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Migration: Gegen das Schubladendenken

Summary:
Das neue Integrationsgesetz verlangt, dass Migranten in der Schweiz Wurzeln schlagen. Für unsere Autoren ist das eine seltsame Idee. Sie fordern ein Umdenken. Stellen wir uns vor, ein und derselbe Beamte wäre für alle Bewilligungen zuständig, die Ausländerinnen und Ausländer betreffen. Vom Ausweis für den anerkannten Flüchtling bis zur Einbürgerung des kroatischen Secondos. Stellen wir uns vor, auf dem Schreibtisch dieses Beamten landete das Dossier einer jungen Frau aus Eritrea, die wir in unserem Gedankenspiel Sofia Hamanyimana nennen. Sofia bittet um ein Aufenthaltsrecht, zunächst wohl aus humanitären Gründen. Um entscheiden zu können, muss der Beamte Sofias Migrationsmotiv kennen. Ihre Geschichte erzählt sie so: Sie hat ihre Mutter früh verloren. Ihre jüngere Schwester leidet

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Das neue Integrationsgesetz verlangt, dass Migranten in der Schweiz Wurzeln schlagen. Für unsere Autoren ist das eine seltsame Idee. Sie fordern ein Umdenken.

Stellen wir uns vor, ein und derselbe Beamte wäre für alle Bewilligungen zuständig, die Ausländerinnen und Ausländer betreffen. Vom Ausweis für den anerkannten Flüchtling bis zur Einbürgerung des kroatischen Secondos. Stellen wir uns vor, auf dem Schreibtisch dieses Beamten landete das Dossier einer jungen Frau aus Eritrea, die wir in unserem Gedankenspiel Sofia Hamanyimana nennen. Sofia bittet um ein Aufenthaltsrecht, zunächst wohl aus humanitären Gründen.

Um entscheiden zu können, muss der Beamte Sofias Migrationsmotiv kennen. Ihre Geschichte erzählt sie so: Sie hat ihre Mutter früh verloren. Ihre jüngere Schwester leidet an einer chronischen Krankheit. Ihr Vater musste fast während ihrer ganzen Jugend im eritreischen Nationaldienst dienen, weshalb Sofia weitgehend allein für ihre Schwester und sich sowie den kleinen Landwirtschaftsbetrieb verantwortlich war. Anhaltende Dürre ließ die Erträge Jahr für Jahr weniger werden. Als sie selbst damit rechnen musste, in den Nationaldienst aufgeboten zu werden, sah Sofia keine andere Möglichkeit, als zu fliehen, um weiter für die jüngere Schwester zu sorgen. Also brachte sie diese bei Verwandten unter und floh mit der Hilfe von Schleppern. Sie fürchtet, bei einer Rückkehr in ihre Heimat bestraft zu werden, weil sie den Dienst verweigerte.

Sofias Biografie enthält fünf Aspekte, die in jeder Migrationsgeschichte stecken, egal ob sie von einem Papierlosen in prekärer Lage stammt, einem unqualifizierten Hilfsarbeiter auf dem Bau oder einem heiß umworbenen Expat: Erstens hat Sofia, wie alle, mehrere Gründe zu migrieren. Zweitens ist unklar, welcher Grund die Migration letztlich ausgelöst hat, und drittens, welcher den Ausschlag gegeben hat, zum Zeitpunkt X auszuwandern. Die vierte Gemeinsamkeit ist, dass unklar ist, ob und warum jemand einen Zielort als vorläufigen Aufenthaltsort gewählt hat. Und schließlich ist sogar unklar, ob die verschiedenen Motive als ökonomische, ökologische oder politische Gründe zu werten sind. Wer einer Migrationsgeschichte auf den Grund geht, findet früher oder später immer ökonomische, ökologische und auch politische Aspekte. Bedenkt man etwa, dass ökologische Herausforderungen in einer besseren Wirtschaftslage besser verkraftet werden können, ließe sich Sofias Geschichte auch so weitererzählen: Wäre sie weniger arm, hätte sich Sofia ein Bewässerungssystem oder dürreresistentes Saatgut leisten können. Eine schlechte ökonomische Situation wiederum hängt mit den mangelhaft funktionierenden politischen Institutionen zusammen. Dieser Mangel hängt wiederum zusammen mit der ökonomischen und ökologischen Ausgangslage.

Ist ihre Armut ein politischer oder ökonomischer Grund?

Der Beamte, der über das Schicksal von Sofia bestimmen muss, kann also gar nicht wissen, welches Motiv in ihrem Fall ausschlaggebend war. Ob die Dürre, der Nationaldienst oder die Armut. Und – falls es denn die Dürre wäre – wäre diese als ökologisches oder ökonomisches Ereignis zu werten? Ist ihre Armut ein politischer oder ökonomischer Grund?

Was für ein Migrant jemand ist, liegt letztlich im Auge des Betrachters. Sein Urteil ist immer auch abhängig von seinen persönlichen Erfahrungen und der politischen Großwetterlage. Besonders diffus ist die Kategorie der Wirtschaftsmigration. In der Theorie lässt sich jedes Verhalten als ökonomisch bezeichnen, das die verfügbaren Mittel so nutzt, dass die eigenen Bedürfnisse und Wünsche maximiert werden. Nun gehören aber Sicherheit und Familienleben zu den wichtigsten Bedürfnissen von Menschen. So gesehen gibt es nur ökonomische Gründe zu migrieren. Zudem ist es unmöglich, eine Grenze zu ziehen zwischen "ökonomischeren" und "weniger ökonomischen" Gründen.

Was nach Haarspalterei klingen mag, ist eine Realität in der politischen Debatte. Wird über Migration gesprochen, nimmt man zumindest implizit an, dass gewisse Personen aus dem einen Grund und andere Personen aus einem anderen Grund migrieren. Menschen werden im öffentlichen Diskurs mit viel moralischem Schwung in echte Flüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge und Klimaflüchtlinge eingeteilt. Das Konzept der mixed migration flows, wie es etwa die EU oder die International Migration Organization verwenden, ist ein weiteres Beispiel für diese Typisierung von Menschen. Mixed migration flows sind definiert als "komplexe Migrationsbewegungen, in denen sich Flüchtlinge, Asylsuchende, Wirtschaftsmigranten und andere Typen von Migrierenden bewegen. Sie sind zu unterscheiden von Migrationsbewegungen, die aus nur einem Typ von Migrierenden bestehen." Nach diesem Verständnis sitzen in jedem Schlauchboot auf dem Mittelmeer ein paar richtige und ein paar Wirtschaftsflüchtlinge, die es richtig zu schubladisieren gilt.

Der neue globale Migrationspakt leidet ebenfalls an der Illusion dieser Unterscheidbarkeit. Er besteht darauf, dass Migranten und Flüchtlinge verschiedene Gruppen sind. Mit gravierenden Folgen: Der diensthabende Beamte muss sich auf ein Migrationsmotiv festlegen, auf dem anschließend der Aufenthaltsstatus und damit die Lebens- und Arbeitsbedingungen eines Menschen bauen. Der Beamte darf einem leidtun.

Nicht nur die Vergangenheit eines Menschen muss unser Beamte in eine Schublade zwängen, sondern auch sein Leben in der Schweiz. Wenn schon migrieren, dann wenigstens nur einmal, und dann bitte rasch und erfolgreich Wurzeln schlagen! Diese Erwartung steckt im neuen Ausländergesetz, das seit Anfang Jahr auch ein Integrationsgesetz ist. Integration verläuft nach dieser Vorstellung linear und folgt einem Stufenmodell. Je besser integriert, desto besser eingestuft werden Menschen.

Besonders deutlich spiegelt sich dies im Einbürgerungsverfahren. Dieses setzt eine jahrelange Anwesenheit in derselben Gemeinde und das Absolvieren eines Integrationsparcours voraus. Neu kann sich ordentlich nur einbürgern lassen, wer eine Niederlassungsbewilligung hat.

Permanente Migration ist manchmal die beste Form

Diese Vorstellung der Sesshaftigkeit als Naturzustand kollidiert mit der Realität, dass manche Migrierende unterwegs zu Hause sind. Permanente Migration ist manchmal die beste Form, die Lebensumstände einer Person oder einer Familie zu verbessern. Sofia könnte ein solcher Fall sein; erst recht, wenn sich die Situation in Eritrea nach dem kürzlich geschlossenen Friedensabkommen mit Äthiopien etwas entspannt. Sie könnte im Ausland etwas Geld verdienen, um sich danach wieder um ihre Schwester zu kümmern. Sie müsste den Landwirtschaftsbetrieb nicht verkaufen und hätte dennoch eine Möglichkeit, sich dem Regime zu entziehen, wenn es ihr zu brenzlig wird.

Doch der beurteilende Beamte sähe ihre vorübergehende Rückkehr als Zeichen dafür, dass sie keine politischen Gründe zu migrieren hatte. Er müsste ihr einen allfälligen humanitären Status aberkennen. Ihre bloß saisonale Arbeit würde ihr als mangelnder "Wille zur Teilhabe am Wirtschaftsleben", wie eines der Kriterien des neuen Integrationsgesetzes lautet, ausgelegt. Der Beamte müsste die Stoppuhr für Sofias Weg zu einem stabilen Aufenthaltstitel und zum Bürgerrecht unter Umständen bei jeder erneuten Einwanderung wieder auf null stellen. Das Leiterlispiel des Stufenmodells würde jedes Mal neu auf Feld eins beginnen. Menschen, die sich aus guten oder zwingenden Gründen für eine Strategie der temporären, aber wiederholten Migration entscheiden, sind daher rechtlich stark benachteiligt, nicht nur gegenüber Einheimischen, sondern auch gegenüber Einmal-Migranten. Das Klischee von Migrierenden als Entwurzelte, die neue Erde suchen, schadet ihnen ganz konkret.

Diese Schubladen, welche die Politik und das Recht dem Beamten aufzwingt, haben das Ziel, Migration besser steuerbar zu machen. Sie erreichen aber das Gegenteil. Beim Versuch, Migration zu managen und zu steuern, werden die Menschen in klischeebehaftete Schubladen gezwängt. Wie könnte dieses Denken überwunden werden?

Zwar führt kein Weg daran vorbei, eine letztlich zufällige Linie zwischen Flüchtlingen und anderen Migrierenden zu ziehen, wenn man Flüchtlingen eine besonders geschützte Rechtsstellung zugestehen will. Aber das Bewusstsein für diesen unüberwindbaren Mangel des Rechts wäre schon ein wichtiger Fortschritt. Wenn der Beamte versteht, dass die Gründe, die Migration ausgelöst haben, nicht dieselben sind, aus denen er Migration bewilligen kann, könnte er einzelfallgerechter entscheiden.

Die Perspektive von Migrierenden ernst nehmen

Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma wäre es, wenn die Politik den Unterschied zwischen den verschiedenen Schubladen verkleinern und den Wechsel von der einen in die andere vereinfachen würde. Konkret könnte das heißen, dass Personen, die heute vorläufig aufgenommen sind, rechtlich dem Asylstatus angeglichen werden. Indem die Unterschiede dieser beiden Aufenthaltsrechte kleiner würden, wäre es weniger dramatisch, dass die Schubladisierung durch den Beamten am Ende ein Element des Zufalls enthält.

Das hieße etwa, dass nicht nur Personen mit Asylstatus, sondern auch vorläufig Aufgenommenen ein Weg zur Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung und zum Bürgerrecht offensteht. Zudem müsste es möglich werden, dass eine Person, die aus humanitären Gründen einreist, zu einem Wirtschaftmigranten werden kann, so wie es derzeit in Deutschland diskutiert wird. Der Beamte, der Sofia aus humanitären Gründen nicht zulassen kann, könnte ihr dann empfehlen, in der Schweiz Arbeit zu suchen. Findet sie einen Job, könnte sie einen Aufenthaltstitel als Arbeitnehmerin beantragen – und könnte schließlich aus wirtschaftlichen Gründen zugelassen werden.

Man könnte sogar so weit gehen, eine Person, die halbjährlich zwischen der Schweiz und dem Herkunftsland pendelt, um so die Familie optimal zu unterstützten, als besonders vorbildlich in Bezug auf ihren Willen "zur Teilnahme am Wirtschaftsleben" zu betrachten. Voraussetzung dafür wäre es, dass sich Beamte, Politiker und die Gesellschaft als Ganzes von ihrem Schubladendenken befreien. Es ist den Beamten nicht nur zu erlauben, sondern ihnen vorzuschreiben, die Perspektive von Migrierenden ernst zu nehmen.

Dieser Beitrag ist bereits in der Zeit[ a ] erschienen.

©KOF ETH Zürich, 10. Mai. 2019

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