Nicht nur COVID-19, auch tiefe Wirtschaftskrisen sorgen für grosses menschliches Leid. Es braucht deshalb eine klare Krisenbewältigungsstrategie, die alle Konsequenzen für Gesundheit, Wirtschaft und Wohlfahrt miteinbezieht, nicht nur die gut sichtbaren. «Menschenleben sind wichtiger als die Wirtschaft». Solche und ähnliche Aussagen sind heute an der Tagesordnung. «Wir Menschen» hier und «die Wirtschaft» dort gibt es nicht. «Die Wirtschaft» sind wir alle. Sie ist Ausdruck der Frucht unserer Schaffenskraft und unsere Existenzgrundlage. Tiefe Wirtschaftskrisen fügen neben den finanziellen Schäden auch grosses menschliches Leid zu. Dazu gehören Depressionen, Angstzustände, Stress, körperliche Krankheiten, häusliche Gewalt, und anderes mehr. In Wirtschaftskrisen steigt die Mortalität
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Nicht nur COVID-19, auch tiefe Wirtschaftskrisen sorgen für grosses menschliches Leid. Es braucht deshalb eine klare Krisenbewältigungsstrategie, die alle Konsequenzen für Gesundheit, Wirtschaft und Wohlfahrt miteinbezieht, nicht nur die gut sichtbaren.
«Menschenleben sind wichtiger als die Wirtschaft». Solche und ähnliche Aussagen sind heute an der Tagesordnung. «Wir Menschen» hier und «die Wirtschaft» dort gibt es nicht. «Die Wirtschaft» sind wir alle. Sie ist Ausdruck der Frucht unserer Schaffenskraft und unsere Existenzgrundlage. Tiefe Wirtschaftskrisen fügen neben den finanziellen Schäden auch grosses menschliches Leid zu. Dazu gehören Depressionen, Angstzustände, Stress, körperliche Krankheiten, häusliche Gewalt, und anderes mehr. In Wirtschaftskrisen steigt die Mortalität beispielsweise durch eine Erhöhung der Suizidraten und der Sterblichkeit bei schweren Erkrankungen. Diese Auswirkungen nicht in Betracht zu ziehen, ist kurzsichtig und verantwortungslos. Ob wir wollen oder nicht, unsere Handlungen haben Folgen.
Die anstehenden, schwerwiegenden Abwägungen müssen auf Basis unverzerrter Informationen über den Infektionsverlauf und die Letalität im jeweiligen Länderkontext gemacht werden. Diese stehen noch immer aus, weil wir bisher nur jene testen, die Symptome aufweisen. Ernst Fehr hat in der NZZ vom 25. März auf eine einfache und günstige Variante hingewiesen, um die notwendige Information zu beschaffen: die Ziehung einer Zufallsstichprobe. In Österreich wurde am 30. März beschlossen eine solche Stichprobe zu ziehen und auszuwerten. Eine solide Datengrundlage würde helfen, die Risiken für unterschiedliche Gruppen zu verstehen. Damit könnten wir präziser agieren und müssten nicht alle unter Quarantäne stellen. Es gilt, möglichst vielen Menschen ein freieres Leben zu ermöglichen. Das hilft allen, auch jenen in verlängerter Quarantäne.
Einige werden einwenden, dass die wirtschaftlichen Effekte durch die staatlichen finanziellen Überbrückungshilfen aufgefangen würden und alles gar nicht so schlimm sei. Ein Staatswesen kann zwar Einkommensausfälle über einen gewissen Zeitraum überbrücken, aber wirtschaftliche Aktivität nicht einfach ersetzen. Die Unsicherheit über den zeitlichen Verlauf der verfügten Massnahmen lässt die Kosten rasant ansteigen. Je länger der Lockdown anhält, desto unsicherer wird, welche Unternehmen ausharren können. Damit steigen die Liquiditätsanforderungen bei Transaktionen und die Risiken einer schweren Wirtschaftskrise.
Zudem drohen die staatlichen Interventionen einen tiefgreifenden Einfluss auf die Wirtschaftsstrukturen zu haben. Schon jetzt gibt es einen Wettlauf der Interessengruppen um zusätzliche Unterstützung und zusätzlichen Schutz. Das laut hörbare Drängen hat aber einen Vorteil: Die Behörden müssen so die Kosten ihrer Massnahmen viel direkter abwägen. Vielleicht finden wir damit schneller aus der zentralen Verordnungswirtschaft heraus.
Der wichtigste Engpass besteht im Gesundheitswesen. Hier müssen die Kapazitäten weiter ausgebaut werden, um grosse Fallzahlen abdecken zu können. Je grösser die Kapazität, desto höher darf die Verbreitungsgeschwindigkeit ausfallen. Je mehr Menschen die Krankheit durchgestanden haben, desto langsamer verbreitet sich der Virus. Nach jetzigem Wissenstand ist eine temporäre Immunität nach der Krankheit sehr wahrscheinlich.
Ein weitgehender Lockdown ist kaum länger durchzuhalten. Damit wird es zu gezielten Lockerungen kommen müssen. Weil aber eine Impfung in den nächsten Monaten nicht absehbar ist, muss die Verbreitungsgeschwindigkeit unter Kontrolle bleiben. Aktivitäten mit grossem Ansteckungspotenzial fallen daher wohl bis auf Weiteres aus. Wir müssen alle einfachen und günstigen Massnahmen ergreifen, um das Ansteckungsrisiko zu reduzieren, ohne die gesamte Bevölkerung auf lange Zeit einzusperren. Neben den Hygienemassnahmen, sollten, bei hoffentlich bald genügender Kapazität, beispielweise das Tragen von Masken, auch bei nicht perfektem Schutz, oder das breitangelegte Testen, auch bei nicht perfekten Tests, zum neuen Standard gehören. Beides hat Potenzial, die Verbreitungsgeschwindigkeit vergleichsweise günstig zu senken.
Die bisherigen Massnahmen waren hilfreich, um Zeit zur Vorbereitung und Organisation der Bekämpfung zu kaufen. Jetzt brauchen wir eine klare Strategie, die alle Konsequenzen miteinbezieht, nicht nur die gut sichtbaren. Als Gesellschaft haben wir schwerwiegende Abwägungen zu machen. Dazu gehört auch, die äusserst unangenehme Entscheidung darüber, ob wir in «geretteten Leben» oder in «geretteten Lebensjahren» abwägen. Sollten die Fallzahlen die Kapazitäten des Gesundheitswesens dereinst übersteigen, wird diese Frage akut bei der Triage beantwortet werden müssen. Es wäre wünschenswert, diese Entscheidung in einem gesellschaftlichen Prozess zu beantworten und nicht einfach auf das medizinische Personal abzuwälzen. Diese normative Entscheidung hat auch enorme Auswirkungen darauf, wie wir die Folgen unseres gegenwärtigen Handelns bewerten. Solche Entscheide können nicht per Notrecht von nur wenigen Personen gefällt werden. Eine schnelle Rückkehr zu unseren demokratischen Prozessen ist angezeigt.
Der Beitrag ist in leicht abgeänderter Form am 7.4.2020 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
©KOF ETH Zürich, 10. Apr. 2020