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In Flintbek bei Kiel haben Archäologen im größten steinzeitlichen Friedhof Europas den weltweit ältesten Nachweis für die Nutzung von Rad und Wagen entdeckt. Die norddeutschen Radspuren lösen somit die bislang ältesten Nachweise aus dem Iran ab. Wurde das Rad vielleicht doch nicht im Vorderen Orient, sondern in Europa erfunden?
In der heutigen Zeit ist, dank Verkehrsmitteln wie Flugzeugen oder Autos, kaum ein Ort auf dem Planeten unerreichbar. Dieses Privileg haben wir unseren Vorfahren und einer Reihe ihrer Erfindungen zu verdanken. So gilt die Erfindung des Benz Patent-Motorwagen Nummer 1 im Jahr 1886 als Geburtsstunde des klassischen Verbrenners. Zuvor waren die Menschen für längere und bequemere Reisen auf Kutschen und Pferd angewiesen. Doch auch diese Fortbewegungsmittel gab es nur dank der Erfindung von Rad und Wagen. Doch wann und wo wurden diese erfunden?
Diese Fragen können Archäologen beantworten und bis vor Kurzem deutete ihre Antwort auf den Vorderen Orient. Dies könnte sich jedoch mit den neuesten Entdeckungen in Flintbek bei Kiel (Norddeutschland) ändern. Hier befindet sich das größte Megalith-Gräberfeld Europas und nun auch der weltweit älteste Nachweis für die Nutzung von Rad und Wagen. Der Datierung zufolge stammen die Wagenspuren von 3400 vor Christus, etwa ein Jahrhundert früher als im Orient.
Die wissenschaftliche Dokumentation dieses Befundes ist in dem kürzlich erschienenen Buch „Das Neolithikum in Flintbek. Eine feinchronologische Studie zur Besiedlungsgeschichte anhand von Gräbern“ von Prof. Doris Mischka nachzulesen.
Entdeckung bringt Rad ins Rollen
Die Wagenspuren befinden sich inmitten des Flintbeker Gräberfeldes, auf dem sich dutzende Grabmonumente aus der Jungsteinzeit und Bronzezeit aneinanderreihen. Betrachtet man den Friedhof aus der Vogelperspektive, fällt sofort die sichelförmige Anordnung der Gräber auf, was dem Areal den Namen „Flintbeker Sichel“ gab. Insgesamt besteht das Gräberfeld aus sieben Großsteingräbern und 14 Grabhügeln.
Dazwischen entdeckten die Archäologen während Ausgrabungen zwei zunächst unscheinbare, braune Linien im Boden. Die Breite dieser Verfärbungen stimmte dabei genau mit der Breite jungsteinzeitlicher Holzräder überein, die unter anderem in den Mooren Norddeutschlands gefunden wurden. Weiterhin entsprachen die Abstände der beiden Rillen zueinander genau der Breite jungsteinzeitlicher Wagenachsen. Für die Wissenschaftler ein eindeutiger Beweis: Für den Bau der Gräber kam die damals brandneue Erfindung von Rad und Wagen zum Einsatz.
Die Radspuren in Flintbek sind mit einem Alter von 5.400 Jahren der weltweit früheste Nachweis dieser Innovation. Als bisheriger Geburtsort dieser Erfindung galt der Südwestiran im ausgehenden vierten Jahrtausend vor Christus. Archäologen nahmen daher bislang an, dass sich die Erfindung dann innerhalb weniger Jahrhunderte bis nach Europa verbreiteten. Dies bezeugen die ältesten hölzernen Radfunde aus Pfahlbausiedlungen in Slowenien (3350-3100 v. Chr.) und dem süddeutschen „Olzreuter Ried“ (2900-2897 v. Chr.).
Der Kieler Archäologe Prof. Johannes Müller ist beeindruckt von diesem Ergebnis. „Es ist eindeutig, dass die Menschen in Mitteleuropa ebenso früh wie jene des Nahen Osten hochtechnologisiert waren“, erklärt er in einer Pressemitteilung. „Das Ergebnis rückt Flintbek in das Zentrum einer der entscheidenden Innovationen der Menschheit.“
Flintbeker Sichel im Wandel der Zeit
Die erste Nutzung des Areals als Gräberfeld fällt in die Zeit vor etwa 5.800 Jahren. Zu dieser Zeit erbauten die Menschen zunächst die Großsteingräber (sogenannte Langbetten), die sie durch sukzessive Anbauten stetig vergrößerten. Während der frühen Phase errichteten sie dann die Grabhügel (sogenannte Dolmen) mit kleinen Steinkammern.
Etwa 500 Jahre später (um 3.300 v. Chr.) veränderte sich die Architektur. Die steinzeitlichen Menschen begannen damit, ihre Toten in Ganggräbern zu bestatten. Diese besaßen große Steinkammern mit ebenfalls aus Stein gebauten Zugängen und dienten fortan für viele Jahrhunderte als kollektive Bestattungsorte. Prof. Doris Mischka nimmt an, dass hier Familien aus verschiedenen Gebieten jeweils ihren eigenen Begräbnisplatz hatten. Die Flintbeker Sichel wäre somit das rituelle Zentrum für die ganze Region
.Die Forschungen in Flintbek werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Projektes „Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung. Zur Entstehung und Entwicklung neolithischer Großbauten und erster komplexer Gesellschaften im nördlichen Mitteleuropa“ gefördert.