert wird. Stellen wir uns vor, eine bestimmte Parlamentariergruppe will über den oben erwähnten Ausstieg abstimmen, weil sie erwarten kann, im Parlament eine Mehrheit zu finden. Wie diese Entscheidung in der Gesellschaft ankommen wird, wenn sie weitreichende, potentiell unangenehme Folgen hat, kann diese Gruppe nicht abschätzen. Erst wenn die Konsequenzen dieser Entscheidung – Kosten jeglicher Art – sichtbar werden, zeigt sich, ob die Bürger damit zufrieden sind. Wird der Entscheid nur widerwillig mitgetragen, werden die Amtsträger möglicherweise abgewählt. Deshalb ist das Wissen um den Volkswillen so wertvoll. Lässt man nun die Co-Voter in einer Vorrunde abstimmen, so könnte sogar noch auf den Gesamt-Entscheid verzichtet werden. Wird der Vorschlag zurückgezogen, fallen nur die Kosten der Vorrunde an und es muss keine Entscheidung umgesetzt werden.

5. Bedenken

Die Stimmbürger an wichtigen Entscheidungen teilhaben zu lassen, könnte einer Regierung doppelt nützlich sein: Wer mitentscheidet, ist mitverantwortlich und erträgt allfällige Konsequenzen williger.

Natürlich werden sofort Bedenken gegenüber einer solchen neuen Form der Demokratie vorgebracht werden. Diese Bedenken wollen wir zuerst angehen und analysieren, inwiefern sie berechtigt sind und aufgefangen werden können. Es mag zum Beispiel für Parlamentarier schwer vorstellbar sein, ein Laiengremium als Entscheidungspartner zu akzeptieren. Zudem muss die Zufallsauswahl sicherstellen, dass die Gruppe der Co-Voter ein gutes Abbild der Wahlberechtigten darstellt und als legitime Stimme des Volkes wahrgenommen wird. Doch es lohnt sich, solch neue Formen der Demokratie auszuprobieren.

©KOF ETH Zürich, 7. Sep. 2016

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