Monday , May 6 2024
Home / Ökonomenstimme / Bedürfnis statt Nachfrage: Die Anti-Bullshit-Formel

Bedürfnis statt Nachfrage: Die Anti-Bullshit-Formel

Summary:
Kürzlich hat auf der Ökonomenstimme Rüdiger Bachmann erläutert, wie ein VWL-Studium u.a. das "Bewusstsein für die systemische Interdependenz ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse" schärfe. Dieser Beitrag zweifelt daran, dass ein VWL-Studium dazu in der Lage ist. Vielmehr müsse man sich erst über die Schnittstellen zwischen Markt und Gesellschaft Klarheit verschaffen. In seinem Beitrag "das Antibullshit-Studium" hat Rüdiger Bachmann 10 Gründe für ein VWL-Studium genannt. Darunter auch diesen: "Ein VWL Studium lehrt ein Bewusstsein für die systemische Interdependenz ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse." Falls so etwas tatsächlich gelehrt wird, findet es keinen Niederschlag in der aktuellen ökonomischen und wirtschaftspolitischen Debatte. Diese konzentriert sich fast ausschliesslich auf das Funktionieren der Märkte. Insofern dabei gesellschaftliche Prozesse – wie etwa Demokratie - vorkommen, geht es meist bloss um de Frage, wie man diese markttauglich machen kann. Doch bevor man darüber sinnvolle Aussagen machen kann, müsste man erst einmal systematisch über Schnittstellen und Interdependenzen zwischen Markt und Gesellschaft nachdenken. Die Stichworte heissen Bedürfnis, Nachfrage und Mengenlehre: Wirtschaftliche Tätigkeiten dienen der Befriedigung von Bedürfnissen. Mit marktwirtschaftlichen Tätigkeiten wird Nachfrage bedient.

Topics:
Werner Vontobel considers the following as important:

This could be interesting, too:

Investec writes Migration between Swiss cantons – gainers and losers

Cash - "Aktuell" | News writes Franken legt zum Euro und Dollar im Wochenvergleich zu

Investec writes Commission wants to postpone pension hike funding question

Alex J. Pollock writes How Does the Federal Reserve Fit into Our Constitutional Order?

Kürzlich hat auf der Ökonomenstimme Rüdiger Bachmann erläutert, wie ein VWL-Studium u.a. das "Bewusstsein für die systemische Interdependenz ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse" schärfe. Dieser Beitrag zweifelt daran, dass ein VWL-Studium dazu in der Lage ist. Vielmehr müsse man sich erst über die Schnittstellen zwischen Markt und Gesellschaft Klarheit verschaffen.

In seinem Beitrag "das Antibullshit-Studium" hat Rüdiger Bachmann 10 Gründe für ein VWL-Studium genannt. Darunter auch diesen: "Ein VWL Studium lehrt ein Bewusstsein für die systemische Interdependenz ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse." Falls so etwas tatsächlich gelehrt wird, findet es keinen Niederschlag in der aktuellen ökonomischen und wirtschaftspolitischen Debatte. Diese konzentriert sich fast ausschliesslich auf das Funktionieren der Märkte. Insofern dabei gesellschaftliche Prozesse – wie etwa Demokratie - vorkommen, geht es meist bloss um de Frage, wie man diese markttauglich machen kann. Doch bevor man darüber sinnvolle Aussagen machen kann, müsste man erst einmal systematisch über Schnittstellen und Interdependenzen zwischen Markt und Gesellschaft nachdenken.

Die Stichworte heissen Bedürfnis, Nachfrage und Mengenlehre: Wirtschaftliche Tätigkeiten dienen der Befriedigung von Bedürfnissen. Mit marktwirtschaftlichen Tätigkeiten wird Nachfrage bedient. Das ist die Teilmenge der  Bedürfnisse, hinter der eine monetäre Nachfrage steckt. Dann gibt es die Differenzmenge der Nachfrage, die nicht von primären Bedürfnisen getrieben, sondern vom Markt "künstlich " geschaffen worden ist.

Damit wirtschaftliche Tätigkeiten in Gang kommen,  muss die Gesellschaft organisiert werden – in Familien, Sippen, Nachbarschaften, Nationen, usw. Unternehmen und Märkte sind nur eine der vielen sozialen Organisationsformen, in denen produktive Leistungen erbracht werden können. Je nach

Die Strukturen sozialen Lebens

Fragestellung kann man diese Organisationsformen unterschiedlich kategorisieren. Der Anthropologe Alan Page Fiske von der University of California hat das Problem aus der Optik der Evolutionstheorie beleuchtet. In seinem 1991 erschienenen Buch "Structures of Social Life" hat er vier elementare Formen der menschlichen Beziehungen unterschieden:

  • Die Gleichberechtigung des Community Sharing CS,
  • die Hierarchie des Authority Ranking AR,
  • die Gegenseitigkeit des Equality Matching EM
  • und die Geldwirtschaft des Market Pricing MP.

Im realen Leben kommen meist Mischformen vor. Familienverbände und Sippen etwa sind eine Mischung von CS und AR. Unternehmen sind nach innen als Hierarchie organisiert, sie treiben ihre Mitarbeiter (auch) mit der intrinsischen Motivation des Community Sharing an und sie verkaufen ihre Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt. Liebe gibt es sowohl im EM- als auch im MP-Modus usw.

Man kann den aktuellen Mix von CS, AR, EM und MP als Zwischenergebnis einer evolutionären Entwicklung betrachten, die der betreffenden Gesellschaft bisher das Überleben gesichert hat, in Zukunft aber auch zum evolutionären Scheitern führen kann. Ökonomie im anthropologischen Sinn hat die Aufgabe, den optimalen oder zumindest annähernd besten Mix zu finden: Welche produktiven Arbeiten sollen wie organisiert werden? Oder konkreter: Wo hat MP komparative Vorteile?

Wer diese Fragen beantworten will, muss auch die Spuren beachten, welche die Evolution der sozialen Beziehungen in der Grosshirnrinde hinterlassen hat. Hier hat die moderne Medizin ökonomisch relevante Erkenntnisse hervorgebracht, wie etwa die des Hirnforschers Matthew D. Liebermann. In seinem Buch "Social" schreibt er: "Unser Hirn wird von Emotionen gesteuert, die mindestens so grundlegend sind, wie physischer Schmerz und Lust. Wir sind auf sozial programmiert. Wir sind getrieben durch den tiefen Wunsch, mit Familie und Freunden sozial verbunden zu sein." Physisches und soziales Leid oder Freude, werden laut Liebermann, von Gehirn und Hormonsystem auf die genau gleiche Art  verarbeitet.

Für uns Ökonomen heisst dies, dass wir nicht nur den Ergebnis- sondern auch den Prozessnutzen in Rechnung stellen müssen. Die Freude am Produkt und Freud und Leid an der produktiven Arbeit. Dieser Nutzen hängt im Wesentlichen davon ab, wie die Arbeit die sozialen Beziehungen gestaltet. Zwar haben Bruno S. Frey und andere, die Unterscheidung zwischen Prozess- und Ergebnisnutzen gemacht, und sogar quantifiziert, doch sie bewegten sich damit bisher auf einen Nebengeleise der Ökonomie.

Wer mit Fiskes sozialer Grammatik sinnvoll Ökonomie betreiben will, braucht einen gemeinsamen Nenner und eine Budgetrestriktion. Bei der traditionellen Ökonomie ist der gemeinsame Nenner das Geld und die Budgetrestriktion ergibt sich aus den Regeln der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Solange wir uns ausschliesslich für das Marktgeschehen MP interessieren, mag das ausreichen.

Die Zeit als Limit

Betrachten wir jedoch alle produktiven Tätigkeiten, so kommen wir mit Geld nicht weiter. Als gemeinsamer Nenner bietet sich hingegen die Zeit an. Alle Formen der sozialen Interaktion beanspruchen dieselbe knappe zeitliche Ressource von 24  Stunden im Tag und rund 80 Jahre im Leben. Die Natur gibt den Takt vor. Nachtruhe, Arbeit, Geselligkeit. Jugend, Partnersuche, Familie gross ziehen, Alter. Die Zeit als gemeinsamer Nenner hat zudem dem Vorteil, dass wir damit die im Geld steckende Illusion des  "Immer Mehr" überwinden. Mehr als 24 Stunden pro Tag sinnvoll zu leben, liegt nicht drin.

Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden kann jedoch kein Masstab für den Nutzen des Produkts sein. Auf der Outputseite gibt es (noch) keinen gemeinsamen Nenner. Später kann man vielleicht Gehirnströme oder Dopaminausschüttungen messen. Doch die Frage nach dem optimalen Mix lässt sich ohnehin nicht mit einem mathematischen Gleichgewichtsmodell lösen. Dieser Versuch ist schon im Teilbereich der Marktwirtschaft grandios gescheitert. Relevanten Einsichten lassen sich aber schon gewinnen, wenn wir versuchen, das Mosaiksteinchen der Marktwirtschaft ins Gesamtbild einfügen und so ein Gefühl für die Interdependenz entwickeln:

Der Tausch gegen Geld (MP) hat den Vorteil der Effizienz. Er ermöglicht globale Arbeitsteilung, extreme Spezialisierung hohe Skalenerträge. Die dadurch ermöglichte gewaltige Steigerung der Produktivität hat im ausklingenden 18. Jahrhundert auch Moralphilosophen in ihren Bann gezogen und die Ökonomie umgekrempelt. Bei Aristoteles war diese noch eine Unterabteilung der Philosophie und der Staatskunde. Die zentrale Produktionsgemeinschaft war die Hausgemeinschaft, der Oikos, und das Ziel der Veranstaltung war das gute Leben. Mit Adam Smith, meinte der Zürcher Wirtschaftsethiker Hans Ruh in seiner Abschiedsvorlesung, "reduziert sich die Ökonomie zum Inbegriff der auf dem Markt sich vollziehenden Regelungen von Angebot und Nachfrage."

Doch seit Adam Smith hat sich die Welt verändert. Was man damals in 70 Stunden pro Woche erarbeiten musste, kann man heute in einen Vormittag erledigen. Der Tag hat aber noch immer  24 Stunden. Weitere Produktivitätssteigerungen bringen Arbeitslosigkeit statt Freizeit. Der Grenznutzen des zusätzlichen Konsums sinkt gegen Null. Dafür steigt der Stress bei der Arbeit und bläht Big-Pharma auf. Wirtschaftswachstum dient nicht mehr dem guten Leben, sondern der Vermeidung von Arbeitslosigkeit.

Die Märkte brechen weg

Zudem brechen der Wettbewerbswirtschaft MP die Märkte weg. Der reine  Markt eignet sich nur für das schwindende Segment derjenigen privat konsumierbare Güter, die aus den laufenden Einnahmen finanziert werden können. Öffentliche und halbprivate Güter wie Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge werden mit Vorteil kollektiv finanziert. Das sind aber genau die Sektoren, die in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen und Arbeitsplätze geschaffen haben. Der Rest schrumpft.

Anders als bei der Schwerindustrie und Massenproduktion ist im wachsenden Segment der persönlichen Dienstleistungen persönliche und geographische Nähe wichtig. Das gilt auch für 3-D-Printing, Urban Gardening oder dezentrale Energiegewinnung mit Solaranlagen. Diese Nähe macht diese Tätigkeiten geeignet für  Equality Matching und vor allem durch das Community Sharing, das mit seinen hohen Prozessnutzen punktet. Die Freude an der Arbeit an gemeinsamen Projekten ist übrigens auch der Kitt der kleine Gruppen von Spezialisten über alle Kontinente hinweg zusammenhält. Diese immer wichtiger werdende 2P2- Community ist ein Paradebeispiel für Community Sharing.

Gemessen am Zeitbudget ist ME heute bereits wieder das Minderheitsprogramm, das es vor der Industrialisierung war. Die Grössenordnungen: 2012 wurden gemäss Schweizer Bundesamt für Statistik 7,8 Milliarden Stunden bezahlte und  8,7 Milliarden unbezahlte Arbeit geleistet. Rechnet man  die für das gute Leben sehr wichtigen unterhaltenden Tätigkeiten (Jassabend, Lagerfeuer, Theater, Kino) dazu, dürfte das Verhältnis unbezahlt/bezahlt nahe bei 2 zu 1 liegen. Zudem dürfte rund die Hälfte der bezahlten Arbeit kollektiv bzw. durch den Staat finanziert sein. Unter dem Strich dürfte der Anteil von MP an der produktiven Zeit etwa bei 20 Prozent liegen.

Dennoch bestimmt der Markt unseren Leben mehr denn je. Unter dem Diktat der "flexiblen Arbeitsmärke" diktiert das schwindende bisschen bezahlte Arbeit, unseren Kalender und unsere wechselnden Wohnorte. Die "Strukturreformen" der EU sind der Versuch, die Gesellschaft marktkonform zu organisieren. Angela Merkel hat 2011 den Begriff der "markttauglichen Demokratie geprägt – das damalige Unwort des Jahres. Indes hat sich Leben hat sich weiter aus dem Blickfeld der Wirtschaftspolitiker entfernt. Sogar das Interesse am abstrakten BIP  reduziert sich inzwischen auf dessen vierte Ableitung: Wie reagieren die die Kapitalmärkte auf die erwartete Veränderung der Wachstumsraten des BIP im fernen China?   

Wie kommen wir aus dieser evolutionären Sackgasse hinaus? In dem wir endlich wieder ein Bewusstsein für die systemische Interdependenz ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse entwickeln!

Alan Page Fiske, The Four Elementary Forms of Sociality,Psychological Review 1992

Michael Bowens "Sauver le Monde" Eidtions  LLL 2015, der Gründer der P2P-Foundation bezieht sich auf Alan Page Fisk und prophezeit, dass Community Sharing das Market Pricing als dominierendes Modell ablösen wird.

©KOF ETH Zürich, 4. Sep. 2015

Werner Vontobel
Ökonom und Wirtschaftsjournalist

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *