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Unbewältigte Vergangenheit

Summary:
Wenn man sich daran macht, den Ballast der Vergangenheit aufzuarbeiten, geht es nicht nur darum, sich moralisch aufzuwerten oder gar Vergeltung zu üben. Es geht vor allem darum, dass wir lernen und besser werden. Bei der NS-Diktatur ist uns das recht gut gelungen – in anderen Gebieten liegt aber noch viel Arbeit vor uns. Am 8. Mai 1945 war für viele der Horror nicht vorbei Wie in einem Brennglas ließen sich die Defizite im Umgang mit der Vergangenheit unseres Landes beobachten am 8. Mai 2022 vor dem Sowjetischen Ehrenmal im Berliner Tiergarten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, dessen dort gedacht wurde, setzte der womöglich grauenerregendsten Herrschaft, die die Menschheit jemals erlebt hatte, ein Ende. Aber Elend, Unterdrückung, Verfolgung, Angst, Hunger, Folter und Tod endeten

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Wenn man sich daran macht, den Ballast der Vergangenheit aufzuarbeiten, geht es nicht nur darum, sich moralisch aufzuwerten oder gar Vergeltung zu üben. Es geht vor allem darum, dass wir lernen und besser werden. Bei der NS-Diktatur ist uns das recht gut gelungen – in anderen Gebieten liegt aber noch viel Arbeit vor uns.

Am 8. Mai 1945 war für viele der Horror nicht vorbei

Wie in einem Brennglas ließen sich die Defizite im Umgang mit der Vergangenheit unseres Landes beobachten am 8. Mai 2022 vor dem Sowjetischen Ehrenmal im Berliner Tiergarten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, dessen dort gedacht wurde, setzte der womöglich grauenerregendsten Herrschaft, die die Menschheit jemals erlebt hatte, ein Ende. Aber Elend, Unterdrückung, Verfolgung, Angst, Hunger, Folter und Tod endeten nur für einen Teil der Menschheit. Die sexuelle Gewalt im Rahmen der Kriegshandlungen und Besatzungen wurde insbesondere in osteuropäischen Staaten und Deutschland fortgesetzt, als die Kapitulation schon lange unterschrieben und die Waffen längst übergeben worden waren. Etliche Straf- und Konzentrationslager wurden von der sowjetischen Militärverwaltung nahtlos weitergeführt. Zwangsarbeiter, die nach Hause zurückkehrten, wurden wie Verräter behandelt. Unabhängige Staaten wie Litauen, Lettland und Estland verloren ihre Eigenstaatlichkeit und alle Völker und Staaten, die in Jalta hinter den Eisernen Vorhang verhandelt worden waren, ihre Freiheit.

Am 8. Mai 2022 versammelten sich Würdenträger verschiedener Staaten, die am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, an dem Ehrenmal, um der Opfer zu gedenken: Botschafterinnen, Minister, Militärs und Abgeordnete. Ein alter Mann im Rollstuhl mit einer Kippa, ein hochgewachsener, extravagant gekleideter ukrainischer Kulturschaffender. Als sich die Gedenkversammlung langsam auflöste, schritt ein älterer Herr aus dem VIP-Bereich heraus und auf die Menschen zu, die sich auf der Straße vor dem Denkmal versammelt hatten. Eine Gruppe von älteren Leuten, die vorher empört „Nazis raus“ in Richtung des ukrainischen Botschafters gerufen hatten, begrüßten den Mann begeistert und mit familiärer Herzlichkeit. Dabei handelte es sich nicht um einen alten Veteranen der Friedensbewegung, sondern um jemand, der wegen seiner Mitverantwortung für die heimtückischen Morde am „Antifaschistischen Schutzwall“ einige Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Neben diplomatischen Vertretern von Polen, Israel und der Ukraine, neben Bundesministern und Abgeordneten fand sich auch der Mann ein, der 1984 zum Stellvertreter Erich Honeckers gemacht worden war: Egon Krenz.

Eine brutale Diktatur wird weggeschmunzelt

Das ganze Szenario war zutiefst verstörend: oben stehen die sowjetischen Vernichtungsgerätschaften, die dem Andenken von Toten dienen sollen, unten bekommt die führende Person eines mörderischen Unterdrückungsregimes eine Bühne geboten. Dass die Opfer des sowjetischen und neosowjetischen Terrors solche Bilder ertragen müssen, liegt freilich auch daran, dass substantielle Teile der deutschen Vergangenheit immer noch der Aufarbeitung harren. Erwin Sellering, Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern von 2008 bis 2017 (und übrigens Westdeutscher) sah sich noch 2013 bemüßigt, seine ostdeutschen Mitbürger darüber zu belehren, dass die DDR „kein totaler Unrechtsstaat“ gewesen sei. Im Herzen Berlins lockt ein DDR-Museum Touristen an und verniedlicht die ausgestellten Abhöranlagen der Stasi, indem in den anliegenden Räumen Trabi, Sandmännchen und FKK thematisiert werden. Und seit gestern läuft in deutschen Kinos ein Film mit dem Titel „Stasikomödie“. Wie das auf die Opfer wirkt, die an den Plakaten vorbeigehen müssen, möchte man sich gar nicht ausmalen; auf die ehemaligen Häftlinge von Hohenschönhausen und Bautzen; auf die Menschen, die von ihren Partnerinnen, Kindern oder Eltern verraten wurden.

Die Empörung bleibt aus. Und während man im eigenen Land die brutale Diktatur wegschmunzelt, fehlt auch jegliche Aufarbeitung gegenüber anderen Ländern Europas. Moskaus Musterschüler DDR, dessen Rechtsnachfolge die Bundesrepublik ja angetreten hat, war schließlich in vielerlei Hinsicht involviert bei der Unterdrückung von Freiheitsbewegungen, etwa in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen. Kein Wort der Entschuldigung soweit. Keine Historikerkommission zur Verantwortung deutscher Staatsleute aus beiden Teilen des Landes für die Unterstützung und Rechtfertigung der Gräuel hinter dem Eisernen Vorhang. Ganz im Gegenteil: Menschen, die sonst gerne Achtsamkeit in der Sprache anmahnen, bezeichnen mit der größten Selbstverständlichkeit Russland als Nachbarn, als ob nicht mindestens zwei souveräne Staaten dazwischen lägen. Dahinter steckt noch das alte Denkschema vom Warschauer Pakt: nicht nur die Marionettenregierungen unserer Nachbarn wurden auf das Moskauer Konto gebucht, sondern gleich ganze Völker. Die Art wie BRD und insbesondere DDR vierzig Jahre lang unsere nach Freiheit lechzenden europäischen Nachbarn behandelt haben, bedarf dringend einer eingehenden Aufarbeitung.

Historisches Superteleskop statt rosa Brille

Doch warum sollte man sich mit ausrangierten Panzern und 85 Jahre alten ausrangierten Autokraten beschäftigen? Wäre es nicht besser, einfach einen Schlussstrich zu ziehen? Weil, wie schon Cicero wusste, Geschichte „die Zeugin der Zeiten, das Licht der Wahrheit, das Leben der Erinnerung, die Lehrmeisterin des Lebens“ ist. Das viel beschworene „Nie wieder!“ darf nicht nur eine plakative Formel sein. Und es darf sich nicht nur auf die Verbrechen der Nationalsozialisten beziehen. Es ist eine gigantische Leistung, dass Auschwitz und Treblinka, Totenkopf-SS und Gestapo in den Köpfen und Herzen der allermeisten Menschen in unserem Land verankert wurden – oft gegen massive Widerstände. Es müssen aber auch Holodomor und Katyn, Mauerschüsse und Massenbespitzelung Eingang finden in unser Bewusstsein. Nicht nur als historisches Faktum, sondern als in der Geschichte verwurzelter Aufruf zum „nie wieder!“

Wenn wir die Gräuel des Sowjetimperialismus nicht sorgfältig übersehen hätten, wären uns vielleicht früher die Mahnungen unserer europäischen Nachbarn vor dessen Wiederauferstehen plausibel erschienen. Wenn wir die DDR nicht beständig verniedlichen würden, hätten wir womöglich sehr viel früher geahnt, dass und wie in China eine totalitäre Diktatur ihr Haupt erhebt. Der durch die Vergangenheit geschulte Blick kann einen vor vielen Fehleinschätzungen in der Gegenwart bewahren. Damit der Blick geschult ist, muss er freilich die rosa Brille durch ein Superteleskop ersetzen. Stalins Armeen haben zwar erheblichen Anteil daran gehabt, Krieg und Holocaust ein Ende zu machen. Aber sie haben kein einziges Land befreit. Und in der DDR wurde Kindern, noch ehe sie alt genug waren, um ihre Eltern zu bespitzeln, ein Lied beigebracht, das endete mit den Zeilen: „Wenn ich groß bin, gehe ich zur Volksarmee. Ich lade die Kanone: Rumm, bumm, bumm!“

Wenn unsere Sonntagsreden über offene Gesellschaft, Demokratie, Frieden und Freiheit mit Leben angefüllt werden sollen, müssen wir uns noch viel intensiver mit den vielen verschiedenen Arten des Totalitarismus und menschenverachtenden Ideologien auseinandersetzen, die die letzten hundert Jahre geprägt haben. Damit wir aus der Vergangenheit lernen. Damit Menschen in der ganzen Welt, die für die Werte einstehen, die wir so blumig beschwören, sich mehr auf unsere Unterstützung verlassen können als bisher.

Clemens Schneider
Clemens Schneider, born in 1980, co-founded the educational project „Agora“ Summer Academy and the blog „Offene Grenzen“ („Open Borders“). From 2011 to 2014 he held a scholarship by the Friedrich Naumann Foundation and held responsible positions there organizing several seminars and conferences. He is active as blogger and speaker and is in constant contact with the young members of the pro-liberty movement.

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