Dieser Beitrag ist eine Erwiderung auf den auf Spiegel Online erschienenen Artikel "Wir leiden am Maaßen-Prinzip[ a ]" von Thomas Fricke. Fricke wirft darin den deutschen Ökonomen vor, falsche Prognosen in die Welt gesetzt zu haben, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Fricke kritisiert die Mainstream-Ökonomie, namentlich Christoph Schmidt (Vorsitzender des Sachverständigenrates), Axel Börsch-Supan (Max-Planck-Direktor in München), Gabriel Felbermayr (ifo Institut, designierter Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel) und vor allem mich selbst in meiner Funktion als langjähriger Präsident des ifo Instituts wegen angeblich "wackeliger Thesen" und "falscher Prognosen". Er bedauert es, dass man Christoph Schmidt und mich nicht entlassen hat und dass Gabriel Felbermayr
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Dieser Beitrag ist eine Erwiderung auf den auf Spiegel Online erschienenen Artikel "Wir leiden am Maaßen-Prinzip[ a ]" von Thomas Fricke. Fricke wirft darin den deutschen Ökonomen vor, falsche Prognosen in die Welt gesetzt zu haben, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.
Fricke kritisiert die Mainstream-Ökonomie, namentlich Christoph Schmidt (Vorsitzender des Sachverständigenrates), Axel Börsch-Supan (Max-Planck-Direktor in München), Gabriel Felbermayr (ifo Institut, designierter Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel) und vor allem mich selbst in meiner Funktion als langjähriger Präsident des ifo Instituts wegen angeblich "wackeliger Thesen" und "falscher Prognosen". Er bedauert es, dass man Christoph Schmidt und mich nicht entlassen hat und dass Gabriel Felbermayr nun Präsident des Kieler Instituts wird.
In der Sache behauptet er,
- dass die Argumente, die zur Agenda 2010 führten, deplatziert waren, weil Deutschland damals ohnehin schon Exportweltmeister gewesen sei,
- dass die Finanz- und Eurokrise 2008 nicht vorhergesehen worden sei,
- dass "die Gelehrten des Marktes" Deutschland aufgrund des Mindestlohns "am Abgrund" gesehen hätten,
- dass die Warnrufe, der freie Welthandel würde frustrierte Verlierer mit sich bringen, ausgeblieben seien.
Fricke steht es frei, seine Meinung zu diesen Themen zu äußern. Die Wahrheit stellt sich aber doch deutlich anders und nuancierter dar, als er sie sieht.
Agenda 2010
War die Agenda 2010 überflüssig, weil Deutschland ohnehin bereits Export-Weltmeister war, wie Fricke behauptet?
Nun, zunächst einmal war Deutschland in den Jahren der Agenda 2010 nicht Exportweltmeister, sondern lag mit deutlichem Abstand hinter den USA. Im Jahr 2003, dem Jahr der Agenda 2010, lag das deutsche Exportvolumen mit 869 Milliarden Dollar um 137 Milliarden Dollar hinter den USA[ b ], die auf 1.036 Milliarden Dollar kamen.[ 1 ] Ein ähnliches Muster wiederholte sich in den Folgejahren. Möglicherweise hat sich der Autor nur auf die Warenexporte bezogen, die ein besseres Bild liefern, jedoch nur eine Teilmenge der Exporte darstellen und die Dienstleistungsexporte nicht umfassen. Aber darauf kommt es hier nur am Rande an, denn die gleichwohl vorhandene Exportstärke kann man nicht verneinen. Auch Vizeweltmeister zu sein ist ein beachtlicher Titel.
Entscheidend ist vielmehr, dass die Exportstärke nicht als Beleg für die These angeführt werden kann, dass die Agenda 2010 überflüssig war. In meinem Buch "Die Basar-Ökonomie"[ c ] aus dem Jahr 2005 habe ich von einem "pathologischen Exportboom" gesprochen. Ich hatte darauf hingewiesen, dass hohe und starre Lohnkosten (damals die höchsten unter den Industrieländern) die Wertschöpfung von lohnintensiven, mit den Importen konkurrierenden Sektoren, in die kapital- und wissensintensiven Exportsektoren verlagert hatten, wo sie weniger stark durchschlugen (siehe FAZ "Lösen Sie mit am deutschen Rätsel"[ d ] vom 9. April 2005, ifo Standpunkt Nr. 57 "Das Exporträtsel"[ e ] vom 2. November 2004 sowie ifo Standpunkt Nr. 65 "Pathologischer Exportboom und Basar-Effekt"[ f ] vom 4. Mai 2005). Auch hatte ich argumentiert, dass der Leistungsbilanzüberschuss, der definitorisch mit dem Kapitalexport identisch ist, in Teilen auch ein Ergebnis einer Kapital-Abwanderung aus Deutschland war, die durch die Kräfte der Globalisierung und die europäische Integration bewirkt wurde (siehe auch meinen Artikel im Wall Street Journal "Is Germany the Euro’s Big Winner?"[ g ] vom 28. Oktober 2010). Dass Deutschland trotz des Exportbooms ein gravierendes Problem hatte, zeigte sich zur Zeit der Agenda vor allem an der Wachstumsschwäche, der über Jahrzehnte hinweg ständig steigenden Arbeitslosigkeit und vor allem an der deutschen OECD-Weltmeisterschaft im Hinblick auf die Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten[ h ].[ 2 ]
Finanzkrise
Haben die Ökonomen die Finanz- und Eurokrise verschlafen, wie Fricke unterstellt? Davon kann nicht die Rede sein. Schon bevor die Blase platzte, gab es unter Experten weltweit eine umfangreiche Diskussion über die wachsenden Ungleichgewichte.. Auch ich selbst befürchtete bereits im Herbst 2007 einen Konjunktureinbruch für das kommende Jahr aufgrund einer Kreditkrise[ i ]. Im März 2008, ein halbes Jahr vor der Lehman-Pleite, schrieb ich den Artikel "Die Party ist vorbei"[ j ], in dem ich den kommenden Abschwung unter Rückgriff auf eine Reihe von Frühindikatoren vorhersagte. So urteilte Spiegel Online[ k ] seinerzeit:
"Fest steht: Nicht alle Experten lagen von der Wahrheit gleich weit entfernt. Manche kamen an die Realität sogar recht nah heran, wie beispielsweise die OECD (siehe Tabelle). Das Ifo-Institut hatte schon im Frühjahr vor einem Ende des Aufschwungs gewarnt. ‚Die Party ist vorbei‘, lautete die Überschrift einer Mitteilung vom März 2008."
Im Übrigen hatte ich bei einer heftigen Kontroverse mit liberaler orientierten Ökonomen im Finanzarchiv bereits im Jahr 2003 vor den Wirkungen eines Deregulierungswettbewerbs[ l ] im Bankwesen gewarnt. Ich befürchtete, dass die Banken zu Glücksspielen veranlasst würden, und befürwortete daher eine Verschärfung der Basel-Regeln für die Bankenregulierung. Das war keine Prognose, aber doch eine deutliche Warnung vor jenen Problemen, die die Finanzmärkte wenige Jahre später erschüttern sollten.
Mindestlohn
Und wie sind meine Äußerungen zum Mindestlohn einzuordnen? In der Tat hatte ich stets Lohnsubventionen einem Mindestlohn vorgezogen, weil ein Mindestlohn, der die Löhne tatsächlich erhöht, manche unternehmerischen Geschäftsmodelle für die Beschäftigung von Geringqualifizierten unrentabel macht und damit einen Teil jener Menschen, denen man helfen will, in die Arbeitslosigkeit treibt. Die Devise des ifo Instituts war deshalb stets: Wer arbeiten will, muss arbeiten können, und dann genug zum Leben haben.
Der Erfolg der Agenda 2010 war maßgeblich darauf zurückzuführen, dass diese Devise ein Stück weit beachtet wurde. Der implizite Mindestlohn im deutschen Sozialsystem wurde durch die Agenda reduziert, denn indem der Staat weniger fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen zahlte, sank der sogenannte Reservationslohn, also jener Lohn, zu dem die Menschen bereit waren, neue Jobs anzunehmen. Neue Geschäftsmodelle im Niedriglohnsektor entstanden. Der verheerende, lineare Trend der über die Konjunkturzyklen seit Willy Brandt immer weiter wachsenden Arbeitslosigkeit war durchbrochen. Bei der Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten rutschte Deutschland von der Spitze ins Mittelfeld[ h ].[ 3 ] Zugleich hat sich die Ungleichheit der Nettoeinkommen nicht vergrößert, sondern sogar etwas verringert[ m ], weil viel mehr Menschen Arbeitsplätze fanden und dabei auch noch bezuschusst wurden.
Richtig ist das von Fricke verbreitete Zitat aus der Welt aus dem Jahr 2014, in dem ich auf den gesetzlichen Mindestlohn abstellte und sagte: "Der Mindestlohn gefährdet bis zu 900.000 Arbeitsplätze"[ n ]. Aber dies war kein Blick in den "Abgrund", auch nicht eine Prognose bezüglich eines im Zeitablauf zu erwartenden Beschäftigungsrückgangs, sondern eine Warnung vor einer nach meiner Einschätzung falschen Politikentscheidung.
Meine Warnung war gestützt auf die umfangreiche empirische Studie von Andreas Knabe, Ronnie Schöb und Marcel Thum (Leiter der ifo-Niederlassung in Dresden), "Der flächendeckende Mindestlohn[ o ]", Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2014; 15(2): 133–157). Diese Studie hatte auf der Basis der tatsächlichen Lohnverteilung in Deutschland, je nach Szenarium, langfristig den möglichen Verlust von 426.000 bis zu 911.000 Arbeitsplätzen vornehmlich im Bereich der Minijobs aufgezeigt.
Bei der Interpretation dieser Zahl muss man bedenken, dass es sich bei den 911.000 Stellen um 340.000 Vollzeitäquivalente handelt, und dass es um einen Differenzialeffekt bei gegebenen anderen Einflussgrößen ging. Die Aussage war: Ohne die Mindestlohngesetzgebung könnte es langfristig bis zu 340.000 vollzeitäquivalente Arbeitsplätze mehr geben, als wegen der guten Wirtschaftsentwicklung tatsächlich geschaffen werden. Wenn ökonomische Wirkungszusammenhänge modellmäßig spezifiziert werden, ist niemals etwas anderes gemeint als eine solche differenzielle Analyse. Dabei handelt es sich nicht um eine Prognose, sondern um die Berechnung einer Abweichung beim Beschäftigungsstand im Vergleich zu einem Alternativszenarium, das ohne die jeweilige Politikmaßnahme zum gleichen Zeitpunkt eintreten würde. Es ist heute noch zu früh, die maßgeblichen Effekte zu erkennen, denn die strukturellen Veränderungen der Wirtschaft finden nur sehr langsam im Verlauf mehrerer Jahre statt.
Bereits für das Jahr der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, also 2015, wurde aber in einer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgestellten Studie ein differenzieller Verlust von 180.000 Minijobs[ p ] festgestellt, während sich im Bereich der Vollzeitbeschäftigten keine signifikante Entwicklung ergab. Welche langfristigen, strukturellen Veränderungen der Mindestlohn wirklich hervorbringt, wird sich erst noch erweisen.
Die zweimal jährlich vom ifo Institut vorgestellten Prognosen, die ich als Präsident des ifo Instituts redigiert und verantwortet hatte, enthielten nicht die Vorhersage, dass die Arbeitsplatzverluste infolge der gesetzlichen Mindestlöhne schwerer wiegen würden als die Arbeitsplatzgewinne aufgrund der sich allgemein verbessernden Wirtschaftslage; im Gegenteil. So heißt es zum Beispiel in der Konjunkturprognose 2014/2015 des ifo Instituts[ q ] vom 10. Juli 2014 (S. 3):
"Im kommenden Jahr wird die Arbeitsmarktlage durch die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns von 8,50 Euro je Stunde bestimmt. Dieser bringt eine spürbare Steigerung der Arbeitskosten und damit den Abbau der Beschäftigung insbesondere im Bereich der nicht sozialversicherungspflichtigen Minijobs mit sich. Aufgrund der guten konjunkturellen Grundtendenz bleibt die Arbeitsmarktlage jedoch trotz der dämpfenden Effekte des Mindestlohns stabil, und die Arbeitslosenquote dürfte nochmals auf 6,6% sinken."
Handel
Und zum Schluss: Fricke betont, dass Handel nur im Aggregat Gewinne in dem Sinne erzeugt, dass die Gewinner mehr gewinnen, als die Verlierer verlieren. Das ist eine ökonomische Wahrheit, die die Mainstream-Ökonomen nicht verschwiegen, sondern in einer Vielzahl von Beiträgen der ökonomischen Debatte betont haben. Man vergleiche, stellvertretend für viele, meine eigene Stellungnahme in der FAZ: "In der Zwickmühle"[ r ] vom 2. März 2000 sowie verschiedene andere Beiträge zum sogenannten Faktorpreisausgleich[ s ].
Der Leser möge sich seinen eigenen Reim darauf machen, wie er die Aussagen von Thomas Fricke angesichts dieser Fakten einordnen möchte.
©KOF ETH Zürich, 2. Okt. 2018
Die Lektüre von Frickes journalistischem Beitrag war meines Lesens nach zweigeteilt. Erstens, deutsche Ökonomen machen Fehler und zweitens, deutsche Ökonomen gehen mit ihren Fehlern weniger (selbst-)kritisch um als die britischen. Letzteres führt Fricke auf eine signifikante Homogenität und Selbstbezogenheit deutscher Volkswirte zurück.
Die erste Beobachtung ist eigentlich eine Trivialität, denn wer würde schon für sich Unfehlbarkeit in Anspruch nehmen? Der zweite Punkt ist der, der wirklich schmerzte, wenn er denn wahr wäre.
Interessanter Weise befasst sich Hans-Werner Sinn in seiner Replik nur mit der ersten Beobachtung. Er kommt zum Schluss, keine der von Fricke angeführten Fehler begangen zu haben. Selbstredend ist unter dieser Voraussetzung auch der zweite Punkt obsolet.
Lag Fricke mit seiner Fehlerdiagnose nun wirklich so weit daneben, wie Hans-Werner Sinn behauptet? Betrachten wir das Beispiel Finanzmarktkrise. Hans-Werner Sinn nimmt für sich in Anspruch: “Auch ich selbst befürchtete bereits im Herbst 2007 einen Konjunktureinbruch für das kommende Jahr aufgrund einer Kreditkrise” und verlinkt dazu einen Spiegel-Online Artikel vom 21.11.2007. Darin lesen wir: <> Es fällt sicherlich sehr wenigen Laien schwer, daraus im Nachhinein die Vorhersage eines “Konjunktureinbruchs” herauszulesen. Abgesehen davon wird dieser “Konjunktureinbruch” inzwischen als schwerste Krise seit den 1930er Jahren angesehen.
Ähnlich verhält es sich mit der Einschätzung ein halbes Jahr später. Sinn betont auf der oekonomenstimme, er habe erkannt “The party is over” (Project Syndicate März 2008). Vertieft man sich in die Details, so findet man dort den Satz: “Der Fall der Vermögenspreise könnte eine Rezession in den USA erzwingen.” Notabene befand sich die US-Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt bereits im freien Fall, was damals aber noch niemand mit Gewissheit wusste aufgrund der notorischen Verzögerungen bei der Datenpublikation.
Tatsächlich sollte dem Leser die Bewertung überlassen werden, ob hier ein Prognosefehler vorliegt. Frickes Frage, ob deutsche Volkswirte nicht etwas selbstkritischer und ehrgeiziger sein sollten, verliert dadurch aber sicher nicht an Bedeutung.